Suella Braverman wird geliebt und gehasst. Für die einen ist sie eine Ikone, die sich traut, die Dinge beim Namen zu nennen. Für die anderen ist sie jemand, der beständig Öl ins Feuer gießt – eine Methode, die von Innenministerinnen und -ministern in der Regel eher vermieden wird. Großbritannien müsse sich auf eine „Welle“, gar einen „Hurricane“ an Flüchtlingen einstellen. Demonstrationen gegen die Eskalation in Nahost seien „Hassmärsche“ und Obdachlosigkeit sei im Übrigen auch nur eine andere Form des „Lifestyles“. Solche Töne hörte man oft seit dem Amtsantritt der Ministerin, deren Eltern selbst in den 1960er Jahren noch aus Ostafrika eingewandert waren. Als sie jedoch nach Trump’scher Art gegen die britische Polizei hetzte und Hooligans dies als Handlungsanweisung verstanden, auf die Bobbys loszugehen, hatte Braverman das Fass zum Überlaufen gebracht. Oder war alles nur Kalkül? Eine bewusste Illoyalität gegenüber dem Premier, um sich selbst als die bessere Alternative in Spiel zu bringen?

Premier Rishi Sunak sah sich gezwungen, noch vor der anstehenden Entscheidung des britischen Supreme Court über das „Ruanda-Gesetz“ zur Überführung illegaler Migrantinnen und Migranten nach Kigali ein deutliches Zeichen zu setzen und wies einer seiner stärksten Konkurrentinnen die Tür. Diese blieb sich treu und schickte postwendend einen öffentlichen Brief an den „Verräter“. Sie habe sein Angebot, als Innenministerin zu fungieren, unter „bestimmten Bedingungen“ angenommen. Obwohl er „kein persönliches Mandat für das Amt des Premierministers“ habe, habe sie sich bereit erklärt, ihn zu unterstützen. Sunak habe ihr zugesichert, die Europäische Menschenrechtskonvention und den britischen Menschenrechtsakt von 1998 außer Kraft zu setzen und somit internationales Recht zu umgehen, das die Abschiebung von Personen nach Ruanda verhindert. „Ihre Ablehnung dieses Weges“ – so Braverman an den Premier – „war nicht nur ein Verrat an unserer Vereinbarung, sondern auch ein Verrat an Ihrem Versprechen an die Nation, dass Sie ‚alles tun würden, was nötig ist‘, um die Boote zu stoppen.“

Hatte er nicht alles versucht? Nach der gescheiterten Spielbankpolitik seiner Vorgängerin Liz Truss inszenierte sich Sunak als kluger Realpolitiker, der die Dinge wieder ins Lot bringen würde. Seine Beliebtheitswerte schienen jedoch wie eingefroren. In einer überaus schwachen Parteitagsrede präsentierte er sich als „change candiate“, als der Kandidat des Wechsels – als hätte er versehentlich von der Oppositionsbank aus gesprochen und nicht als Vorsitzender der seit 13 Jahren regierenden Partei. Nichts schien zu helfen: Die Zustimmungswerte der Tories liegen seit Monaten konstant hinter denen der Opposition. Und nun das: Suella außer Rand und Band. Wenn er sie jetzt nicht schasste, dann würde das Urteil des Supreme Court ihr womöglich noch weiter Auftrieb verleihen. 

Das Thema Migration entwickelt für die Tories die Sprengkraft eines Brexit 2.0.

Das Gericht entschied gegen die Regierung. Ruanda sei kein „sicheres Land“, in das man Asylsuchende abschieben könne, und seither wettert Braverman von der Außenlinie für den Austritt des Königreiches aus der Europäischen Konvention für Menschenrechte. Sunak versprach ein „Notfall“-Gesetz, das gegen alle möglichen Einwände aus menschenrechtlicher Sicht gefeit sein werde. Man werde Ruanda „per Gesetz zu einem sicheren Land“ erklären. Internationale Beziehungen könne man überdenken, also auch die Mitgliedschaft im Europarat? Das Thema Migration entwickelt für die Tories die Sprengkraft eines Brexit 2.0.

Die britische Conservative Party beheimatete in ihrer Geschichte immer viele verschiedene ideologische Fraktionen, wie die Thatcher-Anhänger oder die Traditionalisten. Erst der Brexit sorgte über Jahre hinweg für eine Spaltung zwischen Befürworterinnen und Gegnern. Mit dessen Vollzug sollte das Drama eigentlich beendet sein. Seither wurden jedoch immer neue Brüche offenbar, die den Amtsinhaber von Downing StreetNumber 10 in zahlreiche Richtungskämpfe verwickelten. Verzweifelt verhedderte sich Sunak in Fragen der Klimaziele und der Boots-Flüchtlinge, beides Themen, die nur noch als Kulturkampf begriffen werden und die den rechtspopulistischen Zweig ständig in Aufruhr halten. 

Es gilt nicht als ausgemacht, dass die Tories nach einer Wahlniederlage zusammenhalten werden.

