Auf ihrem jüngsten Ratstreffen haben sich die EU-Staats- und Regierungschefs dafür ausgesprochen, die Zusammenarbeit mit der Türkei in der Flüchtlingspolitik fortzusetzen. Bis zum nächsten Treffen im Juni soll die EU-Kommission hierfür genauere Vorschläge erarbeiten. Der Wortlaut der Beschlüsse deutet allerdings darauf hin, dass ein neues Abkommen dem alten „Deal“ in vielen Punkten ähneln könnte.
Dabei zeigt die Bilanz nach fünf Jahren eindeutig, dass die bisherige Politik gescheitert ist. Die EU hat sich mit dem Abkommen in eine Sackgasse manövriert und von einem Autokraten abhängig gemacht. Zugleich haben die europäischen Regierungen wichtige Errungenschaften des Flüchtlingsschutzes über Bord geworfen. Es ist überfällig, neue Wege zu gehen und zu einer menschenrechtsbasierten und nachhaltigen EU-Flüchtlingspolitik zu finden.
Seit Ende 2015 hat die EU auf den Inseln in der Ägäis sogenannte Hotspots eingerichtet. Neuankommende Flüchtlinge werden dort festgehalten und sollten entweder in Europa verteilt oder schnell wieder abgeschoben werden. Geplant war, dass die EU-Staaten für jeden syrischen Flüchtling, der in die Türkei zurückgeführt würde, einen anderen syrischen Flüchtling aus der Türkei aufnehmen sollten. Dieser Plan scheiterte jedoch schnell. Nicht nur an europäischen Grundrechten, die Asylsuchende vor Abschiebungen ohne Prüfung ihres Asylantrags schützen. Auch die Türkei weigerte sich, Personen zurückzunehmen.
Das Abkommen war letztlich ein Kuhhandel: Die türkische Regierung verhindert, dass Flüchtlinge in die EU weiterreisen. Dafür sagte die EU der Türkei sechs Milliarden Euro zu, um die Flüchtlinge im eigenen Land zu versorgen. Zudem versprachen die Europäer, die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wiederaufzunehmen sowie Visa und Handel zu erleichtern. Diese Versprechen wurden allerdings nie eingelöst. Auch ein humanitäres Aufnahmeprogramm, dass es einer größeren Zahl von Flüchtlingen ermöglicht hätte, auf sichere und geordnete Weise in europäischen Staaten Schutz zu finden, wie es im Abkommen vorgesehen war, wurde nie realisiert.
Die EU hat sich mit dem Abkommen in eine Sackgasse manövriert und von einem Autokraten abhängig gemacht.
Nachdem der „Deal“ im März 2016 geschlossen wurde, ging die Zahl der Flüchtlinge, die in Europa ankamen, stark zurück. Vielen – nicht zuletzt dem Europäischen Rat und der EU-Kommission – gilt er deshalb als großer Erfolg. Die meisten Regierungen wollen ihn fortsetzen. Die Elendslager auf den griechischen Inseln, in denen Asylsuchende einschließlich kleiner Kinder zum Teil jahrelang darauf warten, abgeschoben oder verteilt zu werden, nehmen sie in Kauf. Die Humanität bleibt auf der Strecke.
Aber auch die Türkei hat ihre Ziele nicht erreicht. Explizit fordert die türkische Regierung deshalb für eine Fortsetzung des Abkommens erneut die visafreie Einreise nach Europa für ihre Bürger und einen Weg zur Zollunion mit der EU – neben weiteren Milliardenzahlungen für die Versorgung von Flüchtlingen. Mit europäischen Geldern will die Türkei syrische Flüchtlinge nun in von ihr kontrollierten militärischen „Schutzzonen“ in Nordsyrien unterbringen: Völkerrechtlich ist das illegal. Doch schon als türkische Truppen 2018 in die kurdischen Gebiete im Norden Syriens einmarschierten und diese besetzten, protestierten die Europäer nur zaghaft.
Die Furcht, die Türkei könnte das Flüchtlingsabkommen auflösen, wog schwerer als sicherheitspolitische Interessen und menschenrechtliche Bedenken. Auch auf die immer autoritärere Ausschaltung der demokratischen Opposition in der Türkei konnte die EU deshalb nicht angemessen reagieren. Und während die EU mit der Türkei über eine Fortsetzung des Flüchtlings-Abkommens verhandelt, diskutiert sie zeitgleich über den türkisch-griechischen Konflikt um Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer. Wie kann sie hier eine konsequente Haltung einnehmen?
Die EU hat sich der Türkei ausgeliefert. Diese nutzt ihre Kontrolle über Fluchtbewegungen, um Europa unter Druck zu setzen. Präsident Erdogan drohte wiederholt, Flüchtlinge nach Europa zu „schicken“. Die Politikwissenschaftlerin Kelly Greenhill spricht in solchen Situationen von den „Waffen der Massenmigration“.
Die Furcht, die Türkei könnte das Flüchtlingsabkommen auflösen, wog schwerer als sicherheitspolitische Interessen und menschenrechtliche Bedenken.
