Einigkeit zwischen Russland und der EU ist derzeit schwer vorstellbar. Umso bemerkenswerter sind die jüngsten Äußerungen der russischen Botschaft und der EU-Vertretung in Ankara zur Türkei. Die EU schätze außerordentlich, dass die Türkei sich mit Blick auf den russischen Angriff auf die Ukraine auf der Seite der NATO und der EU positioniert habe, so EU-Botschafter Nikolaus Meyer-Landrut. Der Gesandte der russischen Botschaft, Alexei Erkhov, pries seinerseits den türkischen Umgang mit internationalen Vereinbarungen.
Hinter den selten gewordenen positiven Botschaften an die Adresse des außenpolitisch zuletzt häufig isolierten Ankara verbirgt sich der Versuch der Einflussnahme auf die strategische Positionierung der Schwarzmeermacht Türkei. Die Bedeutung des Landes auf zwei Kontinenten ist im Angesicht des Krieges deutlich gestiegen. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan möchte dies ausnutzen und im gleichen Atemzug die außenpolitischen Beziehungen der Türkei neu ordnen. Nach den Erfahrungen der Vergangenheit ist vor allem die EU skeptisch, ob sie hierbei auf die Standhaftigkeit Ankaras zählen kann.
Hinter den selten gewordenen positiven Botschaften an die Adresse des außenpolitisch zuletzt häufig isolierten Ankara verbirgt sich der Versuch der Einflussnahme auf die strategische Positionierung der Schwarzmeermacht Türkei.
Um das derzeitige Agieren der Türkei, der EU und Russland zu verstehen, lohnt der Blick zurück. Die Türkei, seit 1952 NATO-Mitglied und seit jeher stolz darauf, die zweitgrößte Armee des Verteidigungsbündnisses zu stellen, verfolgt unter Staatspräsident Erdoğan eine ebenso ambivalente wie ambitionierte Außenpolitik. Immer wieder stellt sie dabei zentrale Grundsätze in Frage, legt Regeln großzügig aus und bricht mit scheinbar unverrückbaren Überzeugungen. Das außenpolitische Handeln der Türkei sucht, wo immer möglich und opportun, den diplomatischen Kontakt zu allen Parteien und ist dabei grundsätzlich geprägt von strategischer Ambiguität und Pragmatismus. Dieser außenpolitische Pragmatismus kann allerdings jederzeit in unerwarteten Volten hinweggefegt werden. Legendär sind etwa die Urlaubsfotos der Duzfreunde Erdoğan und Baschar Al-Assad von 2008. Keine drei Jahre später bezeichnete Erdoğan den syrischen Diktator als Terroristen und unternahm alles, um seinen Sturz zu befördern. Ansichten und Gewissheiten, im Brustton der Überzeugung vorgetragen, gelten in der türkischen Außenpolitik immer genau so lange, bis etwas Neues kommt.
Diese Mischung aus diplomatischer Aktivität und unkalkulierbaren Positionsänderungen gewinnt im Ringen um eine Antwort auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine für alle Konfliktparteien neue Brisanz. Denn bereits vor dem Krieg pflegte die Türkei zu keinem anderen Land der Welt eine derartig widersprüchliche Beziehung wie zu Russland. In allen für die Türkei relevanten Konflikten der erweiterten Region stehen sich beide Länder feindlich gegenüber. In Syrien, Libyen und Aserbaidschan wurden und werden die Rivalitäten militärisch an den Frontlinien ausgetragen. Gleichzeitig bezieht die Türkei Öl, Gas und Weizen aus Russland. Sie benötigt dringend die Deviseneinnahmen durch den russischen Tourismus zur Stützung der taumelnden Landeswährung. Und sie lässt sich vom russischen Staatskonzern ROSATOM das nukleare Megaprojekt Akkuyu bauen. Auf die Spitze trieb es Erdoğan im Jahre 2019, als er gegen den erklärten Willen der NATO-Partner das russische Raketenabwehrsystem S-400 erwarb. Die Beziehungen Erdoğans zu Putin seien, zumindest nach Angaben des Präsidentenpalastes, trotz strategischer Differenzen weiterhin exzellent.
Bereits vor dem Krieg pflegte die Türkei zu keinem anderen Land der Welt eine derartig widersprüchliche Beziehung wie zu Russland.
Diese ganz bewusst ausgespielte Widersprüchlichkeit mutet ein wenig an wie eine karikaturartig überzeichnete Version der deutschen Russlandpolitik vor der von Bundeskanzler Scholz ausgerufenen Zeitenwende. Und ähnlich wie im Falle Deutschlands schauten Nachbarn und Verbündete gebannt auf die Türkei, um zu sehen, wie weit dort diese Wende angesichts der veränderten Realitäten gehen würde.
