Arm, isoliert und dem Niedergang geweiht. So stellt sich das Vereinigte Königreich in den ersten Wochen seiner „Freiheit“ von der EU der Außenwelt dar. 57 Prozent der schottischen Wähler sind laut jüngster Umfrage für die Unabhängigkeit. Die konservative Regierung ist dabei, die Arbeitszeitrichtlinie zu kippen, die nach EU-Recht die Arbeitswoche auf 48 Stunden begrenzt.

Großbritanniens Fischer, die zu den lautstärksten Befürwortern des Brexit gehören, stellen verwundert fest, dass sie ihren Fisch auf einmal nicht mehr ohne Weiteres nach Kontinentaleuropa verkaufen können. Und weil für Lebensmittel neue Einfuhrbestimmungen gelten, konfiszieren niederländische Grenzbeamte die Sandwiches englischer Lkw-Fahrer, die den Ärmelkanal überqueren.

Als die Europäer Randalierer die Treppen des US-Kapitols hinaufstürmen sahen, mussten sie der Tatsache ins Auge sehen, dass unter den angelsächsischen Partnern das Vereinigte Königreich noch nicht einmal das Land ist, bei dem es am schlechtesten läuft. Doch während die außen- und sicherheitspolitischen Verantwortlichen der EU es mit einer globalen Supermacht zu tun haben, die sich zu einer kompletten – sowohl diplomatischen als auch innenpolitischen – Kehrtwende anschickt, sehen sie sich gleichzeitig einem dahinschwindenden ehemaligen Imperium gegenüber, das nicht weiß, wohin die Reise gehen soll.

Das eigentliche Problem im Falle Großbritanniens ist, dass die Regierung, nachdem sie nun schon ein Jahr im Amt ist, noch immer keine erkennbare Strategie hat. Im Februar 2020 ordnete Premierminister Boris Johnson eine „umfassende Überprüfung“ an, die Verteidigung, Außenpolitik, Entwicklungshilfe und Sicherheit umfassen sollte und als größte Neuordnung der internationalen Prioritäten Großbritanniens seit dem Ende des Kalten Krieges angekündigt wurde.

Als im März das Coronavirus um sich zu greifen begann, wurde das Vorhaben auf Eis gelegt. Nationalstaaten beschlagnahmten Lieferungen von Schutzausrüstung noch auf der Startbahn und weltweit wurden Reisebeschränkungen erlassen – es sah ganz danach aus, dass die Zukunft sich nicht mehr vorhersagen ließ.

Das eigentliche Problem im Falle Großbritanniens ist, dass die Regierung, nachdem sie nun schon ein Jahr im Amt ist, noch immer keine erkennbare Strategie hat.

Was Großbritanniens Rolle in der Welt und seine Ausrichtung gegenüber seinen wichtigsten Partnern angeht, ist alles ungewiss. Als Johnson im September 2020 damit drohte, unter Verstoß gegen internationales Recht das EU-Austrittsabkommen teilweise auszuhebeln, hat dies dem Ruf Großbritanniens in Brüssel und Washington sehr geschadet. Als Biden am Tag seines Sieges vom BBC um eine kurze Stellungnahme gebeten wurde, antwortete er verschmitzt: „Die BBC? Ich bin doch Ire.“ Er brauchte gar nicht hinzufügen: „... und Euer Premier hat doch gerade den irischen Friedensprozess in Gefahr gebracht“ – die Welt verstand die Anspielung auch so.

Die Wahrheit ist, dass Johnson keine konkrete außenpolitische Post-Brexit-Strategie für sein Land vorzuweisen hat. Die Strategie, die ihm vorschwebte, war immer eine neoimperiale Fantasie, die sich genau in dem Moment in Luft auflöste, als das Coronavirus zuschlug.

In seiner inzwischen berühmt-berüchtigt gewordenen Greenwich-Rede im Old Royal Naval College in London im vergangenen Februar skizzierte Johnson die Vision eines Großbritanniens als globalem Verfechter und Nutznießer einer neuen handelspolitischen Liberalisierungsrunde. Er beschwerte sich, dass Zölle „wie Keulen geschwungen“ würden, und versprach, dass Großbritannien seine neu gewonnene Unabhängigkeit und seine eigene Stimme in der Welthandelsorganisation nutzen würde, um Märkte zu öffnen wie einst die Handelskapitalisten, die im 18. Jahrhundert die Royal Navy aufgebaut hatten.

Wie er dies ohne militärische Überlegenheit oder nennenswertes diplomatisches Potenzial schaffen wollte, wurde nie näher ausgeführt – und das war in der Welt der aufgeblasenen Rhetorik, in der sich Johnson bewegt, auch gar nicht nötig. Aber jetzt, mit dem Amtsantritt von Biden und dem schleichenden Umdenken, das der bevorstehende Abgang der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel in Europa auslöst, muss die britische Diplomatie sich von der Welt der Rhetorik verabschieden und sich wieder der realen Welt stellen.

Wie ich hier schon einmal geschrieben habe, steht Europa vor der Notwendigkeit, technologisch souverän und „strategisch autonom“ zu werden. Der europäischen Politikelite erscheinen die beiden Leitbilder mitunter nebulös; die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer bezeichnete sie sogar als „Illusion“: Alles andere als nebulös sind diese Leitbilder hingegen im Élysée-Palast.

Die Wahrheit ist, dass Johnson keine konkrete außenpolitische Post-Brexit-Strategie für sein Land vorzuweisen hat.

