Am 30. Januar finden in Portugal vorgezogene Neuwahlen statt. Im vergangenen Oktober war es der sozialistischen Minderheitsregierung nicht gelungen, den Staatshaushalt für 2022 durch das Parlament zu bringen. Ministerpräsident António Costa möchte weiter regieren, doch die absolute Mehrheit wird seine Partido Socialista (PS) wohl verfehlen. Wenige Tage vor den Wahlen, holt die liberalkonservative Volkspartei Partido Social Democrata (PSD) auf und liegt nur noch wenige Prozentpunkte hinter den regierenden Sozialisten. Kann es Costa gelingen im Amt bleiben?
Mit großer Euphorie hatten die linken Parteien im Jahr 2015 eine sozialistische Minderheitsregierung ermöglicht und Costa zum Ministerpräsidenten gekürt. Die Linke stand damals zusammen, um die Wiederwahl von Pedro Passos Coelho von der PSD zu verhindern. Die sich als „sozialdemokratisch“ bezeichnende PSD ist nämlich – im Kontrast zu ihrem Namen – die große liberal-konservative Volkspartei in Portugal. Politische Beobachter misstrauten damals der Zusammenarbeit von Sozialisten, Kommunisten, Linksblock und Grünen. Das Linksbündnis ist in Portugal hinlänglich als geringonça bekannt – einem Ausdruck für wartungsbedürftige technische Apparate, die nicht einwandfrei, aber irgendwie doch funktionieren.
Die geringonça wurde von einem Teil der Portugiesen anfangs deshalb mit Skepsis betrachtet. Insbesondere den radikaleren Flügeln in der linken Bloco Esquerdo (BE) und der kommunistischen Partei (PCP) traute man nicht zu, dass sie Costas sozialistische Minderheitsregierung langfristig unterstützen würden. Die Zusammenarbeit funktionierte seit 2015 nahezu reibungslos und tat den Portugiesinnen und Portugiesen gut: Bis zur Pandemie verzeichnete das Land stabile Wachstumsraten, und die Arbeitslosigkeit halbierte sich zwischen 2015 und 2019. Unter der Linksregierung stiegen Gehälter und Sozialversicherungsleistungen bei zugleich positiver Entwicklung der Staatsfinanzen.
Das Linksbündnis ist in Portugal hinlänglich als geringonça bekannt – einem Ausdruck für wartungsbedürftige technische Apparate, die nicht einwandfrei, aber irgendwie doch funktionieren.
Außenpolitisch erwies sich Costa während der portugiesischen EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2021 als verlässlicher und engagierter Partner, zum Beispiel bei der Durchsetzung des digitalen Corona-Impfpasses. Und bei Staatsbesuchen in Warschau oder Budapest scheute sich Costa nicht, die Umstrukturierung der Justiz oder die Einschränkung von LGBTIQ+-Rechten öffentlich zu kritisieren.
Auch in der Pandemie verloren Costa und sein Linksbündnis trotz langanhaltender und drastischer Maßnahmen wie Ausgangssperren kaum an Popularität. Kostenlose Schnelltests, eine Impfquote von über 90 Prozent bei den Zweitimpfungen und eine verhältnismäßig geringe Hospitalisierungsrate haben den Portugiesen die Angst vor Corona genommen. Die Pandemie spielte im Wahlkampf eine verschwindend geringe Rolle.
Wenn es nach Costa gegangen wäre, hätte die im Jahr 2015 initiierte Kooperation mit dem Linksblock und den Kommunisten mindestens bis zum Ende der laufenden Legislatur 2023 weitergehen können. Der Haushaltsentwurf für dieses Jahr enthielt Mittel für zahlreiche wichtige Vorhaben der Linksregierung, darunter mehr Geld für das staatliche Gesundheitssystem SNS, vor allem für die Verbesserung der ärztlichen Versorgung auf dem Land, eine schrittweise Anhebung des garantierten monatlichen Mindestlohns auf 900 Euro bis 2026 sowie eine Erhöhung der Zahl der Lehrkräfte an den öffentlichen Schulen. Doch Kommunisten und Linksblock trugen Costas Haushaltsentwurf nicht mit. Ihre Aussagen dazu konnte man so interpretieren, dass ihr „Não“ nicht primär der Unzufriedenheit über einzelne Haushaltsposten geschuldet war. Vielmehr befürchteten die zwei Koalitionspartner, durch langfristige Kooperation mit den Sozialisten ihr Profil als Protestparteien zu schwächen. Sie folgten daher ihrer altbekannten Argumentation: Es geht uns alles nicht weit genug. Und mit der Sozialistischen Partei machen wir langfristig keine gemeinsame Sache. Staatspräsident Marcelo Rebelo de Sousa blieb daher nur die Auflösung des Parlaments und die Ankündigung von Neuwahlen.
Die zwei Koalitionspartner Kommunisten und Linksblock fürchteten, durch langfristige Kooperation mit den Sozialisten ihr Profil als Protestparteien zu schwächen.