Zur Erleichterung der Verbündeten verschob Ankara mit Beginn des Krieges tatsächlich seine außenpolitische Gewichtung und drückte Solidarität mit der Ukraine aus. Anders jedoch als die übrigen NATO- und EU-Staaten wendete sich Ankara bewusst nicht von Russland ab. Durchaus geschickt versteht es Erdoğan derzeit, die Türkei als vermittelnden Akteur zu positionieren und damit außenpolitisch aufzuwerten.
Während er den Angriff auf die Ukraine verurteilte, lud er umgehend die russische und die ukrainische Regierung in die Türkei zu Verhandlungen ein. Mit großer Spannung wurde das Treffen zwischen dem russischen und dem ukrainischen Außenminister am Mittwoch am Rande des Diplomatieforums im südtürkischen Antalya erwartet. Es blieb vorerst ergebnislos. Weitere Treffen sollen laut Wunsch der türkischen Regierung folgen.
Während die ukrainische Armee mit in der Türkei produzierten Kampfdrohnen den Einmarsch der russischen Invasoren bekämpft, versichert Erdoğan, dass die Türkei weder beabsichtige, den eigenen Luftraum für russische Flugzeuge zu sperren, noch den Handel mit Russland nennenswert einzuschränken.
Während die ukrainische Armee mit in der Türkei produzierten Kampfdrohnen den Einmarsch der russischen Invasoren bekämpft, versichert Erdoğan, dass die Türkei weder beabsichtige, den eigenen Luftraum für russische Flugzeuge zu sperren, noch den Handel mit Russland nennenswert einzuschränken. Und während Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu andeutete, den Zugang zum Schwarzen Meer durch Bosporus und Dardanellen für russische Kriegsschiffe einzuschränken, betonen regierungsnahe Medien, dass durch diese Entscheidung auch die Durchfahrt des US-amerikanischen Zerstörers USS Roosevelt verhindert werde.
Die Türkei positioniert sich also klar an der Seite der Ukraine und unterfüttert dies mit außenpolitischen Schritten. Zugleich signalisiert sie Russland, dessen Interessen außerhalb des unmittelbaren Kriegsgeschehens nicht über Gebühr zu gefährden. Mit diesem Handeln hat Ankara auf Seiten der NATO-Verbündeten, die die Türkei in den letzten Jahren zunehmend misstrauisch beäugten, zunächst für Erleichterung gesorgt, ohne das Verhältnis zu Moskau nachhaltig zu beschädigen.
In der Türkei laufen nun Debatten darüber – teilweise öffentlich auf Twitter –, wie das Land aus dieser Position Profit schlagen könne. Denn wie es von hier aus weitergehen wird, ist nicht ausgemacht. Das Außenministerium sieht den russischen Krieg gegen die Ukraine als einmalige Gelegenheit, zerschlagenes Porzellan im Verhältnis zur EU und zur NATO zu reparieren. Tatsächlich deuten in schneller Abfolge stattfindende Besuche und Telefonate westlicher Regierungsvertreterinnen und -vertreter darauf hin, dass die türkische Regierung diese Chance nicht verpassen will. Die einflussreichen „Eurasier“ in Erdoğans Beraterstab hingegen drängen auf eine stärkere Hinwendung zu Russland und eine langfristige, autonome Positionierung der Türkei jenseits der historischen Allianzen. Für sie ist der Krieg der endgültige Bruch der Einbindung der Türkei in eine europäisch-nordatlantische Sicherheitsarchitektur.
Das Außenministerium sieht den russischen Krieg gegen die Ukraine als einmalige Gelegenheit, zerschlagenes Porzellan im Verhältnis zur EU und zur NATO zu reparieren.
Dass sich diese Lesart durchsetzt, ist derzeit jedoch unwahrscheinlich. Auch, weil die Türkei unter der stärksten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten leidet und vermeiden muss, in Querelen mit ihren westlichen Handelspartnern hineingezogen zu werden.
Klar ist jedoch: Die nächste Volte wird entscheidend. Bundeskanzler Olaf Scholz wird sich bei seinem Antrittsbesuch in Ankara am kommenden Dienstag ein Bild davon machen müssen, wie zuverlässig die Türkei an der Seite der NATO-Partner steht. Im Idealfall spielt die Türkei auch in den kommenden Monaten die Rolle einer freundlichen Vermittlerin und kann damit einen Beitrag zu einer diplomatischen Lösung des Krieges leisten. Bei aller Widersprüchlichkeit ist dieses Szenario derzeit das einzige, das im deutschen und europäischen Interesse sein kann.