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Letzte Woche nahm ich an einem öffentlichen Zoom-Meeting mit führenden Tory- Abgeordneten teil, die beschlossen hatten, China gegenüber andere Saiten aufzuziehen. Noch letztes Jahr lautete die Standardmeinung der britischen Konservativen über China so: „China ist ein Markt, und aus dem sollte man das Maximum herausholen“. Erst als klar wurde, dass sich Großbritannien allzu sehr von Huaweis 5G-Technologie abhängig gemacht hatte, begann man, in sich zu gehen. 2020 haben der Ausbruch von Covid-19, die offen ausgetragene Systemrivalität zwischen China und den Vereinigten Staaten sowie die Hongkong-Krise die Nachdenklichkeit noch verstärkt.

Fast alle Teilnehmenden der Zoom-Runde waren der Meinung, dass das US-Außenministerium Recht hatte, als es Peking am 20. Mai vorwarf, seine Zusagen in ganz vielen Bereichen nicht einzuhalten - „Handel und Investitionen, freie Meinungsäußerung und Glaubensfreiheit, politische Einflussnahme, Freiheit der Schifffahrt und Überflugrechte, Cyberspionage und andere Formen der Cyberkriminalität, Weiterverbreitung von Waffen, Umweltschutz und Weltgesundheit“. Die Frage ist nur, was man dagegen unternehmen soll — zumal im Technologiebereich. 

Chinas verfolgt erklärtermaßen die Strategie, „technologisch souverän“ zu werden. Als Reaktion formulierte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in diesem Jahr das ambitionierte Ziel, Europa solle dasselbe tun. Die USA sind dank Silicon Valley und ihrer weltbesten Rüstungsforschung und –entwicklung natürlich schon jetzt technologisch souverän.

Als ich die versammelten britischen China-Falken fragte, wie Großbritannien angesichts der gefühlten chinesischen Bedrohung eigentlich technologisch souverän werden soll, erntete ich allerdings eisernes Schweigen (konnte aber dank Zoom sehen, dass meine Gesprächspartner die Frage durchaus richtig verstanden hatten).

Der Gedanke, Großbritannien könnte nach dem Brexit aus eigener Kraft technologisch souverän werden, ist so abwegig, dass kein Tory-Abgeordneter sich dazu äußern möchte.

Das Zoom-Gespräch war bezeichnend für Großbritanniens Dilemma. Das Land hat beschlossen, die Europäische Union zu verlassen und im Alleingang eine Welthandelsordnung auf die Beine zu stellen, die nur auf den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) aufbaut. Seither hat die geopolitische Ordnung sich jedoch gewandelt.

Die USA hat sich einer Art neoliberalem Nationalismus verschrieben, den ich in meinem Buch Clear Bright Future in ironischer Anspielung auf Josef Stalin als „Thatcherismus in einem Land“ bezeichnet habe. China ist dabei, sich aus seiner selbstgeschneiderten regionalen Zwangsjacke zu befreien, und auf dem besten Weg, eine globale Supermacht zu werden. Europas politische Eliten haben mittlerweile — zumindest rhetorisch — erkannt, dass die EU als Reaktion darauf ihre eigene Souveränität stärken muss (auch wenn es auf dem Weg dorthin hohe innere Barrieren zu überwinden gilt). Diese ganzen Entwicklungen haben sich im Zuge der Pandemie verschärft und werden sich in dem Abschwung, der folgen wird, noch weiter verschärfen.

Damit sitzt Großbritannien in der Zwickmühle. Gegenüber der EU können die Briten – beim Handel, bei den Lebensmittelstandards und der Technologieregulierung – Handlungsspielräume nur gewinnen, sofern sie sich in Sachen Souveränität den USA unterordnen. Der Gedanke, Großbritannien könnte nach dem Brexit aus eigener Kraft technologisch souverän werden, ist so abwegig, dass kein Tory-Abgeordneter sich dazu äußern möchte.

Die entscheidende Herausforderung besteht allerdings nicht darin, Facebook und Amazon Konkurrenz zu machen, sondern im Kampf gegen diese Tech-Riesen zur „Datensouveränität“ zu gelangen.

Europa hingegen könnte es schaffen. Die Datenschutz-Grundverordnung war ein erster Schritt. Ein nächster Schritt ist das Projekt Gaia-X, das Paris und Berlin im vergangenen Jahr aus der Taufe hoben und das den Aufbau eines „föderierten“ Physical-Computing-Netzwerks mit speziellen europäischen Sicherheitsstandards vorsieht.