Im November 2020 stellte der französische Präsident Emmanuel Macron eine umfassende globale Strategie für die EU vor. Diese Strategie besteht darin, als gleichberechtigter Partner der USA einen neuen Multilateralismus mitzuentwickeln und dabei nicht in Großmachtpolitik abzurutschen. Er plädierte dafür, „ein politisches Europa zu stärken und zu strukturieren“. Dies sei „die einzige Möglichkeit, unseren Werten und unserer gemeinsamen Stimme Geltung zu verschaffen, um das chinesisch-amerikanische Duopol, Spaltung und die Rückkehr sich feindlich gegenüberstehender Regionalmächte zu verhindern“.

Kurz gesagt: Europa muss mitspielen, wenn es nicht nur eine Figur auf dem Spielbrett sein will. Starke Zentrifugalkräfte könnten dies zwar verhindern, aber diese Kräfte werden durch Großbritanniens Abgang von der europäischen Bühne nicht gestärkt, sondern geschwächt. Dass das Vereinigte Königreich, wie sich in der Endphase der Brexit-Verhandlungen gezeigt hat, im Wesentlichen in der Position des Regelempfängers ist, bedeutet, dass es nicht länger ostentativ die Rolle des „perfiden Albion“ spielen kann – auch wenn die Gesinnung rechter Torys genau das empfiehlt.

Es wird natürlich noch Jahrzehnte dauern, bis Europa in der Lage ist, eine funktionierende, integrierte Streitmacht aufzustellen oder den Technologieriesen des Silicon Valley mit einem Systemrivalen Paroli zu bieten. Aber es wäre denkbar, dass Europa in einzelnen Bereichen und Dimensionen strategische Autonomie erreicht – zum Beispiel in der Raumfahrttechnologie, bei GPS und der 5G-Telekommunikation.

Die USA werden aus vier Jahren geopolitischen Irrsinns wohl mit begrenzteren Ambitionen hervorgehen. Der designierte Außenminister Anthony („Tony“) Blinken ist ein frankophiler Multilateralist, glaubt an internationale Institutionen und den amerikanischen Interventionismus. In einem ausführlichen Interview umriss er im vergangenen Jahr, welche Ziele eine Biden-Regierung vermutlich verfolgen werde: Sie werde versuchen, Amerika wieder als „Ordnungsmacht“ der Welt zu etablieren und Ad-hoc-Koalitionen zu schmieden, um gemeinsame Ziele zu erreichen.

Während die USA ihren Fokus also weiterhin darauf richten werden, mit dem Erstarken Chinas und den damit verbundenen Bedrohungen fertig zu werden, wurde dieser Pivot inzwischen als „indopazifisch“ verstanden. Damit sollen die aufstrebende Supermacht Indien wie auch die EU in ein Bündnis eingebunden werden, das rote Linien und Verhaltensregeln festlegen könnte.

Europa muss mitspielen, wenn es nicht nur eine Figur auf dem Spielbrett sein will.

Blinken kritisierte Donald Trumps Versuch, China in die Schranken zu weisen, ohne sich mit Amerikas europäischen Verbündeten abzusprechen, und meinte: „Wir steuern allein etwa 25 Prozent zum weltweiten BIP bei. Wenn wir mit Verbündeten und Partnern zusammenarbeiten, sind das, je nachdem, wen wir mit ins Boot holen, 50 oder 60 Prozent des BIP. Das hat sehr viel mehr Gewicht und ist für China weitaus schwieriger zu ignorieren.“

Obwohl Bidens Regierung mit einem vierjährigen Quasi-Aufstand der extremen Rechten zu kämpfen haben wird, sehen wir, wenn alles gut läuft, möglicherweise einer Ära entgegen, in der die USA und die EU in Sachen Klima, Iran-Atomabkommen, Frieden im Nahen Osten und Handel wieder zusammenarbeiten.

Was auch immer Johnson sich ausmalt – die stärkste Beziehung wird in den nächsten vier Jahren zwischen Washington und Paris bestehen und somit auf diplomatischer Ebene zwischen den USA und der EU. Das Vereinigte Königreich wird trotz aller Überheblichkeit nur eine Statistenrolle spielen.

In der politischen Landschaft Großbritanniens haben die einschneidenden Erfahrungen des Brexit und des Wahldebakels von 2019 dazu geführt, dass viele progressive Kräfte entschlossen sind, das Thema der künftigen Beziehungen mit dem Rest Europas abzuschließen. Den Ruf nach einem „Wiedereintritt“ hört man in der englischen Politik nur von unverbesserlichen Liberalen – wie dem Labour-Abgeordneten Andrew Adonis oder dem Oxforder Universitätsdozenten Will Hutton. Labour-Chef Keir Starmer hat versprochen, den Brexit-Deal nicht wieder aufzurollen und auch nicht die Wiederaufnahme eines Freizügigkeitsabkommens anzustreben.

Doch die geopolitischen Fakten bleiben. Wenn Bidens Demokraten zwei Legislaturperioden überstehen und Paris, Rom, Madrid und Berlin bei der Stärkung des europäischen Projekts mehr oder weniger an einem Strang ziehen, ist es mit der neokolonialen Fantasie der britischen Rechten vorbei, die sich für das Vereinigte Königreich eine geopolitische Rolle wünschen, die der des Libero im Fußball entspricht.

Die einzig sinnvolle Strategie für Großbritannien bestünde darin, der Kitt zu sein, der Europa und die USA zusammenhält, damit sie ihrer gemeinsamen Aufgabe gerecht werden und in einer auseinanderfallenden Weltordnung multilaterale Lösungen und Strukturen schaffen. Daran aber hat Johnson noch nie geglaubt, und seine dysfunktionale Amtszeit als Premierminister ist nach wie vor das größte Hindernis für eine klare, realitätsbezogene Außenpolitik für Großbritannien – oder für das, was davon übrig bleibt.

Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.

Aus dem Englischen von Christine Hardung