Auf den zentralen Plätzen in Istanbul reihen sich Parteistände aneinander, Parteiwimpel flattern im Wind, Wahlkampfslogans dröhnen aus den Lautsprechern. Trotzdem ist die Stimmung vor den Wahlen am Sonntag gedämpft. Die Folgen des verheerenden Erdbebens lasten weiterhin schwer auf den Menschen. Und die Anspannung ist groß: Für viele Türkinnen und Türken sind die Wahlen am 14. Mai eine Schicksalswahl für die Zukunft ihres Landes.

Wie unterschiedlich die möglichen Wege in die Zukunft nach dem 14. Mai aussehen, wird an den beiden Präsidentschaftskandidaten Recep Tayyip Erdoğan (AKP) und Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) deutlich. So grundverschieden wie die beiden Kandidaten sind auch ihre Wahlkampagnen. Präsident Recep Tayyip Erdoğan setzt auf eindrucksvolle Kulissen und türkischen Nationalstolz. Im April präsentierte er den ersten türkischen Flugzeugträger. Gemeinsam mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin eröffnete er virtuell das erste türkische Atomkraftwerk, das mit russischer Unterstützung gebaut und betrieben wird. Pünktlich zum Wahlkampfauftakt rollte auch das erste türkische Elektroauto vom Band. Erdoğan inszeniert so seine Vision von Modernisierung, Wohlstand und nationaler Größe. Als Amtsinhaber verteilt er zudem reichlich Wahlgeschenke: Erdgas ist im Mai für alle Haushalte unbegrenzt kostenlos, das Rentenalter wurde heruntergesetzt, der Mindestlohn angehoben.

Erdoğan inszeniert seine Vision von Modernisierung, Wohlstand und nationaler Größe.

Je näher die Wahlen rücken, umso mehr greift der erfahrene Wahlkämpfer Erdoğan auch seine Gegner an. Immer wieder rückt er das Sechs-Parteien-Oppositionsbündnis und seinen Kandidaten Kemal Kılıçdaroğlu in die Nähe von Terrororganisationen. Auf einer Großkundgebung in Istanbul verkündete er vor hunderttausenden Menschen, das Oppositionsbündnis sei von der PKK abhängig, den Oppositionskandidaten Kılıçdaroğlu bezeichnete er als „Säufer“. Er setzt damit auf die bewährte Strategie der Spaltung und Polarisierung, indem er Identitäten gegeneinander ausspielt und Ängste schürt.

Der Mann, der ihm die Stirn bietet, führt seine erfolgreichsten Wahlkampagnen vom Küchentisch aus – mit einer Zwiebel in der Hand. In dem Video aus seiner Einbauküche prangert Oppositionskandidat Kılıçdaroğlu am Beispiel des Zwiebel-Preises die Inflation an, die vor allem Lebensmittel in der Türkei teuer macht. Im sachlichen Plauderton spricht der ehemalige Finanzbeamte die materiellen Sorgen der Menschen in der Türkei an: die teuren Lebensmittel, die Abwanderung junger, qualifizierter Menschen ins Ausland, die kriselnde Wirtschaft. Ein weiteres Video, in dem er sich zu seinem alevitischen Glauben bekennt, wurde millionenfach angesehen. Es ist ein Symbol für die Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung entlang von religiösen und kulturellen Identitäten, die Kılıçdaroğlu mit seiner Politik der Versöhnung (Helalleşme) anstrebt.

Während Erdoğan seine Wahlkampagne stark auf sich als Person und Führungsfigur zuschneidet („Richtige Zeit, richtiger Mann“, lautet sein Wahlslogan), tritt Kemal Kılıçdaroğlu in seinem Wahlkampfvideo in einer Reihe mit den Vorsitzenden der sechs Parteien seines Oppositionsbündnisses auf. Auf vielen Wahlplakaten ist er gemeinsam mit den beiden Oberbürgermeistern aus Istanbul und Ankara, Ekrem İmamoğlu und Mansur Yavaş, abgebildet, die ebenfalls als aussichtsreiche Kandidaten für das Präsidentschaftsamt galten. Der demonstrative Zusammenhalt ist dabei ein wichtiges Signal: Noch im April drohte das Sechs-Parteien-Bündnis zu scheitern, als die zweitgrößte Partei, die İyi-Partei, kurzzeitig aus dem Bündnis ausstieg, weil sie Kılıçdaroğlu zunächst nicht als Kandidaten unterstützen wollte.

Seither tritt das Sechs-Parteien-Bündnis jedoch betont geschlossen auf. Kılıçdaroğlu gilt als Architekt des Bündnisses, als Vorsitzender der größten Oppositionspartei CHP hat er kontinuierlich an Aufbau und Erweiterung des Bündnisses gearbeitet. Die Idee: mit einem breiten, demokratischen Bündnis die Wahlen gewinnen und vom Ein-Mann-Präsidialsystem zu einem gestärkten Parlamentarismus zurückkehren. Das Bündnis selbst ist breit aufgestellt und vereint neben der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP auch nationalistische Parteien bis hin zu zwei AKP-Abspaltungen.

