Wladimir Putins brutaler Einmarsch in der Ukraine hat im Westen zu neuer Selbstreflexion geführt. Eine Reihe von Kommentatorinnen und Kommentatoren, die meisten aus den USA oder Großbritannien, haben ihren neuesten Sündenbock gefunden: Deutschland sei schuld mit seiner jahrzehntelangen Appeasement-Politik gegenüber Russland. Im Ernst?
Deutschland wird sehr gerne nicht gemocht – oftmals aus gutem Grund. Die vier von Angela Merkel geführten Regierungen gaben sich bei der Bewältigung der Eurozonen-Krise knallhart und zwangen dem Süden Europas verheerende Austeritätsmaßnahmen auf. Ebenso hatten Deutschlands eigene und engstirnige wirtschaftliche Interessen Priorität beim Umgang mit illiberalen Regimen, beispielsweise einer aggressiven Türkei. Gegenüber Russland verfolgte Berlin eine ähnliche Politik und knüpfte ein enges Netz aus Wirtschaftsbeziehungen. Seit der Zäsur vom 24. Februar ist jedoch klar, dass diese Art der Politik nicht mehr zeitgemäß ist. Die Kritik an Deutschland steigert sich jedoch allmählich ins Extreme: „Putins nützliche Idioten“, so das Urteil eines jüngst bei Politico Europe erschienenen Artikels über das deutsche Führungspersonal. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wurde ein Besuch in Kiew untersagt und er zur persona non grata erklärt. Hier wird über das Ziel hinausgeschossen.
Bei dieser extremen Kritik geht es nicht nur um Deutschland und darum, wie man mit brutalen Führern wie Putin umgehen sollte. Es geht auch um die Rolle Europas im internationalen System. Die Kritik geht zu weit – aus mindestens vier Gründen:
Bei dieser extremen Kritik geht es nicht nur um Deutschland und darum, wie man mit brutalen Führern wie Putin umgehen sollte. Es geht auch um die Rolle Europas im internationalen System.
Erstens: Geschichte. In Deutschland wurden die Verbrechen des Nationalsozialismus anerkannt und das Land nach 1945 auf neuen Fundamenten wiederaufgebaut. Kein anderer Staat hat historische Schuld so sehr zu einem integralen Bestandteil seines nationalen Selbstverständnisses gemacht. Es kam zur Ausarbeitung einer pazifistischen Verfassung, zur Verdrängung des deutschen Nationalismus an den gesellschaftlichen Rand und zu mehr als sieben Jahrzehnten Engagement für die europäische Integration. Wenn Deutsche den Bau der Nord Stream-Pipeline rechtfertigen und dabei an die Zerstörungen erinnern, die Hitlerdeutschland im heutigen Russland angerichtet hat, oder wenn gesagt wird, man wolle nicht, dass deutsche Panzer in die Ukraine rollen und russische Soldaten töten, dann hat das einen tieferen historischen Hintergrund. Man könnte derartige Haltungen als überholt abtun, aber diese Hintergründe sind nicht bedeutungslos – und sie sind auch kein vorgeschobenes Argument.
Zweitens: Ostpolitik. Die heutigen deutschen Sozialdemokraten stehen in der Tradition von Willy Brandts Politik der Zusammenarbeit, des Dialogs und der Entspannung gegenüber der Sowjetunion und dem Ostblock ab den 1960er Jahren. Diese Politik, an der seither jede Bundesregierung festgehalten hat, trug zum Fall der Berliner Mauer 1989 und zur friedlichen Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten bei. Als Mitglied der NATO hatte Deutschland zwar stets eine aktive Rolle bei der Einhegung des sowjetischen Blocks gespielt; aber es ergänzte diese Rolle mit einer weitsichtigen Politik der Öffnung gegenüber der Sowjetunion. Letztendlich war es eine kluge Politik, die sich als die richtige erwiesen hat.
Wenn Europas Hauptwaffe gegen Putins Aggression Wirtschaftssanktionen sind, dann ist es doch gerade die Intensität der Handelsbeziehungen mit Russland, die die Sanktionen zu einem wirksamen Hebel macht.
