Polen

Das politische Polen blickt gespannt auf die anstehenden Bundestagswahlen. Deutschland ist Polens größter Nachbar, der mit Abstand wichtigste Wirtschaftspartner und Heimat von ca. 2 Millionen Menschen mit „polnischem Migrationshintergrund“. Die Interdependenz zwischen den beiden Ländern ist erheblich, nicht zuletzt auch aufgrund der wachsenden industriellen Verflechtung und der gemeinsamen Mitgliedschaft in EU und NATO.

Das Grundgefühl bei der Bewertung der Wahlen und der möglichen Regierungskonstellationen ist Unsicherheit. Man wusste in Warschau (oder meinte zu wissen), was man von einer Kanzlerin Merkel erwarten konnte. Generell wurde Merkel als eine Politikerin mit einem gewissen Grundinteresse an dem östlichen Nachbarland gesehen, eine diskrete Vermittlerin in den Konflikten mit den Brüsseler Institutionen und als jemand, der gegenüber Russland – trotz des Festhaltens an Nord Stream 2 – nicht naiv war. Das Verhältnis zwischen den Hauptstädten Berlin und Warschau in den letzten Jahren war von einer Stimmung der kontrollierten Spannungen gekennzeichnet, in der es beide Seiten aber letztendlich nicht zum großen Knall kommen lassen wollten bzw. konnten. Diese Ära der Berechenbarkeit geht nun zu Ende.

Die Ära der Berechenbarkeit geht nun zu Ende.

Noch im Sommer hatte sich die politisch-mediale Öffentlichkeit, den Umfragewerten entsprechend, weitgehend auf eine schwarz-grüne Regierungskonstellation eingestimmt. Die dabei artikulierten Erwartungen changierten zwischen Hoffnung auf einen partiellen Neuanfang und einer Erwartung geringer Veränderungen. Generell wurde vermutet, dass ein aus Aachen stammender Kanzler Laschet deutlich stärker nach Frankreich blicken würde als seine Vorgängerin. Die Befürchtung einer noch weitergehenden Marginalisierung Polens in der EU war klar zu spüren, auch wenn der national-konservativen Warschauer Regierung ein Kanzler mit CDU- oder CSU-Parteibuch immer lieber sein wird als eine denkbare Alternative. Ziemlich überraschend war allerdings auch ein gewisses Hoffen auf die Grünen zu erkennen: Diese, so die Lesart, seien die mit Abstand Russland-kritischste Partei im deutschen Parteienspektrum und daher ein potentiell positiver Einfluss auf die deutsch-russischen Beziehungen, möglicherweise bis hin zur Nichtinbetriebnahme der Gaspipeline Nord Stream 2.

Erst in den letzten Wochen beginnt man sich auch über andere Regierungskonstellationen Gedanken zu machen. Für die von der nationalkonservativen Partei PiS („Recht und Gerechtigkeit“) geführte Regierung wäre vermutlich Rot-Rot-Grün die unerfreulichste Variante: die Russland-Versteher aus Linken und – so der Verdacht – Teilen der SPD zusammen mit den Klima- und EU-Vertiefungsfanatikern von den Grünen, die das integrationsskeptische Kohleland Polen noch weiter unter Druck setzten würden. Die FDP als möglicher Koalitionspartner bleibt in den polnischen Debatten dagegen weitgehend unterbelichtet. Auch die Figur Olaf Scholz hatte lange – nicht zuletzt aufgrund der Umfragen, die eine SPD-geführte Regierung als sehr unwahrscheinlich erscheinen ließen – kein größeres Interesse hervorgerufen. Wie in vielen anderen Ländern auch war die Medienlandschaft Polens weitgehend auf die Kanzlerin und ihre Partei als „natürliche Regierungspartei“ Deutschlands fokussiert. Scholz ist für die politische Klasse Polens tendenziell ein eher undefiniertes Blatt; ein größeres Interesse an Mittelosteuropa wird ihm aber nicht unbedingt unterstellt.

Wichtig wird aus polnischer Regierungssicht aber immer bleiben, inwieweit der deutsche Nachbar die historische Schuld Deutschlands zumindest symbolisch anerkennt.

Bei der Bewertung jeglicher Regierungskonstellation in Berlin sind aus Sicht der Warschauer Regierung eine Reihe von „Prüfsteinen“ ausschlaggebend, wobei deren relative Bedeutung schwer zu hierarchisieren ist. Welcher davon gerade wichtig ist, hängt stark von innenpolitischen Überlegungen ab: Es zählt zu den Besonderheiten der aktuellen Regierungsmehrheit in Polen, die Außenpolitik in einem verblüffenden Ausmaß innenpolitischen und wahltaktischen Überlegungen unterzuordnen.

Wichtig wird aus polnischer Regierungssicht aber immer bleiben, inwieweit der deutsche Nachbar die historische Schuld Deutschlands zumindest symbolisch anerkennt (dies schließt dann auch größere Sympathien für die AfD aus), die wirtschaftlichen Beziehungen stabilisiert und sich zum Verteidigungsbündnis NATO mit den USA bekennt. Polens aktuelle Regierung möchte nicht von den europäischen Funktionseliten zu einem Kurs einer vertieften EU-Integration gezwungen werden und es erwartet von seinem westlichen Nachbarn ein gewisses Augenmaß bei der Klima- und Umweltpolitik. Polen ist ein nach wie vor enorm von dem Energieträger Kohle abhängiges Land und jeder Umbau der Energieproduktion – deren Unvermeidbarkeit die Mehrheit der aktuellen Regierungsmannschaft durchaus erkannt hat – erfordert viel Geld und Zeit.

Polens aktuelle Regierung möchte nicht von den europäischen Funktionseliten zu einem Kurs einer vertieften EU-Integration gezwungen werden.

In der Außenpolitik erhofft man sich einen harten Kurs gegenüber einem als potentiell gefährlich eingestuften Russland unter Putin. Polen hat wie kein anderes Land Europas im Laufe seiner Geschichte unter deutsch-russischen Absprachen gelitten. Die Sorge, dass sich die beiden großen Nachbarstaaten gegen die Interessen Polens verständigen könnten, spielt – so irrational das aus heutiger deutscher Sicht erscheinen mag – eine reale Rolle im Weltbild der PiS-Führungsspitze und ihres intellektuellen und medialen Umfelds. Erfreulicherweise wird diese Fixierung von anderen politischen Milieus und einer jüngeren Generation immer weniger geteilt – ganz verschwinden wird sie aber wohl so schnell nicht. Dazu sind die Wunden der Vergangenheit aus polnischer Sicht immer noch zu tief.

 

Frankreich

Das näher rückende Datum der Bundestagswahlen gibt auch in Frankreich Anlass zu vielfältigen Rückblicken auf die Ära Merkel. Trotz der oft kolportierten Mentalitätsunterschiede zwischen Macron und Merkel und daraus resultierenden wechselseitigen Irritationen wurde der „mérkelisme“, ihr auf Kompromisse und Interessenausgleich bedachter Politikstil, in Paris geschätzt. Merkel habe mit ihrem Politikstil wesentlich dazu beigetragen, Europa in schwierigen Zeiten zusammen zu halten. In dieser Hinsicht wünscht sich Frankreich vom Post-Merkel-Berlin vor allem Kontinuität. Doch die Bewertung der Merkel-Ära wird kritischer, wenn die aktuellen Herausforderungen – europäische wie deutsche – in den Blick genommen werden. Angesichts der in der Pandemie sichtbar gewordenen Defizite in vielen Politikbereichen und der Renaissance des geopolitischen Wettstreits müsse Europa – und vor allem Deutschland – sich bewegen.

Eine Fortsetzung des „merkélisme“ wird als den Herausforderungen unserer Zeit nicht mehr angemessen gesehen.

Auf der anderen Seite des Rheins wird auch keineswegs mehr nur die politische Stabilität und wirtschaftliche Stärke Deutschlands gesehen. Die Zeit der hohen Wachstumsraten zu Beginn des Millenniums hält man für beendet. Dagegen wird inzwischen häufiger auf den Rückstand bei öffentlichen Investitionen, insbesondere bei der Digitalisierung sowie die mit Blick auf die Klimakrise problematische Wirtschaftsstruktur und die demografischen Herausforderungen hingewiesen. „Hinter dem Wohlstand, die Verletzlichkeit“ – so titelte jüngst ein Kommentar zu Deutschland. Für diese hinter dem Bild der reichen Industrienation durchscheinenden Mängel und Schwächen sei – so eine Studie des Think Tank Terra Nova – die Politik der kleinen Schritte der Merkel-Ära ebenso verantwortlich wie für ein verlorenes Jahrzehnt in Europa. Es wird anerkannt, dass sich Deutschland vor allem mit der Initiative zum EU-Rettungsfonds und der Zustimmung zur gemeinsamen Schuldenaufnahme bereits ein wenig bewegt habe. Doch in Frankreich erwartet man von Berlin zukünftig mehr Flexibilität, mehr Risikobereitschaft, mehr Reformelan – insgesamt eine wagemutigere Politik. Eine Fortsetzung des „merkélisme“ wird als den Herausforderungen unserer Zeit nicht mehr angemessen gesehen.

Ungeachtet der in den letzten Wochen komplett veränderten Prognosen für die Bundestagswahl bestehen Zweifel, ob mit einer neuen Bundesregierung ohne Merkel auch der „merkélisme“ in Deutschland überwunden wird. Enttäuscht und irritiert wird das eher bescheidene, „provinzielle“ Niveau der Wahlkampfdebatten registriert, die der Dinglichkeit und Dimension der Herausforderungen nicht angemessen sei. Zudem wird mit Sorge wahrgenommen, dass sich das parlamentarische System Deutschlands, das bislang für eine ausgewogene Machtverteilung sorgte, nunmehr als unfähig erweisen könnte, stabile Mehrheitsverhältnisse zu produzieren. Dass es zukünftig nicht mehr nur zweier, sondern dreier Parteien bedarf, um eine neue Regierungskoalition zu bilden, wird als Faktor der Instabilität gesehen. Mit Beunruhigung sieht man in Frankreich der Wahrscheinlichkeit schwieriger und sich lange hinziehender Koalitionsverhandlungen entgegen. Auch wird befürchtet, dass am Ende dieser Verhandlungen letzten Endes ein Regierungsprogramm stehen könnte, das eher den Status quo privilegiert und zu Immobilität gegenüber den großen – nicht zuletzt auch europäischen – Aufgaben führt, anstatt die für notwendig erachtete Reformdynamik zu entfachen. Und wie kompromissbereit wird eine deutsche Regierung auf europäischer Ebene noch sein, die schon aufgrund der internen Interessenabwägung zu unzähligen Konzessionen gezwungen sein wird?

Wie kompromissbereit wird eine deutsche Regierung auf europäischer Ebene noch sein, die schon aufgrund der internen Interessenabwägung zu unzähligen Konzessionen gezwungen sein wird?

Was nun die Zusammensetzung der neuen Bundesregierung anbelangt, so sind die Sympathien in Paris je nach Politikbereich verschieden verteilt. Geht es um die Außen- und Sicherheitspolitik kann Frankreich gut mit einer konservativ und liberal geprägten Regierung leben. Das Bekenntnis von CDU/CSU und FDP zu einer Erhöhung des Verteidigungshaushalts und zu bewaffneten Drohnen wird in Paris gerne vernommen. Umgekehrt provoziert die Betonung auf atomare Abrüstung und striktere Rüstungsexportkontrollen durch SPD und Grüne eher Stirnrunzeln. Anders sieht es bei der Wirtschafts- und Finanzpolitik aus. Paris drängt auf die Revision der Fiskalregeln der EU und auf die Schaffung eines gemeinsamen Stabilitäts- und Investitionshaushaltes. Während Union und Liberale als Hüter einer obsolet gewordenen fiskalischen Orthodoxie gelten, erhofft man sich von SPD und Grünen mehr Flexibilität und Konzessionsbereitschaft. Man übt sich in Zuversicht, auch wenn die zurückhaltenden Äußerungen von Olaf Scholz anlässlich seines jüngsten Besuches bei Macron nicht ganz den Erwartungen an eine wagemutigere deutsche Politik entsprochen haben.

 

Ukraine

Lange Zeit sah es im Rennen um die Bundestagswahl nach einer grün-schwarzen oder schwarz-grünen Liaison aus. Und die ukrainische Politik machte auch keinen Hehl daraus, dass diese Konstellation die wohl wünschenswerteste wäre. Dies mag am intensiven Engagement Angela Merkels um die Lösung des Kriegs im Osten der Ukraine sowie an ihrer hohen Popularität in der Ukraine liegen. Merkels Beliebtheitswerte erlitten zuletzt jedoch durch das Beharren auf der Ostseepipeline Nord Stream 2 einen spürbaren Dämpfer. So begrüßte kein einziger politischer Vertreter der Ukraine die Bundeskanzlerin zu ihrem Abschiedsbesuch am Kiewer Flughafen.

Vor allem aber ist es in der traditionell starken Präsenz grüner Politikerinnen in der Ukraine und deren klar russlandkritischer Haltung begründet. Bemerkenswert war in diesem Zusammenhang der Besuch Robert Habecks im Mai und seine Forderung nach Waffenlieferungen an die Ukraine. Der Tiger endete hierbei jedoch binnen kürzester Zeit als Bettvorleger. Unter dem Eindruck dessen, was er im Osten der Ukraine gesehen hatte, erklärte Habeck im Deutschlandfunk: „Waffen zur Verteidigung, zur Selbstverteidigung, kann man meiner Ansicht nach, Defensivwaffen, der Ukraine kaum verwehren“. In Kiew frohlockte man angesichts dieser unerwarteten Offenheit eines deutschen Politikers. Prompt folgte das Rückrudern: Kanzlerkandidatin Baerbock präzisierte, es ginge „um Munitionsräumung, um die Bergung von verwundeten Personen, Zivilisten, mit gepanzerten Fahrzeugen und auch um die Frage der Unterstützung der OSZE-Mission“. An der grünen Basis herrschte Verwunderung. Parteiinterne Kritik kam etwa von Jürgen Trittin, der an die urgrüne Position erinnerte, dass keine Waffen in Krisengebiete geliefert werden dürften. Und so nahm Habeck eine Kurskorrektur vor: Aus Defensivwaffen – die er bislang ebenso wenig definieren konnte wie militärische Fachleute – wurden „Nachtsichtgeräte, Aufklärungsgeräte, Kampfmittelbeseitigung, MedEvacs“. Das klang wiederum weniger nach der Kiewer Wunschliste, die von Luftabwehrgeschützen und Küstenverteidigung bis hin zu U-Booten reicht.

Die ukrainische Politik machte keinen Hehl daraus, dass eine Liaison von Grün und Schwarz für sie die wünschenswerteste wäre.

Präsident Selenskyj war durch den Besuch offenbar so beeindruckt, dass er in einem Interview mit der russischen Zeitung Nowaja Gaseta ganz offen seine Sympathien mit einem grünen Wahlsieg bekundete: Das Staatsoberhaupt der Ukraine Selenskyj und die stärkste Partei in Deutschland die Grünen – auf Ukrainisch „Selenyj“ – seien anscheinend wie füreinander gemacht. „Soweit ich deren Kandidaten kenne, ist er ein guter Mann“, betonte Selenskyj. Offenbar war man sich im Präsidialbüro nicht bewusst, dass Robert Habeck gar nicht der Spitzenkandidat der Grünen ist.

Auch bei der CDU zeigte man sich vorbereitet: Unmittelbar nach Armin Laschets Wahl zum CDU-Vorsitzenden kam es zu einem Telefongespräch mit Selenskyj, auf das ein persönliches Treffen in Berlin folgte. Kiews Bürgermeister Vitalij Klitschko reiste zu einer CDU-Wahlkampfveranstaltung nach Hannover. Angesichts der Umfragen, die zu diesem Zeitpunkt auf die Möglichkeit einer krachenden Niederlage Laschets verwiesen, wurden erstmals deutliche Bedenken aus der ukrainischen Politik laut. Man habe nichts aus den Fehlern der US-Präsidentschaftswahl 2016 gelernt, als man offen Hillary Clinton unterstützte und danach lange Probleme hatte, einen Draht zur Trump-Administration aufzubauen. Die Ukraine solle sich daher besser aus den Wahlkämpfen anderer Länder heraushalten.

Die Ukraine habe nichts aus den Fehlern der US-Präsidentschaftswahl 2016 gelernt, als man offen Hillary Clinton unterstützte und danach lange Probleme hatte, einen Draht zur Trump-Administration aufzubauen.

Die SPD hatte man eigentlich längst abgeschrieben. Zu schlecht die Umfragewerte, zu groß die Enttäuschung über den ehemaligen Kanzler Gerhard Schröder, dessen Name in der Ukraine auf ewig mit Nord Stream 2 und der russischen Politik verbunden sein wird. Ein möglicher Kanzler Scholz würde es nicht leicht haben in der Ukraine: Zur Verstimmung wegen Nord Stream 2 kommt die Enttäuschung über ausbleibende militärische Unterstützung und die in der Ukraine oft als einseitig wahrgenommene Sympathie zahlreicher SPD-Politiker gegenüber Russland. Ganz zu schweigen von einer möglichen Koalition mit der Linken. Die Tatsache, dass Vertreterinnen der Linkspartei bisweilen ohne Absprache mit Kiew auf der Krim oder in den Separatistengebieten im Osten der Ukraine empfangen werden, stößt bei der ukrainischen Regierung auf große Irritation.

Die Aufgaben der neuen Bundesregierung in der Ukraine-Politik sind dabei dringender denn je: Mit dem Abtritt Angela Merkels verbleibt Wladimir Putin als letzter der vier Unterzeichner der Minsker Abkommen über den Konflikt in der Ostukraine im Amt. Das Normandie-Format stockt und wird offen infrage gestellt. Unterdessen nehmen die Gefechte im Osten der Ukraine wieder zu.