Sie fahren auf der falschen Seite. Sie würzen mit Essig und auch sonst gelten die Britinnen und Briten für den Rest Europas zuweilen als eher exzentrisch. Nur was parlamentarische Demokratie betrifft, galten sie bislang als Maß aller Dinge. Das Unterhaus ist die Mutter aller Parlamente, die Lebhaftigkeit der Debatte in Westminster lässt Abgeordnete aus aller Welt vor Neid erblassen und die skurrilen Bräuche rund um den Speaker, das Zepter und die befremdlichen Verbeugungen machen das ganze Spektakel dazu noch fernsehtauglich.

Der Brexit hat diesem Image einen schweren Schaden zugefügt. Großbritannien wirkt auf einmal altbacken und entscheidungsschwach. Die demokratischen Institutionen scheinen keine Politik mehr zu machen, sondern sich nur noch in taktischen Spielchen selbst zu beschädigen. Der Tag des parlamentarischen Revivals am 27. März verstärkt das aus Sicht der Presse noch zusätzlich. Überall dominieren die Schlagzeilen über das Versagen des Hauses, das frei nach Goethe stets nur verneint, weil ohnehin im Brexit alles zugrunde geht. Einige der konservativen Abgeordneten bliesen ins gleiche Horn und warnten davor, dass das eigene Land zur internationalen Lachnummer werde.

Doch aus demokratischer Perspektive ist der 27. März ein wichtiger Tag, denn er markiert möglicherweise den Beginn eines ernsthaften gesellschaftlichen Dialogs zum Brexit. Gut 1000 Tage nach dem Referendum und zwei Tage vor dem eigentlich geplanten Austritt, führten Abgeordnete aller Parteien erstmals einen ernsthaften, reflektierten und nachdenklichen Dialog miteinander. Sie warben für die eigenen Präferenzen, ohne die anderen Optionen zu verdammen. Sie gingen auf Wortmeldungen von Kolleginnen und Kollegen ein, um konstruktiv darauf aufzubauen. Die meisten Beiträge verdeutlichten die ehrliche Sorge darüber, wie es mit dem Land weitergehen kann und wie man als parlamentarische Vertretung der Bürgerinnen und Bürger verantwortlich mit der Bredouille umgehen kann, in der man steckt.

Die Ignoranz hinsichtlich demokratischer Institutionen und Procedere zeigte sich bei May auch in ihrem bislang letzten Zug.

Das war ein wohltuender Kontrast zur Premierministerin, die nicht zu Unrecht den Beinamen Maybot bekommen hat. Anstatt selbst diesen Prozess der Kompromissfindung zu initiieren und damit zu einem für alle akzeptablen Ergebnis zu kommen, verdeutlichte sie in diesen Wochen wieder einmal, wie wenig sie auf demokratische Willensbildungsprozesse gibt: Mitten in den Bemühungen, weitere Abgeordnete von ihrem Deal zu überzeugen, stellte sie sich am 20. März vor die Kameras und hielt eine Ansprache an das britische Volk, die mit trumpesk noch freundlich umschrieben ist. In ihrer fast schon bizarren Attacke versicherte sie den Zuschauern, dass sie auf ihrer Seite sei. Genau wie die Bürger sei auch sie der Ränkespiele der Parlamentarierinnen und Parlamentarier überdrüssig, die sich für nichts entscheiden könnten und lediglich den Brexit verzögern würden.

Die Labour-Abgeordnete Lisa Nandy bezeichnete diese Rede später als „Angriff auf die liberale Demokratie“. May stellte sich damit in eine Reihe mit vorherigen Attacken auf öffentliche Angestellte, denen ebenfalls vorgeworfen wurde, dass sie – in ihrer Mehrheit für den Verbleib in der EU – Verrat am Brexit üben wollten. Die Schlagzeile der Daily Mail „Enemies of the People“ gegen die Richter, die entschieden hatten, dass das Parlament am Brexit substantiell beteiligt werden müsse, markiert einen der frühen negativen Höhepunkte dieser Auseinandersetzung.

Aber die Ignoranz hinsichtlich demokratischer Institutionen und Procedere zeigte sich bei May auch in ihrem bislang letzten Zug. Anstatt im Parlament den Diskussionen über die indikativen Abstimmungen zu folgen, versammelte sie ihre Fraktion in einem stickigen Raum in Westminster und bot ihr das ultimative Opfer an. Sollte es eine Mehrheit für ihr Abkommen geben, werde sie die nächsten Verhandlungen mit der EU – über die langfristigen Beziehungen – nicht mehr führen, sondern zurücktreten.

Johnsons inniger Wunsch „Kalif anstelle des Kalifen zu werden“ wirkt offenbar Wunder der Autosuggestion.

Prompt erschien beispielsweise dem ehemaligen Außenminister Johnson der Deal, den er bislang als Gang in den Vasallenstaat verurteil hatte, als zustimmungswürdig. Sein inniger Wunsch „Kalif anstelle des Kalifen zu werden“ - sprich endlich Premierminister zu werden -, wirkt offenbar Wunder der Autosuggestion. Aber zurück zu May: Anstatt in einen offenen Diskurs mit dem Parlament über die Zukunft des Landes zu treten, bietet sie in einem Hinterzimmer die Übergabe der Macht in der eigenen Partei an. Mit größerer Geringschätzung kann man als vom Parlament eingesetzte Premierministerin dieses kaum behandeln.

Trotzdem, aber auch deshalb, wird es kaum eine Mehrheit für ihren Vorschlag geben. Die Stimmen, die sie mit Johnson und Konsorten auf der einen Seite gewonnen hat, verliert sie auf der anderen Seite bei den Labourabgeordneten, die sie als Ausgleich für die eigenen Fraktionshardliner braucht. Die Aussicht mit ihrer Zustimmung zu Mays Deal den Steigbügelhalter für Johnson oder einen anderen Brexiteer zu geben, schreckt ab. Und so steht das Land beinahe wieder da, wo es eigentlich schon seit dem Referendum steht: Niemand weiß, wo es hingehen könnte, aber jeder streitet vehement dafür.

Das zarte Pflänzchen des demokratischen Dialogs, der im Parlament begonnen hat, droht schnell wieder unter den Rädern des parteitaktischen Kalküls zermahlen zu werden. Denn es kommt zu spät und das Klima ist schon zu aufgeheizt, als dass es gedeihen könnte. Man ist doch wieder ans Autofahren erinnert: Den Deal zu verhandeln, dann damit zu scheitern und ganz am Ende vorsichtig zu eruieren, was eigentlich mehrheitsfähig sein könnte – das erinnert an eine politische Geisterfahrt. Andersherum hätte es was werden können und es ist nicht ausgeschlossen, dass das Unterhaus dies auch bald so sieht und die Brexituhren zurückdreht. Mit einer substantiellen Verlängerung könnte man den Prozess noch einmal umdrehen und so vollziehen, wie es den demokratischen Traditionen des Landes gerecht wird. Aber vielleicht ist das selbst für die Briten zu exzentrisch.