Drittens: Realpolitik. Es besteht kein Zweifel daran, dass die tiefgehenden Handelsbeziehungen und Deals mit Putins Russland für Deutschland von wirtschaftlichem Nutzen waren. Es ist allerdings auch wenig überraschend, dass ein Staat entsprechend seiner wirtschaftlichen Interessen handelt. Und in der Tat führt der Merkantilismus einer exportorientierten deutschen Wirtschaft – deren Rückgrat der Außenhandel ist – dazu, dass in der deutschen Außenpolitik häufig Beziehungen zu autoritären Regimen aufgebaut werden.
Mit Nord Stream 2 hätte sich Deutschland komplett abhängig von russischem Gas gemacht. Allerdings hat die Regierung von Olaf Scholz die Pipeline unmittelbar nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine gestoppt. Ebenso wurden alle schweren Sanktionen gegen Moskau mitgetragen und der daraus resultierende wirtschaftliche Schaden für Deutschland in Kauf genommen. Der Knackpunkt ist folgender: Wenn Europas Hauptwaffe gegen Putins Aggression derartige Wirtschaftssanktionen sind, dann ist es doch gerade die Intensität der Handelsbeziehungen mit Russland, die die Sanktionen zu einem wirksamen Hebel macht. Dank der bisher engen Beziehungen kann echter Druck ausgeübt werden. Ohne die vorherigen Geschäfte hätte Putin nichts zu verlieren und Sanktionen wären völlig sinnlos. Die wirtschaftliche Verflechtung gibt Europa die Macht, durch härtere Sanktionen eine abschreckende Wirkung zu erzielen – auch wenn es einen guten Teil der Kosten und Schäden freilich selbst tragen muss.
Wenn man langfristig mit einem militaristischen, autoritären, atombewaffneten Konkurrenten verhandeln will, kann es kein reines Schwarz-Weiß geben.
Wenn man langfristig mit einem militaristischen, autoritären, atombewaffneten Konkurrenten verhandeln will, kann es kein reines Schwarz-Weiß geben. Es bedarf einer sich ständig weiterentwickelnden Mischung aus Anreizen und Sanktionen, um gewünschtes, positives Verhalten zu fördern, von negativen Handlungen abzuschrecken und unmittelbar auf Aggressionen reagieren zu können. Es braucht ein ganzes Paket von Instrumenten, das sowohl Engagement und Zusammenarbeit als auch Abgrenzung und Einschränkung umfasst, und das entsprechend der jeweiligen Lage angewandt werden kann. Die deutsche Handlungslogik im Umgang mit Russland trägt dazu bei, eine ausgewogene europäische Außenpolitik aufrechtzuerhalten. Wäre dies nicht der Fall, würden atavistische Kalter-Krieg-Ansichten überwiegen.
Viertens: Europa. Der Frieden in Nachkriegseuropa beruht vor allem auf der pragmatischen Zurückhaltung der Staatsführungen, der Eindämmung des Nationalismus und dem Aufbau einer für alle Seiten vorteilhaften Zusammenarbeit. Die EU verdankt ihren historischen Erfolg dem Bau von Brücken, nicht dem von Mauern. Um es mit Keynes zu formulieren: Wenn sich die Dinge aber ändern, ändert Europa (und Deutschland) natürlich auch seine Meinung. Die EU kann und darf ihre Doktrin der soft power nicht aufgeben. Vielmehr muss sie diese durch eine hard power und defensive Abschreckung ergänzen. Doch gerade diejenigen europäischen Staats- und Regierungschefs, die versucht haben, Russland als Partner zu gewinnen, nun für Putins Krieg verantwortlich zu machen, ist schlimmer als Revisionismus. Es ist schlichtweg eine Verzerrung jeglicher Logik.
Aus dem Englischen von Tim Steins
Dieser Artikel erschien zuerst in der griechischen Zeitung Kathimerini.