Die EU und die USA haben es vorgemacht. Mit knackigen Mottos haben sie ihren mehr oder weniger engen Staatenbund umschrieben: „in Vielfalt geeint“, so die Europäer – „e pluribus unum“ (aus vielen eines), so die Amerikaner in klassischem Latein. Da dürfte das Vereinigte Königreich nicht nachstehen, vor allem nicht unter der Führung des altphilologisch vorgeprägten Drei-Wort-Spezialisten Boris Johnson.

Wer mit „Take back control“ und „Get Brexit done“ reüssierte, dürfte doch eigentlich in der Lage sein, dem eigenen Land einen frohgemuten Wahlspruch zu verpassen. Aber das war vor den Regional- und Kommunalwahlen am 6. Mai 2021. Denn danach passt eigentlich nur noch das wenig attraktive Label „United in Division“.

Schottland auf dem Weg in die Unabhängigkeit? Johnson gegen Sturgeon – das waren die international beachteten Fragen bei der Wahl im Vereinigten Königreich. Aber nicht nur in Schottland wurde gewählt. 48 Millionen Menschen durften auf der ganzen britischen Insel (Nordirland ist erst nächstes Jahr dran) zur Wahl gehen. Neben dem schottischen und dem walisischen Regionalparlament ging es um eine Reihe von Bürgermeistern und Gemeinderäten in England. 

Das Ergebnis ist auf den ersten Blick ein Flickenteppich mit drei klaren Siegern und einem Verlierer. Die erste Gewinnerin ist Nicola Sturgeon und die Scottish National Party (SNP). Es gibt eine eindeutige Mehrheit in Holyrood für die Unabhängigkeit, damit hat Sturgeon ihr wichtigstes Zwischenziel erreicht. Zwar hat die SNP keine absolute Mehrheit errungen, aber ihr Ergebnis seit der letzten Wahl verbessert. Zusammen mit den deutlich verbesserten Grünen können sie nun ihren Plan, ein zweites Referendum durchzuführen, vorantreiben.

Der Verlierer der Wahlen ist der Labour-Vorsitzende Keir Starmer.

Der zweite Gewinner ist Boris Johnson. Er konnte den Siegeszug der Konservativen in den ehemaligen Labour-Kernregionen fortsetzen, den er 2019 begonnen hatte. Seine Partei konnte bei einer Nachwahl in Hartlepool diesen symbolisch wichtigen Sitz erstmals seit 56 Jahren erobern. In der umliegenden Region Tees Valley konnte gleichzeitig der Tory-Bürgermeister Ben Houchen sein Amt mit deutlicher Mehrheit verteidigen. Zudem gewannen die Konservativen zahlreiche Gemeinderäte von Labour und übernahmen auf lokaler Ebene die Kontrolle in vielen Orten, die lange von Labour dominiert waren.

In Schottland und Wales landeten sie zwar nur auf dem zweiten Platz, dies war aber eingepreist und stört den positiven Gesamteindruck nur marginal. Der dritte Gewinner des Tages ist Mark Drakeford, der walisische First Minister. Er konnte mit Welsh Labour die Hälfte der Sitze im Senned holen und damit die Position von Labour noch ausbauen.

Der Verlierer der Wahlen ist der Labour-Vorsitzende Keir Starmer. Der Verlust von Hartlepool wiegt schwer, ebenso wie die deutlich schwächere Stellung der Partei bei den Kommunalwahlen in England. Der Sieg von Labour in Wales sowie die Verteidigung der Bürgermeisterämter unter anderem in London, Manchester und Liverpool werden entweder den Amtsinhabern zugeschrieben oder wurden allerorten erwartet. Speziell in London bleibt sogar eher der Eindruck hängen, dass der Vorsprung gegenüber den Konservativen geschrumpft ist. Die Stimmung ist gedrückt. Bei Labour hatten viele gehofft, dass mit dem Abgang von Jeremy Corbyn der Abwärtstrend der Partei gestoppt ist, diese Hoffnung hat sich jedoch nicht bewahrheitet.

Der Fokus auf die Sieger und Verlierer der Wahl darf aber nicht den Blick auf die Trends verstellen, die sich unterhalb der reinen Ergebnisse abzeichnen. Ganz nach dem Motto „United in Division“ lassen sich hier vier Entwicklungen erkennen:

Die klassenbasierte Trennung der Wählerinnen und Wähler in England ist nicht mehr erkennbar.

Erstens: Die Prägungen der Thatcher-Jahre sind vorbei. Die Tory-Partei hat sich wegentwickelt vom neoliberalen Hardcore der eisernen Lady und sich zunehmend zu einer Partei gemausert, die englischen Nationalismus mit nahezu keynesianischer Wirtschaftspolitik kombiniert. Das Impfprogramm, die britische Version der Kurzarbeit und die Pläne für regionale Entwicklungsfonds verdeutlichen diese neue Stoßrichtung, die dann garniert wird mit einer harten Anti-Immigrationsrhetorik oder auch der Entsendung der Royal Navy gegen französische Fischerboote vor Jersey. Das verbindende Element ist der Brexit, der all dem eine ideologische Grundierung gibt.