Kemal Kılıçdaroğlu ist als Präsidentschaftskandidat ein Gegenentwurf zu Amtsinhaber Erdoğan.

Kemal Kılıçdaroğlu ist als Präsidentschaftskandidat ein Gegenentwurf zu Amtsinhaber Erdoğan. Das Sechs-Parteien-Bündnis, das auf Konsensfindung anstelle einer starken Führungsfigur setzt, steht für einen neuen Politikstil. Viele Wählerinnen und Wähler scheint das anzusprechen: In aktuellen Umfragen liegt Kemal Kılıçdaroğlu bei den Präsidentschaftswahlen vor Präsident Erdoğan. Das Regierungsbündnis (die „Volksallianz“) wird Umfragen zufolge seine Mehrheit im Parlament verlieren.

In einem verzweifelt anmutenden Versuch, sein Bündnis zu erweitern, ist Erdoğan eine Kooperation mit zwei kleinen islamistisch-rechtskonservativen Parteien eingegangen. Das dürften allerdings auch innerhalb der AKP-Wählerschaft nicht alle gutheißen. Der kurdisch-islamistischen HüdaPar werden beispielsweise Verbindungen zur türkischen Hisbollah nachgesagt. Beide Neuzugänge fordern u.a. die Aufhebung eines Gesetzes zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen – eines wichtigen Vermächtnisses der Istanbul-Konvention, aus der die Türkei 2021 ausgetreten ist. Der Austritt aus dem internationalen Abkommen hatte auch viele AKP-Wählerinnen und -Wähler empört. Ob der religiöse Rechtsrutsch des Regierungsbündnisses sich bei den Wahlen auszahlt, ist fraglich. Sicher ist: Die Politik der Spaltung und Polarisierung wird so noch verstärkt.

Auch Kılıçdaroğlus Sechs-Parteien-Bündnis (das „Bündnis der Nation“) wird im Parlament voraussichtlich keine absolute Mehrheit gewinnen können. Damit könnte einem weiteren Oppositionsbündnis (dem „Bündnis für Arbeit und Freiheit“), das kurdische, linke und sozialistische Parteien vereint, die Rolle des Mehrheitsbeschaffers zufallen. Im Parlament könnte es also auch nach den Wahlen darauf ankommen, Mehrheiten zu organisieren und Kompromisse zu finden. Bei der Präsidentschaftswahl unterstützt das Linksbündnis den Oppositionskandidaten Kılıçdaroğlu. Ob es diesem damit gelingt, mehr als die Hälfte der Stimmen für einen Sieg in der ersten Runde auf sich zu vereinen, ist aber ungewiss.

Drei Faktoren könnten das Ergebnis entscheiden: Die Erdbebenfolgen, das Wahlverhalten der jungen Wählerinnen und Wähler und der Rücktritt von Präsidentschaftskandidat Muharrem İnce kurz vor der Wahl.

Die Opposition hat zwar eine realistische Chance, Amtsinhaber Erdoğan am 14. Mai in den politischen Ruhestand zu schicken, aber die Entscheidung dürfte knapp werden. Drei Faktoren könnten das Ergebnis entscheiden – wobei jedoch unklar ist, in welche Richtung: die Erdbebenfolgen, das Wahlverhalten der jungen Wählerinnen und Wähler und der Rücktritt von Präsidentschaftskandidat Muharrem İnce kurz vor der Wahl. Die verheerenden Erdbeben vom Februar 2023 haben viele Menschen in der Türkei direkt oder indirekt getroffen. Mehr als 50 000 Menschen sind gestorben. Ein Großteil der vom Erdbeben betroffenen Gebiete unterstützte die AKP. Doch das Krisenmanagement der Regierung traf auf viel Kritik, in den ersten drei Tagen nach dem Beben erreichte die Hilfe viele Regionen gar nicht oder zu spät. Lokalen Behörden und Bauunternehmenden werden Korruption und Nichteinhaltung der Bauvorschriften vorgeworfen. Präsident Erdoğan versucht, verlorenen Boden wett zu machen: Bereits im März wurde mit dem Wiederaufbau in der Region begonnen, mehr als 300 000 Wohnhäuser will der Präsident binnen eines Jahres errichten lassen. Es gibt keine Umfragen, die einen eindeutigen Einfluss des Erdbebens auf die Wahlen zeigen. Doch es ist unklar, wie und wie viele Menschen aus der Region am Wahltag abstimmen werden. Nur ein Bruchteil der über drei Millionen Menschen, die das Gebiet verlassen haben, hat sich am neuen Wohnort für die Wahlen angemeldet. Die anderen müssen in das zerstörte Gebiet zurückreisen, um dort ihre Stimme abzugeben. Die Wahlbeobachtungsmission des Europarats wies sowohl auf die Herausforderungen der logistischen Organisation der Wahlen in den vom Erdbeben betroffenen Gebieten hin als auch auf die eingeschränkten Möglichkeiten der Parteien, unter dem in diesen Provinzen herrschenden Ausnahmezustand Wahlkampf zu führen. Ohnehin sind die Bedingungen alles andere als fair: In den größtenteils von der Regierung kontrollierten Medien erhielt die Opposition nur einen Bruchteil der Sendezeit. Zahlreiche Gesetze schränken die Medienfreiheit ein oder führen zur Selbstzensur. 