Angesichts der sinkenden Umfragewerte und der bevorstehenden Wahlen 2024 schien Braverman, die an der Pariser Sorbonne europäisches und französisches Recht studiert hat, bewusst Salz in die Wunden der Partei zu streuen, denn es gilt nicht als ausgemacht, dass die Tories nach einer Wahlniederlage zusammenhalten werden. Das Gespenst von Boris Johnson schwebt noch immer über Westminster und auch Liz Truss und ihrer Conservative Growth Group mangelt es trotz des Desasters um den Herbsthaushalt 2022 erstaunlicherweise nicht an Selbstbewusstsein. Rishi Sunak dagegen hat keine eigene Hausmacht. Er ist nicht von den Parteimitgliedern gewählt und seine Unterhausmehrheit stammt noch von Boris Johnson. Der Premierminister sei „verzweifelt“, so ein bekannter politischer Analyst in Westminster: „Wie verzweifelt muss er sein, wenn die Lösung seiner Probleme David Cameron heißt?“

David Cameron, Großbritanniens glückloser Premier, der das Brexit-Referendum ausgerufen hatte, um das Land zu befrieden und wegen seiner umstrittenen Libyen- und Syrien-Politik in Verruf geraten war, dieser zuletzt kaum mehr in Erscheinung getretene Politiker aus einer anderen Zeit soll nun als neuer Außenminister agieren. Sein Vorgänger, der auf dem internationalen Parkett hochgeschätzte James Cleverly, wird dringend im Innenministerium gebraucht, um nach Braverman aufzuräumen und wieder für Vertrauen bei der Polizei zu sorgen. Sunak selbst, der kaum Erfahrung in der Außenpolitik hat, hofft auf einen Politikprofi, der ihm angesichts der Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten den Rücken freihält. Das Problem, dass Cameron seit seinem Rücktritt über kein Mandat mehr verfügt, welches nach der britischen Verfassung für die Wahrnehmung eines Ministeramtes aber Voraussetzung ist, konnte noch in den frühen Morgenstunden gelöst werden: Cameron wurde zum „Baron“ ernannt und erhielt per Federstrich einen Sitz im House of Lords. Vor den Abgeordneten im Unterhaus wird er dennoch nicht sprechen können. Man diskutiert, die große Westminster Hall jeweils für seine Befragungen herzurichten, da er das Unterhaus nicht betreten darf.

Camerons umstrittenes Erbe macht den vierten neuen Außenminister seit 2019 zu einem Risiko für Sunak.

Camerons umstrittenes Erbe macht den vierten neuen Außenminister seit 2019 zur Angriffsfläche für die Opposition und zu einem Risiko für Sunak. Seine Annäherungspolitik an China scheint ebenso „von gestern“ wie seine – wenn auch nachvollziehbare – Argumentation für das 0,7-Prozent-Ziel in der Entwicklungszusammenarbeit. Nicht nur viele Britinnen und Briten haben ihn als den Premierminister in Erinnerung, der sich für ein Referendum entschied, das er nie zu verlieren gedachte und das heute für viele Probleme des Landes verantwortlich gemacht wird. Inmitten einer Lebenshaltungskostenkrise ist die Kabinettsumbildung für Viele nur ein Nebenschauplatz, solange sich die Lebensbedingungen nicht verbessern. Gerade die kurzfristige Berufung Camerons in das House of Lords macht einen sehr anachronistischen Eindruck. David Cameron? Der Erfinder der seit 2010 andauernden verhassten Austeritätspolitik? Nun ein Baron auf Lebenszeit?

Suella Braverman – die von Beginn an laut war, aber für viele Menschen in Großbritannien gesprochen hat, die sich noch immer eine drastische Senkung der illegalen Einwanderung wünschen, sich vor Multikulturalismus fürchten oder eine law and order-Politik bevorzugen – wird von nun an von der Außenlinie gegen Sunak agitieren und sich erfolgreich als Märtyrerin in Szene setzen. Sunaks Politik der parteiinternen Aussöhnung und Einbindung aller Flügel ist damit gescheitert. 

Für andere ist die Berufung des Ex-Premiers Cameron ein Signal: Sunak wolle den Weg des Windsor Framework folgen und sich Europa wieder annähern. Ein Austritt aus der Europäischen Konvention für Menschenrechte sei mit dem Europäer David Cameron nicht denkbar. Die Erwachsenen hätten wieder Platz am Kabinettstisch genommen. Das Experiment der Konservativen Partei mit dem Populismus sei vorbei. Die Tories kehrten in die liberale Ära von vor dem Brexit (2010–2015) zurück.

Das Notfall-Gesetz muss nun im Eilverfahren bis zum 17. November 2024 zunächst durchs Unterhaus, dann ins oft kritische Oberhaus und von dort wieder zurück zu den Abgeordneten in Westminster. Ein Zeitplan, der sich kaum einhalten lässt angesichts der Tatsache, dass Sunak durch die Missachtung des obersten Gerichts eine Verfassungskrise vom Zaun bricht. Wird er bis zum Äußersten gehen, sich dem rechtspopulistischen Lager der Bravermans beugen und aus der Konvention austreten? Würde er dann konsequenterweise auch die Genfer Flüchtlingskonvention oder gar die Charta der Vereinten Nationen in Frage stellen, in der die Menschenrechte verbrieft sind? Dutzende Tories fordern genau dies, sogenannte „Unberührtheitsklauseln“, die es ermöglichen würden, dass die Gesetzgebung völkerrechtliche Anforderungen außer Kraft setzt.

Während Sunak zunehmend zur Geisel seiner eigenen – weiter nach rechts schwenkenden – Partei wird, holt die Labour Party in Nachwahlen einen Wahlkreis nach dem anderen zurück. Alles, was sie jetzt benötigt, ist ein langer Atem, bis Sunak geruht, gemäß der Verfassung endlich Neuwahlen auszurufen.