Hinzu kommt ein klientelistisches Moment, das teilweise eher an griechische Regionalpolitik der 1980er-Jahre erinnert. Denn die Mittel aus dem Regionalfonds werden direkt aus London ungeniert an Wahlkreise mit Tory-Abgeordneten vergeben, andere Kriterien sind nicht erkennbar. Gleichzeitig hat sich die langjährig verankerte Labour-Loyalität in den ehemaligen Industrieregionen im Norden Englands, ein weiteres Erbe der Thatcher-Ära, gelöst.

Die klassenbasierte Trennung der Wählerinnen und Wähler in England ist nicht mehr erkennbar, stattdessen sind Alter und Ausbildung die entscheidenden Trennlinien. Inzwischen wählt die Mehrheit der englischen „Working Class“ sowie der Älteren die Tories, Labour hat dagegen einen Vorsprung in den Großstädten, bei jungen Menschen und Graduierten.

Zweitens: Das Referendum in Schottland ist kein Selbstläufer, wird aber die Debatten der kommenden Monate und Jahre dominieren. Sturgeon und die SNP haben zwar eine klare parlamentarische Mehrheit und damit ein – selbst attribuiertes – Mandat für die Unabhängigkeit.

Allerdings gibt es auf dem Weg dahin zwei Hindernisse: Auf der einen Seite muss Boris Johnson diesem Referendum zustimmen oder von einem Gericht dazu gezwungen werden. Bei Letzterem stehen die Chancen eher schlecht. Auf der anderen Seite, und das ist deutlich gewichtiger, gibt es im Moment keine klare Mehrheit in den Umfragen für die Unabhängigkeit. So haben knapp über 50 Prozent der Schottinnen und Schotten mit der ersten Stimme für Parteien gestimmt, die für die Unabhängigkeit sind. Paradoxerweise haben sie aber mit der Zweitstimme mit einer ebenso knappen Mehrheit für Parteien gestimmt, die dagegen sind.

Das Referendum in Schottland ist kein Selbstläufer, wird aber die Debatten der kommenden Monate und Jahre dominieren.

Es bleibt daher im Interesse der SNP, das Thema auf der Agenda zu halten, sich weiterhin als wackere Kämpferin gegen England und vor allem den in Schottland zutiefst verhassten Johnson zu gerieren. Dessen „Muscular unionism“ aus mehr britischen Flaggen und aus London finanzierten Brücken und anderen Infrastrukturprojekten wird dort eher als spätkoloniales Gebaren gesehen. Erst wenn sich also ein deutlicher Umschwung in den Umfragen abzeichnet, wird Sturgeon den letzten Schritt gehen und versuchen, ein Referendum zu erzwingen. 

Drittens: Das gefühlte Ende von Corona beflügelt die Amtsinhaber. Nach einem harten Lockdown und einem erfolgreichen Impfprogramm befindet sich die britische Insel auf dem Weg in eine gefühlte Normalität. Von dieser positiven Grundstimmung profitieren in allen drei Nationen, England, Schottland und Wales, die damit verbundenen Personen. Gerade Sturgeon und Drakeford waren in den letzten Monaten die regionalen Gesichter der Krise und haben dadurch eine neue Form medialer Aufmerksamkeit generieren können. Dies hat ihnen, ebenso wie Johnson in England, einen positiven Schub gegeben.

Viertens: Der Brexit ist gekommen, um zu bleiben. Die Trennung in Leave und Remain hat zu einer deutlichen Verschiebung der politischen Landschaft des Landes und zur Vertiefung kultureller Identitäten geführt, die zunehmend wirtschaftspolitische Überzeugungen überlagern. Das Brexitvotum hat der konservativen Partei den Zugang zu Wählerinnen und Wählern eröffnet, die zuvor recht eindeutig bei Labour verortet waren. Gleichzeitig hat es die dominante Stellung der SNP in Schottland zementiert.

Für Labour ist dies die zentrale Herausforderung der kommenden Jahre. Ihre führende Rolle in Schottland hat sie seit Jahren verloren und gewinnt dort keine Wahlkreise mehr. Wales bleibt der einzige regionale Schwerpunkt, hat aber zu wenig Sitze in Westminster, um ins Gewicht zu fallen. Wenn sich die Tory-Partei als dominierende Kraft in England etabliert, besteht für Keir Starmer im britischen Mehrheitswahlrecht kein realistischer Weg an die Macht mehr.

Während unter Corbyn der Fokus auf Visionen lag, hat Starmer seit seinem Amtsantritt allein auf Kompetenz und Seriosität gesetzt. Allerdings weiß niemand, welche Vorstellung eines Vereinigten Königreichs der neue Labour-Vorsitzende hat. Was will die Partei gegen das großmäulige Global Britain setzen, das der offenbar so sympathisch unseriöse Johnson seit Jahren feiert? Dies muss er spätestens bis zum Parteitag im September klar machen, sonst könnte schon bald der nächste Führungswechsel bei Labour anstehen.