Abgesehen davon, bleibt Europas Weg zur technologischen Souveränität zunächst eine Hoffnung. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron konkretisierte vor einiger Zeit, was technologische Souveränität für sein Land bedeutet. „Wenn wir nicht in allen Bereichen – im digitalen Bereich, bei der Künstlichen Intelligenz — unsere eigenen Champions aufbauen“, erklärte er in einem Rundfunkinterview, „werden andere uns unsere Entscheidungen diktieren.“

Frankreich steckt 5,5 Milliarden Euro in einen Fonds, der Start-ups auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz (KI) fördert. Die entscheidende Herausforderung besteht allerdings nicht darin, Facebook und Amazon Konkurrenz zu machen, sondern im Kampf gegen diese Tech-Riesen zur „Datensouveränität“ zu gelangen.

Seit 20 Jahren steigern die amerikanischen Tech-Giganten ihre Profite und Börsenwerte, indem sie die Verhaltensdaten von Millionen Menschen sammeln, die ihre Software nutzen. Dass unser Smartphone schon vorher weiß, was wir eintippen wollen, liegt bekanntlich daran, dass der Smartphone-Hersteller auf das Eingetippte von Millionen anderen Menschen zugreifen kann.

Im Wettlauf um die Entwicklung der kommerzialisierten KI ist der Zugriff auf die Verhaltensdaten identifizierbarer Personen Gold wert. Ein Manager formulierte das mir gegenüber so: „Wenn ich die anonymisierten Daten von 15 Millionen Krankenhauspatienten verarbeiten kann, kann ich Muster beim Ausbruch von Lebererkrankungen vorhersagen. Wenn ich Zugriff auf das Identifikationsregister bekomme, kann ich vorhersagen, woran Paul Mason erkranken wird, und die Krankheit abmildern.“

Die US-Technologiebranche weiß genau, wo die Schwachpunkte bei der praktischen Umsetzung der europäischen Vorschriften liegen. Sie holt bereits zum Gegenschlag aus.

Schon die Forderung nach Zugriff auf das ID-Register verträgt sich nicht mit den Rechten, die die DSGVO den Bürgerinnen und Bürgern zusichert — daher die allgemeinen Verzichtserklärungen, mit denen wir uns einverstanden erklären müssen, wenn wir die Basistechnologien auf unseren Smartphones nutzen wollen.

Die europäische Antwort wird am ausführlichsten in einem Gutachten dargelegt, das Cédric Villani für die französische Regierung erstellt hat, und sieht so aus, dass anonymisierte Nutzerdaten in einem Datenpool zusammengeführt und aus den Fängen amerikanischer Tech-Unternehmen befreit werden, indem man sie als „Gemeingut“ einstuft. Das Problem: Während die Regierungen in Europa nationale Champions benennen, Geld verteilen und industriepolitische Strategien für das eigene Land vorschlagen können, steht die EU vor vielen strukturellen Hindernissen, wenn sie es ihnen gleichtun will.

Die US-Technologiebranche weiß genau, wo die Schwachpunkte bei der praktischen Umsetzung der europäischen Vorschriften liegen, und holt bereits zum Gegenschlag aus. In einem Bericht für den europäischen Thinktank ECIPE, der sich für eine freie Marktwirtschaft starkmacht und mit den rechten Falken in den USA auf einer Wellenlänge liegt, skizzieren Matthias Bauer und Fredrik Erixon eine Teile-und-Herrsche-Strategie.

Jeder Versuch, technologische Souveränität in Konkurrenz zu den USA zu erlangen, so heißt es in dem Bericht, werde den kleinen Ländern in Osteuropa und Skandinavien schaden. Man solle lieber versuchen, mit Amerika ein „gemeinsames“ Konzept zu entwickeln, denn Europa sei trotz seiner 450 Millionen Einwohner nicht groß genug, um zum Innovationsführer oder wirklich autonom zu werden.

Das Problem liegt – wie immer in der EU – darin, dass die Wirklichkeit sich schneller weiterentwickelt als das Denken und die Politik.

Wenn die EU vorankommen will, braucht sie eine politische Diskussion darüber, was technologische Souveränität heißt. Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager sieht diese Souveränität als Garant dafür, dass die EU wirksam regulieren kann und „wir die Kontrolle über unser Handeln [...] und damit unsere Regulierungshoheit behalten.“

Macron sieht das Ziel darin, in der EU eigene Technologie-Champions aufzubauen und Google, Apple, Amazon und ihresgleichen auf dem Weg in die Welt von Künstlicher Intelligenz, Biotechnologie, Digitalwährung etc. Konkurrenz zu machen. Dafür sind wettbewerbsrechtliche Veränderungen nötig, damit Staaten (und die EU selbst) große Unternehmen fördern dürfen und – wie Macrons Staatssekretär für Digitales, Cédric O, durchblicken ließ – die von den USA aus agierenden Tech-Giganten entflechten können.