Eine weiterer Faktor, der das Ergebnis der Wahlen entscheiden könnte, sind die Stimmen der jungen Wählerinnen und Wähler. Die Türkei ist ein sehr junges Land, jeder dritte Wähler ist unter 33 Jahre alt. Eine besondere Rolle kommt dabei den Erstwählerinnen zu – fast jeder Zehnte in der Türkei gibt bei diesen Wahlen das erste Mal eine Stimme ab. Wer junge Menschen für sich gewinnen kann, hat also eine gute Chance, auch die Wahlen für sich zu entscheiden. Bisher scheint es, als hätten die beiden großen Parteien AKP und CHP diese Gruppe nicht besonders erfolgreich angesprochen. Kostenlose Gigabyte-Pakete, mit denen beide Bündnisse wie Mobilfunkanbieter warben, werden der Lebensrealität junger Menschen in der Türkei nicht gerecht. Umfragen zufolge wollen die Erstwählenden überwiegend nicht für den amtierenden Präsidenten stimmen. Präsident Erdoğans Vision der Jugend entsprechen sie sowieso immer weniger: Jungwählerinnen und -wähler sind im Vergleich zu anderen Gruppen weniger konservativ und weniger religiös. Doch ob dies dem Oppositionskandidaten Kılıçdaroğlu zugutekommt, ist ebenso wenig ausgemacht. Vielmehr genossen die beiden Außenseiter in der Präsidentschaftswahl, der ehemalige CHPler Muharrem İnce von der Heimat-Partei und Sinan Oğan, der vom ultrarechten ATA-Bündnis unterstützt wird, hohe Zustimmungswerte unter jungen Menschen.

Die beiden weiteren Kandidaten hatten einen Wahlsieg in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl, für den mehr als die Hälfte aller Stimmen nötig sind, lange unwahrscheinlich gemacht. Doch die Türkei wäre nicht die Türkei, wenn sich nicht drei Tage vor der Wahl noch einmal alles ändern würde. Am Donnerstag gab Muharrem İnce seinen Rücktritt von der Kandidatur als Präsidentschaftskandidat bekannt. İnce hatte bei der Präsidentschaftswahl 2018 als Kandidat der CHP gegen Erdoğan verloren. Seine Kandidatur im aktuellen Wahlgang hatte vor allem die Opposition verärgert, da sie Stimmverluste und eine Spaltung der Opposition gegen Erdoğan fürchtete. Auch wenn İnce in Umfragen nur ein einstelliges Ergebnis prognostiziert wurde, hätten diese Prozentpunkte zu einer Stichwahl zwischen den beiden stärksten Kandidaten führen können. Ob nach dem Rücktritt İnces die Stimmen der Opposition zufallen, ist jedoch nicht ausgemacht. Seine Wählerbasis umfasst neben jungen Menschen auch Protestwählende. Technisch ist ein Rücktritt so kurz vor der Wahl nicht mehr möglich – das heißt, dass İnce als dritter Kandidat auf dem Wahlzettel erscheint und weiterhin gewählt werden kann.

Die wirtschaftlichen Sorgen der Menschen, hinter denen Identitätsfragen zurückstehen, sind die Achillesferse von Präsident Erdoğan.

Dennoch könnte Oppositionskandidat Kılıçdaroğlu gute Chancen haben, einen Teil der Wählerbasis von İnce und hier vor allem die jungen Wählerinnen und Wähler für sich zu gewinnen. Denn die türkische Wirtschaft wächst zwar weiterhin, doch der Wohlstand kommt bei den meisten Menschen nicht mehr an, im Gegenteil: Vor allem im vergangenen Jahr litten die Menschen unter einer horrenden Inflation, Nahrungsmittel sind teuer geworden. Zu der Inflation von derzeit mehr als 40 Prozent nach offiziellen Angaben (nach Berechnung unabhängiger Institute über 100 Prozent) kommt der Verfall der Türkischen Lira. Seit Beginn des Jahres 2021 hat sich der Wert der Landeswährung mehr als halbiert. Viele Menschen haben in den vergangenen zwei Jahren spürbar an Wohlstand verloren. Und vor allem junge Menschen leiden unter den gestiegenen Kosten für Lebensunterhalt, Bildung und Mieten.

Die wirtschaftlichen Sorgen der Menschen, hinter denen Identitätsfragen zurückstehen, sind die Achillesferse von Präsident Erdoğan, der sich über viele Jahre seine hohen Zustimmungswerte mit steigendem Wohlstand, Wirtschaftswachstum und Modernisierung sichern konnte. Am Ende könnte also doch die Zwiebel den Wahlkampf entscheiden.