Eigentlich fing die Misere bereits zu Beginn des Jahres an. Die Partei des französischen Präsidenten Emmanuel Macron Renaissance war auf der Suche nach einem Spitzenkandidaten für die Europawahl, doch es fand sich keiner: „Sie hatten alle große Angst davor, eine herbe Niederlage einzustecken“, sagte ein Kollege der Sciences Po Strasbourg. Im Februar kursierten Gerüchte, der ehemalige Außenminister Jean-Yves Le Drian würde es machen, er genieße die Unterstützung des Präsidenten. Daraus wurde jedoch nichts, wahrscheinlich weil der 76-jährige Le Drian als zu alt galt.
Dann eskalierten auf Frankreichs Straßen die Bauernproteste. Die rechtsextreme Partei Rassemblement National, die sich schon immer als bauernnah ausgegeben hatte, machte daraus ein zentrales Wahlthema und setzte ihre Konkurrenten unter Zugzwang. Das Präsidentenlager erkannte den Ernst der Lage und einigte sich in aller Eile auf Valéry Hayer als Spitzenkandidatin. Die Europaabgeordnete und Vorsitzende der Fraktion Renew Europe im Europäischen Parlament, die als Tochter eines Bauern aufwuchs, schien eine geeignete Kandidatin zu sein, Jordan Bardella, dem rhetorisch gewandten Shooting-Star des Rassemblement National, die Stirn zu bieten. In einem Land, in dem die Politik sich vor allem um starke Persönlichkeiten dreht, vermochte Hayer es jedoch nicht, sich Gehör zu verschaffen. Das Feld dominierte stattdessen Bardella.
Das Ergebnis kennen wir: Das Präsidentenlager erhielt mit 15 Prozent nur halb so viele Stimmen wie der Rassemblement National und landete auf Platz 2, nur knapp vor den wiedererstarkten Sozialisten um Raphael Glucksmann. Ob ein Schwergewicht wie Jean-Yves Le Drian die Niederlage hätte abwenden können, ist mehr als fraglich. Dafür ist der von der Linken und Rechten geschürte Hass auf den ohnehin schon unbeliebten Präsidenten zu stark. Le Drian wäre aber durchaus in der Lage gewesen, den Aufprall abzufedern, zum Beispiel in der Bretagne, einer Region, in welcher er sich nach wie vor hoher Beliebtheitswerte erfreut und die am 9. Juni dunkelblau geworden ist. Dann wäre vielleicht alles anders gekommen. Nur, die Geschichte nahm eine andere Wendung: Emmanuel Macron, der im Wahlkampf gebetsmühlenartig wiederholt hatte, die Europawahl werde keine Folgen für die nationale Politik haben, löste überraschend das Parlament auf und setzte Neuwahlen an. Der Schock saß tief.
Die Erstreaktion: Macron sei in die Falle getappt, die ihm der Rassemblement National gestellt habe. Doch wer Macron kennt, weiß: Der Präsident ergreift lieber eine Initiative zu viel als eine zu wenig. Die Regierung wäre ohnehin im Herbst bei den Verhandlungen über den Haushalt 2025 gestürzt, erklärte er letzte Woche in einem offenen Brief an die Franzosen. Damit hat er zwar recht. Ob der Zeitpunkt für die Auflösung der richtige war – darüber lässt sich allerdings streiten. Präsident Jacques Chirac, der im April 1997 als Reaktion auf die miesen Umfragewerte seiner Partei das Parlament aufgelöst hatte, konnte damals auf der Welle der Begeisterung reiten, die das Land nach dem Sieg Frankreichs bei der Fußballweltmeisterschaft erfasste. Nicht dass Macron bei einem erfolgreichen Abschneiden Frankreichs bei der EM oder den Olympischen Spielen das Blatt hätte wenden können, die Ausgangsbedingungen wären jedoch sicherlich nicht so schlecht gewesen wie jetzt – da die Dynamik eindeutig beim Rassemblement National liegt. Ein Verschieben des Unausweichlichen hätte dem stark verunsicherten Land allerdings eine dringend benötigte Verschnaufpause gewährt.
Der Präsident ergreift lieber eine Initiative zu viel als eine zu wenig.
Nun braucht die Partei von Marine Le Pen und Jordan Bardella nur noch auf Kontinuität zu setzen: Die Franzosen kennen sie ja schon. Während die anderen Parteien damit beschäftigt waren, sich neu zu ordnen, konnten Le Pen und Bardella sofort loslegen. Das verschafft der Partei einen erheblichen Vorteil. Zwischen dem 10. und dem 29. Juni erlebten wir einen von Intrigen und Wendungen geprägten Wahlkampf – „einen Ball der Verrückten“, wie ein Analyst auf X schrieb –, der am Ende das bestätigte, was wir schon lange ahnten: Mit 29,26 Prozent und 9,38 Millionen Stimmen – einem Plus von 6,4 Millionen im Vergleich zu 2022 – hat sich der Rassemblement National landesweit etabliert. Die historische Wahlbeteiligung (67,5 Prozent) gibt diesem Ergebnis eine unumstrittene Legitimität. Sie ist ein Zeichen dafür, dass viele Franzosen auf einmal wieder das Gefühl gehabt haben, sie werden als Wähler ernst genommen.
Das war seit der Parlamentswahl 2002 nicht mehr der Fall gewesen. Ein Jahr zuvor, 2001, hatte Premierminister Lionel Jospin den „Wahlkalender“ umdrehen lassen, in der Hoffnung, im Jahr danach davon zu profitieren. Von nun an sollte die Parlamentswahl unmittelbar nach der Präsidentschaftswahl abgehalten werden. Das Ziel: dem Präsidenten die Mehrheit zu geben, auf die er angewiesen ist, um sein Programm umzusetzen. An sich keine schlechte Idee, denn die Kohabitation zwischen Chirac und Jospin hatte schnell ihre Grenzen erreicht und bei vielen den Eindruck erweckt, das Land habe sich in eine Sackgasse manövriert, es sei bloqué.
Der Nachteil: Die Reform brachte eine noch größere Machtkonzentration mit sich – das Mehrheitswahlrecht tat sein Übriges. Macron nutzte dies voll und ganz: Gaullismus à l’état pur! Zwischen 2017 und 2022 versprach er zwar immer wieder, das Wahlrecht zu reformieren – darüber wird eigentlich seit François Mitterrand diskutiert –, ließ seinen Ankündigungen aber keine Taten folgen. Das verstärkte den Frust, das Gefühl, nicht wahrgenommen zu werden – vor allem in der Province –, und war am Ende Wasser auf den Mühlen der Extremisten. Auch das ist eine Lehre aus der Krise, die das Land aktuell durchmacht: Das Verhältniswahlrecht muss kommen, und zwar schnell.
Spätestens beim Haushaltsbeschluss im Herbst dürfte die Situation unerträglich werden.
In seinem Brief an die Franzosen räumte Emmanuel Macron ein, dass sich die Art des Regierens nach der Wahl „grundlegend ändern“ müsse. Ob er dabei die Einführung des Verhältniswahlrechts im Blick hatte? Auffallend ist in diesem Zusammenhang die Position des Rassemblement National: Die Partei, die sich gerne mit der Wahlparole „Dem Volk eine Stimme geben“ brüstet, spricht nicht mehr davon, seitdem die Macht in greifbare Nähe gerückt ist. Auch das verspricht nichts Gutes. Denn ein Wahlsieg der Rechtsextremisten am 7. Juli ist möglich, auch wenn die Bildung einer breit aufgestellten „Republikanischen Front“ diesen weniger wahrscheinlich gemacht hat.
Sollte der Rassemblement National eine absolute Mehrheit erringen, käme es zu einer „Cohabitation“ mit Jordan Bardella. Die Machtaufteilung zwischen dem Präsidenten und dem Premierminister ist in einer „Cohabitation“ kompliziert – die Verfassung liefert hier nur einige Leitplanken. Alles andere muss von Fall zu Fall verhandelt werden. Mit Jacques Chirac (1986–1988), Édouard Balladur (1993–1995) und Lionel Jospin (1997–2002) ist dies einigermaßen zivil abgelaufen, unter einem Premierminister Bardella dürfte dies jedoch nicht der Fall sein.
Doch was, wenn keiner der drei Blöcke (Neue Volksfront, Mitte, Rassemblement National) die absolute Mehrheit bekommt? In diesem Szenario – das wahrscheinlichste – könnte es zur Bildung einer Expertenregierung kommen. Der nächste große Eklat wäre vorprogrammiert. Spätestens beim Haushaltsbeschluss im Herbst dürfte die Situation unerträglich werden. Eine Auflösung des Parlaments käme allerdings nicht infrage. Die Verfassung ist an dieser Stelle eindeutig: Laut Artikel 12 geht dies nur einmal im Jahr. Was dann? Müsste der Präsident abtreten und Neuwahlen ansetzen? Dies ist nicht auszuschließen, denn der Druck auf ihn dürfte in diesem Fall massiv zunehmen.
Marine Le Pen hat bereits angekündigt, dass sie auf dieses Szenario hinarbeiten werde. Die Linksradikalen von La France Insoumise – heute Teil der Neuen Volksfront – würden sicherlich mitziehen. Frankreich steuert auf schwere Zeiten zu. Das gehört zu den wenigen unumstrittenen Wahrheiten, über welche wir – Stand heute – verfügen.