Führt die EU das Abkommen nach dem bisherigen Muster fort, begibt sie sich in eine dauerhafte Abhängigkeit von der Türkei. Eine Strategie, sich daraus wieder zu befreien, hat sie nicht. Dabei beruhte schon das Abkommen vom März 2016 auf falschen Annahmen. Die Zahl der Menschen, die in Griechenland ankamen, war schließlich schon davor, seit November 2015, drastisch zurück gegangen. Die Schließung der Balkanroute hatte es faktisch unmöglich gemacht, nach Nordwesteuropa zu gelangen. Umfragen zeigten zudem, dass der größte Teil jener, die nach Europa weiterwandern wollten, sich zu diesem Zeitpunkt schon längst auf den Weg gemacht hatte.
Heute ist die Situation erst recht völlig anders als vor fünf Jahren: Die meisten Flüchtlinge, die jetzt in der Türkei leben, haben weder eine konkrete Absicht, nach Europa zu ziehen, noch verfügen sie über die Mittel, die es dafür braucht. Mit dem Bau einer Mauer hat sich die Türkei zudem für neuankommende Flüchtlinge weitgehend abgeschottet.
Daher braucht es einen Kurswechsel. Die EU sollte die Flüchtlinge in der Türkei weiterhin finanziell unterstützen. Hierzu scheinen die europäischen Regierungen auch bereit. Sie sollte aber endlich auch ein geregeltes Aufnahmeprogramm aufsetzen, um Schutzsuchende aus der Region aufzunehmen. Zwar gibt es auch jetzt schon ein Resettlement-Programm, über das Flüchtlinge aus der Türkei in europäische Staaten umgesiedelt werden können.
Seit 2016 konnten jedoch nur rund 28 000 Menschen davon profitieren. Demgegenüber steht laut UNHCR ein Resettlementbedarf von fast 400 000 besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen. Daher sollten in den nächsten fünf Jahren mindestens 100 000 Flüchtlinge aus der Türkei jährlich aufgenommen werden. Zudem sollten auch die Resettlementquoten für andere Staaten in der Region und darüber hinaus aufgestockt werden. Auch sollten Familienzusammenführungen wieder großzügiger gestaltet und Visa für Studium und Arbeit speziell für Flüchtlinge erleichtert erteilt werden.
Die meisten Flüchtlinge, die jetzt in der Türkei leben, haben weder eine konkrete Absicht, nach Europa zu ziehen, noch verfügen sie über die Mittel, die es dafür braucht.
Dies wäre ein deutliches Signal an Geflüchtete dort, dass es einen sicheren und realistischen Weg gibt, nach Europa zu gelangen. Sie müssten sich nicht in die Hände von Schleppern begeben. Für europäische Staaten wäre die Ankunft und Aufnahme dieser Flüchtlinge planbar, inklusive Sicherheitsüberprüfung und Gesundheitstests vor der Einreise. Viele Kommunen in Deutschland haben bereits signalisiert, dass sie bereit wären, diese Menschen aufzunehmen.
Eine solche Politik würde die irreguläre Migration nach Europa deutlich eindämmen. Manche werden trotzdem versuchen, auf eigene Faust und auf riskanten Routen in die EU zu gelangen. Hiervor sollten die Europäer keine Angst haben. Die Zahlen irregulärer Einreise nach Griechenland sind nicht hoch und wären angesichts der Aussicht auf einen sicheren Zugang zur EU noch sehr viel geringer. Ankommende müssen Zugang zu einem regulären Asylverfahren erhalten.
Dieses sollte modellhaft gestaltet sein, mit Blick auf eine menschenrechtsbasierte und nachhaltige Reform des Asylsystems: Ohne Schnellverfahren oder Vorprüfungen an den Außengrenzen, welche griechische Lager verstetigen würden und rechtlich problematisch sind. Ein umfangreiches Aufnahmeprogramm würde eben nicht nur zur Überwindung der regionalen Flüchtlingskrise beitragen. Es würde der EU auch die Chance für einen Neuanfang in der Flüchtlingspolitik bieten, die nicht mehr im Bann der Ausnahmesituation von 2015 steht.
Nicht alle EU-Staaten würden bei einem Kurswechsel mitmachen. Viele europäische Parteien und Regierungen schüren die Angst vor Flüchtlingen, weil sie davon profitieren. Doch einige Staaten mit Weitblick könnten vorangehen und das Ziel einer menschenrechtsbasierten Flüchtlingspolitik verfolgen. Das würde auch die außenpolitische Position der EU deutlich stärken. Europa darf sich nicht länger erpressbar machen.
Als die türkische Regierung im Februar 2020 einige tausend Flüchtlinge an die Landesgrenze zu Griechenland brachte, reagierte Europa mit Härte. Der Schutz von Flüchtlingen rückt seitdem immer stärker in den Hintergrund. Doch die Europäer müssen ihr Ideal von Menschen- und Flüchtlingsrechten verteidigen – nicht zuletzt, um demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien glaubwürdig nach außen wie im Inneren vertreten zu können. Ein stabiles internationales Flüchtlingsregime auf menschenrechtlicher Grundlage liegt auch im Eigeninteresse Europas.