Die Regierungsbildung nach der Wahl wird sich schwierig gestalten. Zwar wird die PS Umfragen zufolge mit großer Wahrscheinlichkeit wieder stärkste Partei und im Vergleich zu den Parlamentswahlen 2019 womöglich sogar leicht zulegen. Doch wie eine mögliche sozialistische Regierung im Parlament eine Mehrheit zustande bekommen könnte, steht derzeit noch in den Sternen. Nach dem Haushaltsdesaster vom vergangenen Herbst, das zu den unnötigen Neuwahlen führte, könnte jegliche Form einer erneuten Zusammenarbeit von Sozialisten, Linksblock und Kommunisten an der ohnehin schon schwindenden Glaubwürdigkeit der portugiesischen Linken rütteln. Die vorgezogenen Neuwahlen spielen der marktradikalen Kleinstpartei Initiativa Liberal (IL) und der rechtsnationalen CHEGA (auf Deutsch „Genug“) in die Hände, die nur zu gern der liberal-konservativen PSD ihre Unterstützung zur Regierungsbildung anbieten würden.
Der Blick in die portugiesische Kristallkugel fällt derzeit schwer. Bis zu neun Parteien könnten ins Parlament einziehen. Es wird bei der Regierungsbildung auf jeden Sitz ankommen. Was sind die wahrscheinlichsten Szenarien?
Im ersten – und dem rein rechnerisch wahrscheinlichsten – Szenario könnten die Mandate der PS und zweier möglicher Bündnispartner reichen. Denn es gibt sie, die kleinen progressiven Parteien, die Costas PS zu einer regierungsfähigen Mehrheit verhelfen könnten: Die Ökopartei PAN hat im Gegensatz zu den portugiesischen Grünen (PEV), die auf einer gemeinsamen Liste mit der kommunistischen Partei antreten, im vergangenen Herbst nicht gegen den Haushalt gestimmt. PAN liegt in den Umfragen derzeit bei zwei bis vier Sitzen und könnte das Zünglein an der linken Waagschale sein. Weitere Unterstützung könnte von der linken Partei LIVRE kommen, die seit ihrer Gründung für ein Bündnis der gesamten Linken eintritt und mit einem Parlamentssitz rechnet.
Ein zweites Szenario ist eine Minderheitsregierung der Konservativen mit einer Koalition aus PSD und weiteren rechtskonservativen und wirtschafsliberalen Parteien. Insbesondere die marktradikale IL und die wertkonservative demokratische Zentrumspartei (CDS) liegen inhaltlich nicht weit von der PSD entfernt: Steuersenkungen für Unternehmen zur Aktivierung der Wirtschaft, Neustrukturierung der privatisierten Fluggesellschaft TAP möglichst ohne Staatshilfen, mehr private Initiativen im Gesundheits- und Bildungssystem, weniger Rundfunkgebühren, keine Erhöhung des Mindestlohns auf 900 Euro. Zudem stünde die rechtsnationale CHEGA nur allzu gern dafür bereit, einer konservativen Regierung als Steigbügelhalter zu dienen und damit an Bedeutung zu gewinnen. Sie könnte prozentual am stärksten von den vorgezogenen Neuwahlen profitieren und von bislang einem auf 12 Sitze anwachsen. CHEGA half der PSD bereits 2020, der PS die Regierungsmacht auf den Azoren zu entwinden.
Liberal-Konservative und Sozialisten konnten sich schon mehrfach aufeinander verlassen, unter anderem bei Fragen zu Verfassungsänderungen oder der Einführung des Euro.
Und schließlich könnte es in einem dritten Szenario zu einer Zusammenarbeit der beiden großen Volksparteien PSD und PS kommen. Liberal-Konservative und Sozialisten konnten sich schon mehrfach aufeinander verlassen, unter anderem bei Fragen zu Verfassungsänderungen oder der Einführung des Euro. Gemeinsam bildeten sie bereits mehrmals eine Regierung des sogenannten „bloco central“. Es ist allerdings fraglich, ob der neue Parteivorsitzende der PSD Rui Rio dem Sozialisten Costa zu einer Minderheitsregierung verhelfen, geschweige denn mit ihm an einem Koalitionstisch verhandeln würde. Rio ist erst wenige Wochen im Amt, in der eigenen Partei noch höchst umstritten und würde seine parteiinternen Gegner wohl kaum durch eine Annäherung an die Sozialisten von sich überzeugen.
Und wenn der Wahlausgang keine dieser Optionen zulässt? Dann könnte es doch zu einer Wiederannäherung zwischen PS, Linksblock und Kommunisten und einer Neuauflage der geringonça kommen.
Costa selbst kommuniziert seine persönlichen Koalitionspräferenzen öffentlich nicht klar und seine Glaubwürdigkeit sinkt. Mal schielt er auf die absolute Mehrheit, mal hofft er auf die kleine Ökopartei PAN, mal will er doch wieder auf Kommunisten und Linksblock zugehen. Auch eine Zusammenarbeit mit der liberalkonservativen Volkspartei PSD hält er sich offen. Damit würde er allerdings lediglich die Machtmöglichkeiten der PSD erweitern und langfristig Regierungsalternativen links der Mitte erschweren.
Wenn Sozialisten und PAN am 30. Januar auf keine Mehrheit kommen, werden sich die Portugiesen wohl auf lange Verhandlungen zur Regierungsbildung einstellen müssen. Doch noch besteht die Chance, dass der beliebte Ministerpräsident das verlorengegangene Vertrauen der Portugiesen in Linksbündnisse zurückgewinnen kann.