Das Interview führte Anja Wehler-Schöck.

Dass sich Viktor Orbán bei den Wahlen am Sonntag eine fünfte Amtszeit als Ungarns Ministerpräsident sichern könnte, hatten viele befürchtet. Dass er nun sogar eine Rekordmehrheit erringen konnte, kam für die meisten als Schock. Warum hat die vereinigte Opposition nicht besser abgeschnitten?

Die Tatsache, dass es in Ungarn vorher noch nie zuvor ein Sechs-Parteien-Bündnis gegeben hatte, hatte viele Menschen optimistisch gestimmt, dass die Opposition die Wahl 2022 vielleicht doch gewinnen könnte. Die Zersplitterung der Opposition war bei den drei vorangegangenen Wahlen ein wichtiger Faktor für Orbáns Wahlsiege gewesen.

Aber natürlich gab es vieles, was die Opposition diesmal hätte besser machen können. Erstens hätten sie sich von mehr toxischen Politikern aus der Vergangenheit trennen müssen, insbesondere vom ehemaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány. Damit hätten sie vielleicht mehr Wähler für sich gewinnen können. Auch der Kandidat der Opposition, Péter Márki-Zay, hat einige Fehler gemacht. Er verschwendete Zeit mit internen Streitigkeiten – vor allem, als der Krieg kam.

In Anbetracht des tatsächlichen Wahlergebnisses erscheint es nun jedoch als sehr gewagte These, dass die Opposition überhaupt hätte gewinnen können. Es ist nun wichtig, die strukturellen Gründe zu analysieren, warum ein echter Sieg der Opposition im politischen System Ungarns quasi grundsätzlich ausgeschlossen ist. Die Feuerkraft war zwischen den beiden Seiten einfach zu ungleich verteilt. Einige Wahlexperten sagen, dass Orbáns Partei Fidesz achtmal mehr Geld ausgegeben hat als die Opposition. Bei einer solchen Konzentration der Mittel auf einer Seite kann man kaum von Chancengleichheit und fairem Wettbewerb sprechen.

Orbán hat auch Änderungen am Wahlsystem vorgenommen mit dem Ziel, sich und seiner Partei die Macht zu sichern.

Ja, diese Änderungen fanden 2011 statt. Über das weitreichende Gerrymandering, den strategischen Zuschnitt der Wahlkreise, wurde viel berichtet. Weniger bekannt ist die Rolle, die die Unterdrückung von Wählern spielt. Eine Gruppe, die davon stark betroffen ist, sind Ungarn, die im Ausland leben. Sie haben kein Recht auf Briefwahl, sondern müssen ihre Stimme persönlich in einer Botschaft oder einem Konsulat abgeben. Das macht es für viele schwer oder unmöglich, zu wählen. Dies gilt jedoch nicht für die ungarische Minderheit in Transsilvanien, die per Briefwahl abstimmen darf. Es handelt sich um eine politisch motivierte Unterscheidung: Die ethnischen Ungarn in den Nachbarländern sind tendenziell eher in Orbáns Lager, während ungarische Expats im Westen oft kritisch gegen ihn eingestellt sind.

Ein drittes Beispiel ist der völlig ungleiche Zugang zu den staatlichen Medien. In den letzten vier Jahren bekam die Opposition fünf Minuten im staatlichen Fernsehen, um sich zu äußern, während Orbán und seine Fidesz-Partei praktisch nonstop auf Sendung sind. Es gibt keine Debatte zwischen den verschiedenen Kandidaten. Die Regierungspartei kann über die Opposition sagen, was sie will, und Millionen von Zuschauern werden keinen Grund haben, daran zu zweifeln, denn es ist die einzige Version, die sie zu hören bekommen.

Wie kann sich die Opposition in Zukunft stärker aufstellen?

Meiner Meinung nach gibt es drei zentrale Aspekte. Erstens: Einigkeit ist essenziell. Das ungarische politische System ist sehr weit vom Verhältniswahlrecht entfernt. Wenn man den massiven Fidesz-Block auf der einen Seite hat, braucht man einen starken Oppositionsblock auf der anderen Seite. Zweitens ist die Frage des Personals wichtig, insbesondere der Spitzenkandidaten. Die Wähler honorieren frische, jüngere Persönlichkeiten. Und sie wollen auch mehr Frauen sehen – die ungarische Politik ist immer noch extrem männerdominiert, vor allem auf der konservativen Seite.

Drittens: die Inhalte. Die Opposition muss ein Programm erstellen, das die Mehrheit der Wählerschaft anspricht. Sie ist immer noch mitte-links. Bei Márki-Zay, den ich als modernen Konservativen bezeichnen würde, gab es eine Diskrepanz zwischen seinen neoliberalen Überzeugungen und den Erwartungen der Mehrheit der oppositionellen Wählerschaft, die sich an sozialdemokratischen Werten orientiert.

Wie hat sich der Ukraine-Krieg auf die Wahlen ausgewirkt?

Der Krieg hat die Wahlkampfplanung auf beiden Seiten über den Haufen geworfen. Orbán ist seit vielen Jahren ein enger Verbündeter Putins. Das hängt zum einen mit den umfangreichen Importen von russischem Gas und Öl zusammen. Zum anderen hat es aber auch mit der Ideologie zu tun: die „Ostöffnung“ und die „Vorzüge der östlichen Zivilisation“ im Gegensatz zu den westlichen Werten sind Teil eines Narrativs, das Orbán und seine Berater gerne bespielen.

Nach Ausbruch des Krieges versuchte die Opposition, die engen Beziehungen zwischen Orbán und Putin sowie Orbáns Widerstand gegen eine Unterstützung der Ukraine anzuprangern. Ohne Erfolg. Orbán behielt die Oberhand. Er erklärte, dass dieser Konflikt nicht der unsrige sei und Ungarn sich nicht einmischen solle. Die Fidesz begann sogar, die Opposition der Kriegstreiberei zu beschuldigen und warf ihr vor, Ungarn in diesen Krieg hineinzuziehen. Oppositionskandidat Márki-Zay hatte keine Chance, sich gegen diese und andere konstruierte Anschuldigungen zu wehren.

Gab es Anzeichen für russische Einmischung in die Wahl?

Zunächst einmal muss man sich fragen, was russische Einmischung ist. Als Orbán im Februar Putin besuchte, erwähnte Putin bei einer Pressekonferenz, dass er Ungarn Gas zum Vorzugspreis verkaufe. In gewisser Weise kann dies als Einmischung in den ungarischen Wahlkampf betrachtet werden. Denn der Gaspreis zählt in Ungarn seit 20 Jahren zu den wichtigsten Themen. Viele Haushalte heizen mit Gas und der Preis ist für die Bevölkerung ein äußerst sensibler Punkt. Die Frage, ob der Gaspreis reguliert werden sollte oder nicht, steht schon seit langem im Zentrum der innenpolitischen Debatte. Die Botschaft der Moskauer Pressekonferenz an die ungarische Öffentlichkeit lautete daher: Wenn wir an Putin festhalten, dann werden wir weiterhin Gas zum Freundschaftspreis erhalten.

In seiner Siegesrede am Sonntag nannte Orbán den ukrainischen Präsidenten Selenskij einen „Gegner“. Nun bietet er einige Tage später an, als Vermittler zwischen Russland und der Ukraine zu fungieren.

Orbán hat sich so deutlich für Putin ausgesprochen, dass die Ukraine ihn niemals als neutrale Instanz akzeptieren würde. Er hat sich bereit erklärt, für russische Öl- und Gasimporte in Rubel zu zahlen, was alle anderen in der EU abgelehnt haben. Zwischen der ukrainischen und der ungarischen Regierung hat es so viele verbale Auseinandersetzungen gegeben, dass es keine große Überraschung war, als Orbán Selenskij am Sonntag zu seinen Widersachern zählte. In den letzten Jahren hat die Fidesz auch immer wieder die angebliche kulturelle Diskriminierung angeprangert, die ethnische Ungarn in der Ukraine erleiden würden. Es ist sehr zu bezweifeln, dass sich die Beziehungen auf absehbare Zeit verbessern.

Zusammen mit der Wahl wurde am Sonntag in Ungarn auch ein Referendum zu LGBTI-Themen abgehalten. Wie hat dies die Wahl beeinflusst?

Orbán hat versucht, die pawlowschen Reflexe seiner Wählerschaft auszulösen. Während die Mehrheit der ungarischen Bevölkerung tolerant ist, versucht die Fidesz über LGBTI-Fragen die Gesellschaft zu spalten und den wertkonservativen Block zusammenzuhalten. Vor diesem Hintergrund und angesichts der Kontroverse über den Krieg wirkte die Wahl wie ein Referendum über die grundlegenden Werte des Landes. Das macht es für die Wählerschaft schwieriger, ihre Stimme dafür zu nutzen, die Leistung der Regierung zu bewerten. Schon bei früheren Wahlen hat es Orbán verstanden, imaginäre Risiken zu beschwören. Im Jahr 2018 war es die „Flut von Migranten“, die Ungarn bevorstehe. Nun war es die Opposition, die ungarische Jungen zum Sterben in die Ukraine schicken und in Schulen für Geschlechtsumwandlungen werben wolle.

Gegenstand des Referendums war ein Gesetz, das sogenannte „Werbung“ für Homosexualität und Transsexualität verbieten sollte, insbesondere wenn es um Kinder und Jugendliche geht. Damit wäre jede Art von pädagogischer Arbeit auf diesem Gebiet verhindert worden. Die Wähler konnten bei diesem Referendum nicht einfach für oder gegen das Gesetz stimmen. Auf dem Stimmzettel standen stattdessen eine ganze Reihe von suggestiven Fragen. Trotz seines Wahlsiegs gelang es Orbán jedoch nicht, das Referendum für sich zu entscheiden.

Wie geht es mit Ungarn nun weiter? Werden wir einen „entfesselten Orbán“ erleben?

Nach jedem Sieg ist er kühner geworden. 2018 nach seiner dritten Wahl hat er im Grunde einen Kulturkrieg begonnen. Die Akademie der Wissenschaften, die Universitäten, die Theater, alle Bereiche der ungarischen Kultur und Wissenschaft wurden von dieser Welle erfasst. Was ist übriggeblieben? Nicht viel. Aber er kann noch weitergehen, indem er die Mitte-links-Bewegung und die Opposition im Allgemeinen aus den Kommunalverwaltungen, beispielsweise in Budapest, verdrängt.

Fidesz hat die Pandemie genutzt, um per Dekret zu regieren und die von der Opposition kontrollierten Kommunen zu schwächen. Sie wurden auch finanziell in die Knie gezwungen. Orbán gibt sehr viel Geld aus, zum Beispiel für den Rentenbonus und für die Steuersenkungen für junge Leute, die er seinen Wählern versprochen hat. Ohne Zweifel wird es zu Budgetkürzungen kommen. Wir haben schon mehrfach erlebt, wie er den Haushalt auf Kosten des politischen Gegners konsolidiert hat.

Es wird auch weitere Versuche der politischen Rache an der Opposition geben. In den letzten Jahren haben wir verschiedene Muster beobachtet, zum Beispiel den Einsatz staatlicher Medien für Rufmordkampagnen gegen bestimmte Personen. Viele Menschen, die früher in der Opposition tätig waren, haben das Land verlassen. Sie wurden von ihren Arbeitsplätzen verdrängt und ihnen wurde das Leben schwer gemacht.

Am Mittwoch gab die EU-Kommission bekannt, dass sie nun zur zweiten Stufe des Rechtsstaatlichkeitsmechanismus übergehen wird. Sie informierte die ungarische Regierung über die Verstöße gegen die EU-Standards und wies auf die möglichen finanziellen Konsequenzen hin. Wie hat Orbán darauf reagiert? Welche Auswirkungen wird seine Wiederwahl auf die EU haben?

Natürlich wird Orbán diese Entscheidung politisch einfärben – als Angriff Brüssels auf die ungarische Demokratie. Er wird ihre materielle und rechtliche Grundlage nicht anerkennen. Vor ein paar Jahren hätte ein solcher Schritt vielleicht noch etwas bewirken können. Jetzt müssen die Staats- und Regierungschefs der EU besonders einig und entschieden auftreten, um die weitere Vereinnahmung von Macht und Vermögen in Ungarn zu verhindern.

Mit dem Rechtsstaatlichkeitsmechanismus kommt ein neues, unerprobtes Instrument zum Einsatz. Viel wird von den verantwortlichen Personen abhängen, insbesondere von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Haushaltskommissar Johannes Hahn und auch von Vera Jourova, der Kommissarin für Werte und Transparenz.

Die EU muss das Ergebnis dieser Wahl als eindeutigen Beweis dafür nehmen, dass Ungarn schon vor einiger Zeit aufgehört hat, eine Demokratie zu sein. Wann der genaue Wendepunkt war, ist eine Frage für die Wissenschaftler. Für manche kann schon seit 2011 keine Rede von Rechtsstaatlichkeit mehr sein, für andere erst später, oder sie sehen eine schrittweise Entwicklung. Auf jeden Fall ist es offensichtlich, dass es in Ungarn keine Kontrolle mehr über die Exekutive gibt. Es ist die Exekutive, die diejenigen Institutionen kontrolliert, deren Aufgabe es eigentlich wäre, die Exekutive zu kontrollieren. Es gibt also keine Rechtsstaatlichkeit und keine Demokratie mehr.

Die Europäische Kommission hat sich äußerst taktisch verhalten. Ich denke, sie erkennt jetzt das enorme Risiko, das damit verbunden ist – insbesondere für den inneren Zusammenhalt der Europäischen Union. Dieses Versagen bei der Aufrechterhaltung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit fällt der EU intern immer wieder als spaltender Faktor auf die Füße. Es betrifft aber auch die Glaubwürdigkeit der EU nach außen. Etwa wenn es um den Beitrittsprozess der westlichen Balkanländer geht oder wenn man Ländern wie der Ukraine eine Integrationsperspektive bieten will. Verzeichnen EU-Mitgliedsstaaten einen derartigen Rückgang von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, wird es sehr schwierig, die zentrale Bedeutung dieser Standards nach außen hin zu verkaufen.

Würde Orbán jemals einen Austritt aus der EU in Betracht ziehen?

Nein. Wenn das sein Ziel wäre, hätte er es längst gemacht. Er hatte alle Möglichkeiten dazu. Aus seiner Sicht ist Ungarn in der besten Lage. Wir sind in der EU, wir sind in der NATO. Gleichzeitig sind wir in der Lage, „pragmatisch“ mit Russland und China zusammenzuarbeiten. Und wenn „pragmatisch“ dabei gleichbedeutend mit „prinzipienlos“ ist, dann ist das für Orbán vollkommen in Ordnung. Sein Ziel ist es, Macht anzuhäufen. Und um das zu erreichen, wird er wahrscheinlich noch weiter gehen, als wir es bislang erlebt haben.