Für Ursula von der Leyen geht es eher darum, die europäische Kultur, ihre Werte und die „Souveränität des Einzelnen“ zu schützen und zu gewährleisten, dass „die Menschen volle Kontrolle über ihre eigenen Daten haben“. Die linken Kräfte fassen Souveränität — mit Initiativen wie dem in Barcelona angesiedelten Projekt DECODE.eu — konkreter und verstehen sie tendenziell als individuelle Souveränität für Städte und Bürger.

Das Problem liegt – wie immer in der EU – darin, dass die Wirklichkeit sich schneller weiterentwickelt als das Denken und die Politik.

Chinas Vorstellung von technologischer Souveränität ergab sich daraus, dass die Chinesen fest entschlossen waren, im Zuge der eigenen wirtschaftlichen Entwicklung ihren digitalen Raum nicht vom „militärisch-industriellen Komplex“ der USA kolonisieren zu lassen. Als das Internet aufkam, sah China die Notwendigkeit, seine massiv unterdrückte Gesellschaft gegen Informationen von außen abzuschotten. Dafür errichtete das Land eine Firewall aus Standards und wettbewerbspolitischen Maßnahmen, hinter der es seine eigenen nationalen Champions Baidu, Alibaba, Tencent und Xiaomi aufbauen konnte, die gern unter dem Akronym „BATX“ zusammengefasst werden.

Mittlerweile hat China vom Verteidigungs- auf den Angriffsmodus umgeschaltet und nutzt seine Technologien — wie zum Beispiel das von Huawei entwickelte 5G — als sanfte Macht, um westliche Staaten und zahlreiche Entwicklungsländer in eine Position der Abhängigkeit zu bringen.

Wenn Europa technologisch souverän werden will, während China und die USA erbittert um die strategische Vorherrschaft ringen, muss es den Blickwinkel ändern. Es geht nicht um eine wirtschaftliche, sondern um eine geopolitische und moralische Herausforderung.

Wenn Europa technologisch souverän werden will, während China und die USA erbittert um die strategische Vorherrschaft ringen, muss es das Thema aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Europas Schwierigkeiten beschränken sich schließlich nicht darauf, dass die eigene Technologiebranche keine führenden Global Player hervorzubringen vermag, seine Bürgerinnen und Bürger einseitig von US-Konzernen ausgenutzt werden und die europäische Regulierungspraxis nicht richtig funktioniert.

Das neue „Spiel“ ist die Schaffung kontinentweiter Räume, in denen Technologien so funktionieren, wie es den sozialen Werten mächtiger Eliten entspricht. Zu den Schwergewichten des US-Aktienmarktes zählen Unternehmen, die mit Technologien leistungslose Gewinne erzielen wollen, und die chinesische High-Tech-Industrie ist davon geprägt, dass sie eine entscheidende Rolle bei der Unterdrückung der Meinungsfreiheit und bei der Verhaltenskontrolle und Bevölkerungsüberwachung spielt.

Europa muss bei diesem globalen Spiel mit von der Partie sein — aber mit einem eigenen Konzept von technologischer Souveränität, das auf den Werten, Rechten und Freiheiten seiner Bevölkerung aufbaut. Es geht also nicht um eine wirtschaftliche, sondern um eine geopolitische und moralische Herausforderung.

Für die britischen Bürgerinnen und Bürger heißt das: Wenn sie ihre Informationsfreiheiten verteidigen wollen, werden sie auch nach dem Brexit stärker auf Brüssel als auf Westminster angewiesen sein.

Großbritannien nimmt an dem Spiel gar nicht erst teil. Das katastrophale Versagen seiner selbstgestrickten Corona-Tracing-App und die anschließende Enthüllung, dass die Briten in eine unerprobte Satellitentechnologie investiert hatten, um das GPS-System Galileo zu kopieren, vermitteln einen kleinen Vorgeschmack auf die Zukunft.

Für die britischen Bürgerinnen und Bürger heißt das: Wenn sie ihre Informationsfreiheiten verteidigen wollen, werden sie auch nach dem Brexit stärker auf Brüssel als auf Westminster angewiesen sein. Die Standards, die Europa festlegt, und die Champions, die von Berlin und Paris gefördert werden, dürften sich stärker auf mein Leben nach dem Brexit auswirken als alles, was Premierminister Boris Johnson sagt oder tut — denn bei dieser Lage der Dinge hat Großbritannien ausgesprochen wenig Handlungsspielraum.

Doch beim Brexit ging es eigentlich nie um britische „Souveränität“ — sondern um Fantastereien von Regelungsfreiheit und einem neomerkantilistischen Imperium in einer Welt, die es inzwischen gar nicht mehr gibt.

Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld