In Frankreich, der Heimat der Dramatiker Racine und Corneille, spielt sich dieser Tage ein recht krudes Politmelodram ab. In der Hauptrolle kein Geringerer als der président jupitérien höchstselbst: Emmanuel Macron, der sich binnen weniger Wochen gleich zweimal dem Urteil des Wahlvolkes stellen musste. Einmal als Staatsoberhaupt, das andere Mal als Zentralgestirn seiner erneut – diesmal in „Renaissance“ – umgetauften Reformbewegung. In den Nebenrollen die üblichen Verdächtigen: Ein polternder Jean-Luc Mélenchon, eine inzwischen quasi politinventarisierte Marine Le Pen, dazu der übliche Reigen an Ex-Präsidenten, Trendkandidaten und auf eine surprise française lauernde Berichterstattung aus aller Welt.

Schon während des ersten Aktes, Macrons Wiederwahl im April, irritierte indes der pyrrhushafte Unterton, mit dem die Letztgenannten den Erfolg des alten und neuen Präsidenten kommentierten. Ungeachtet dessen, dass sich die üblichen Schreckensprophetien (Sieg Le Pens, EU-Austritt Frankreichs, liberaldemokratische Agonie) abermals an den Wahlurnen zerschlagen hatten, strotzte der Blätterwald vor den Auswüchsen einer seltsamen „Noch-so-ein-Sieg-und-wir-sind-verloren“-Melancholie. Macron, so war zu lesen, sei nur knapp der Niederlage entronnen, Le Pen die moralische Gewinnerin und der Zerfall des liberalen Zentrums ohnehin ein fait accompli. Sibyllinisches Geraune, das mit den Realitäten der Wahl aber nur wenig gemein hatte.

Nun sind im Meinungsmetier bad news ja bekanntlich good news, doch nachvollziehbar war diese Spielart der Berichterstattung auch unter Maßgabe journalistischer Zuspitzung nicht. Sicher, Macrons Stichwahlergebnis (58,5 Prozent) war gegenüber den mirakulösen 67 Prozent fünf Jahre zuvor zwar relativ bescheiden ausgefallen, doch an den Wahlnormen der Fünften Republik gemessen – das drittbeste Ergebnis seit 1958 – noch immer ein veritabler Erdrutschsieg. Dies wohlgemerkt auch im Vergleich mit anderen Präsidialdemokratien, wo derart deutliche Ergebnisse seltene Ausnahmen darstellen. Ringt etwa in Peru Pedro Castillo die Diktatorentochter Keiko Fujimori mit einigen tausend Stimmen Unterschied nieder, genügt das, ihn als Triumphator zu feiern; in der Causa Frankreich aber scheint selbst ein ungefährdeter Millionenvorsprung nicht überzeugend genug.

Vergangene Woche folgte dieser irritierenden Ouvertüre schließlich als zweiter Akt die Wahlen zur Nationalversammlung, die in der Regel als bräsige Pflichtübung zur Bestätigung des präsidialen Mandats gelten. Auch hier konnte Macron, beziehungsweise seine zentristische Ensemble-Koalition, den Sieg davontragen: Mehr als 110 Sitze (245 zu 131) betrug am Ende ihr Vorsprung auf die linksökologische Wahlallianz NUPES, zu der sich unter anderem die Parti socialiste, die ökologische EELV und die La France Insoumise-Bewegung Mélenchons zusammengeschlossen haben. Allein: Zur absoluten Mehrheit, wie sie dem Amtsinhaber zum Durchregieren gemeinhin zugestanden wird, fehlen 44 Mandate.

Diffizile Parlamentsverhältnisse mögen mithin das Umsetzen einzelner Agendaelemente gefährden, aber nicht zwangsläufig das „big picture“.

Die Ensemble-Abgeordneten werden also künftig auf die Zusammenarbeit mit anderen Fraktionen angewiesen sein. So weit, so banal, doch brach sich ob dieser Einsicht abermals das altbekannte Diskursgemisch aus Dauerbesorgnis und Dramatisierungsdrang Bahn und driftete dabei gar ins Nekrologische ab. So sah etwa Martina Meister in der Welt das „frühe Ende einer Ära“ heraufziehen und der Meinungsseitenveteran Hugo Müller-Vogg degradierte Macron im Focus gar zur französischen lame duck: „Olaf Scholz muss jetzt in der EU führen.“

Nun kann man kaum bestreiten, dass der Verlust der absoluten Mehrheit ein Rückschlag für den Präsidenten ist und so manches Legislativprojekt verkomplizieren dürfte. Ihn aber deshalb politisch zu Grabe tragen zu wollen, erscheint als Effekthascherei, zumal die besagte Mehrheit zwar üblich, doch am Ende mehr Gewohnheitszustand als Gesetzmäßigkeit ist – ähnlich wie ehedem der CSU-Absolutismus in Bayern oder die Zauberformel im Schweizer Bundesrat. Längst nicht alle Nachkriegspräsidenten hatten das Glück, durchgehend auf eine zahme Nationalversammlung bauen zu können; in drei Fällen (Mitterand/Chirac; Mitterand/Balladur; Chirac/Jospin) entstammten Präsident und Premierminister gar rivalisierenden Parteien – ein Arrangement, das in Frankreich als cohabitation bekannt ist.

Dem Gang der Staatsgeschäfte hat all das keinen Abbruch getan, zumal man als taktisch versierter Präsident aus einer als Blitzableiter taugenden Parlamentsopposition auch durchaus eigene Vorteile ziehen kann. Dass etwa Jacques Chirac während der dritten cohabitation fünf Jahre mit dem Sozialisten Lionel Jospin regieren musste, hat bekanntlich allein Jospin geschadet. Chirac dagegen konnte sich als Opfer eines obstruktiven Unterhauses gerieren und den ungeliebten Regierungschef schon in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl 2002 aus dem Rennen werfen. Anders als „Le Bulldozer“ kann Macron zwar nicht erneut antreten (und wird auch nicht in die Verlegenheit eines sozialistischen Premierministers geraten), doch gilt für ihn ebenfalls: Diffizile Parlamentsverhältnisse mögen mithin das Umsetzen einzelner Agendaelemente gefährden, aber nicht zwangsläufig das big picture.

Hinzu kommt auch ohne majorité absolue eine Fortschreibung der bisherigen Machtasymmetrie. Einerseits sind die Ensemble-Parteien noch immer stärker als Rechts- und Linksaußen zusammen und können dadurch jeden Oppositionsvorschlag leicht blockieren; anderseits können sie aber selbst die Fühler ausstrecken, um je nach Sachlage die moderateren NUPES-Elemente oder aber die konservativen Republikaner mit ins Boot zu holen. Selbst mit der nun zur Fraktionsvorsitzenden erkorenen Le Pen hat sich Macron bereits getroffen – das öffentliche Kokettieren mit der Frau, die ihn einst einen „radikalen EU-Extremisten“ schimpfte, dürfte aber vor allem der Disziplinierung anderer etwaiger Kooperationspartner dienen, immer getreu dem Motto, dass der Koch sich seinen Kellner aussuchen kann und nicht andersherum. Zwar zieren sich Vertreterinnen und Vertreter der Parlamentskonkurrenz derzeit noch, ein allzu offenes Bekenntnis zur Zusammenarbeit abzugeben, doch scheint dieses Zaudern mehr Theater als wirklicher Widerstand zu sein.

Das öffentliche Kokettieren mit Le Pen dürfte vor allem der Disziplinierung anderer etwaiger Kooperationspartner dienen.

Was schließlich die Konkurrenzdimension anbelangt, so war die auf der Linken umjubelte NUPES-Allianz gegenüber dem desaströsen Resultat 2017 zwar durchaus erfolgreich, hat die demoskopischen Erwartungen aber noch deutlicher unterlaufen als Ensemble: 160 bis 190 Sitze hatte das Umfrageinstitut Ifop dem Bündnis noch zwei Tage vor der Wahl prognostiziert; der Wettbewerber Cluster17 kam gar auf 170 bis 220 (und damit auf ein Ergebnis in Schlagdistanz zur majorité relative) – am Ende wurden diese Höhen nicht einmal annähernd erreicht. Dass NUPES nicht als Dauerprojekt gedacht ist und auch keine gemeinsame Fraktion bilden wird, dürfte sich zudem ebenso euphoriedämpfend auswirken wie der Umstand, dass in den direkten Zweitrundenduellen mit Ensemble zwei Drittel aller Linkskandidatinnen und -kandidaten den Kürzeren gezogen haben.

Auch die Performance des Rassemblement National unter dem jugendlichen Jordan Bardella ist letztendlich weit weniger beeindruckend als man zunächst meinen möchte. Phänomenale 89 Sitze, das letzte Ergebnis verzehnfacht, ein Erfolg, der „Schockwellen durch das politische Establishment schickt“ und einem „Erdbeben“ gleichkommt: All das klingt nach Zäsur und – um das mot du jour zu gebrauchen – Zeitenwende. Nüchtern betrachtet bleibt allerdings festzustellen, dass die 89 Abgeordneten nur etwa ein Drittel des Ensemble-Kontingents ausmachen, der Verzehnfachung eine denkbar minusküle Ausgangsbasis von neun Mandaten zugrunde liegt und es überdies fraglich erscheint, ob einer solchen Minderheitsfraktion abseits aller Symbolaspekte tatsächlich politische Erdbebenqualität zugesprochen werden kann. Noch haben die Seismografen jedenfalls nicht ausgeschlagen.

Letztlich führt uns der Blick auf die Konkurrenz damit zurück zur eigentümlichen Dramatik einer Berichterstattung, für die jede Schramme des Amtsinhabers einer nahezu tödlichen Verwundung gleichkommt und jeder Teilerfolg seiner Gegnerinnen und Gegner einem Sieg der Güteklasse Azincourt. Beinahe könnte man eine Anti-Macron-Agenda vermuten, doch ist es wohl eher eine Lust am Alarmismus, ein Drang, sich am schlimmsten vorstellbaren Szenario zu delektieren, dem weite Teile der Politikrezeption dieser Tage zum Opfer fallen.

Dass es wenig zum Lageverständnis beiträgt, Siege in Niederlagen umzudeuten und bei jeder sich bietenden Gelegenheit ein Ende oder einen Untergang heraufzubeschwören, liegt indes auf der Hand. Für den Fall der Parlamentswahlen gilt insofern: Hat Macron gewonnen? Ja. Hat er mit Abstand zur Konkurrenz gewonnen? Ja. Hat er mit ausreichendem Abstand zur Konkurrenz gewonnen? Nein. Gehört er politisch eingesargt und dem Vergessen anheimgegeben? Nein. Wird er Möglichkeiten finden, sich trotz allem Mehrheiten zu organisieren? Man sollte es – Stand heute – stark annehmen.