Vor den Wahlen zum schwedischen Reichstag, bei denen in diesen turbulenten Zeiten besonders viel auf dem Spiel steht, liefern die Parteien sich ein knappes Rennen. Im Frühjahr drehte sich alles um den russischen Einmarsch in die Ukraine und das schwedische Umdenken, das zum Antrag auf Beitritt zur NATO führte. Erst gegen Ende des Sommers nahm der Wahlkampf Fahrt auf. Am 11. September haben die Schwedinnen und Schweden die Wahl zwischen zwei einigermaßen losen politischen Formationen, die sich beide erst nach der letzten Wahl vor vier Jahren herauskristallisiert haben.
Auf der einen Seite stehen die sozialdemokratische Ministerpräsidentin Magdalena Andersson und ihre Minderheitsregierung, die sich von drei Parteien tolerieren lässt – von der Zentrumspartei (Centerpartiet), den Grünen und den Linken. Auf der anderen Seite bewirbt sich der liberal-konservative Oppositionsführer Ulf Kristersson von der Moderaten Sammlungspartei um das Amt des Ministerpräsidenten. Er wird von den Christdemokraten, den Liberalen und einer Rechtsaußenpartei unterstützt: den Schwedendemokraten.
Die Meinungsumfragen im August zeigten ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den beiden Lagern. Mal hatte Kristerssons konservatives Lager die Nase vorn, mal die Mitte-links-Formation mit Andersson an der Spitze. In der als besonders wichtig geltenden Omnipoll-Umfrage vom 1. September betrug Anderssons Vorsprung gerade einmal 0,6 Prozent. Ulf Kristersson steht derweil möglicherweise ein ernstes Problem ins Haus: Die Schwedendemokraten sind drauf und dran, seine Moderate Sammlungspartei in den Umfragen zu überholen. Das könnte Kristerssons Status als Anführer der Opposition ins Wanken bringen und wirft die Frage auf, was es für spätere Koalitionsverhandlungen bedeutete, wenn die Schwedendemokraten zur stärksten Kraft im konservativen Lager avancieren.
Seit der letzten Wahl zum Schwedischen Reichstag hat sich ein Wandel vollzogen, der historisch zu nennen ist: Die Einheitsfront gegen die Schwedendemokraten, die zu deren politischer Isolierung führte, ist auseinandergebrochen. 2018 hatten alle etablierten Parteien vor der Wahl lauthals jede Zusammenarbeit mit den Schwedendemokraten ausgeschlossen, die am äußersten rechten Rand stehen und ihre Wurzeln in Schwedens rassistischer Neo-Nazi-Bewegung haben. Damals versprach Ulf Kristersson der Auschwitz-Überlebenden Hédi Fried sogar, er werde niemals mit dieser Partei kooperieren. An dieses Versprechen wird er von seinen politischen Gegnern jetzt immer wieder erinnert.
Seit der letzten Wahl zum Schwedischen Reichstag hat sich ein Wandel vollzogen, der historisch zu nennen ist.
Inzwischen signalisieren aber sowohl die Moderaten als auch die Christdemokraten ihre Bereitschaft, mit den Schwedendemokraten zusammenzuarbeiten und zu verhandeln. Zuletzt gaben sogar die Liberalen ihre ablehnende Haltung auf, was angesichts ihrer Parteigeschichte einen bemerkenswerten Richtungswechsel bedeutet. Immerhin kämpften die Liberalen vor 100 Jahren Seite an Seite mit den Sozialdemokraten für das allgemeine Wahlrecht und waren später die Vorkämpfer für LGBT-Rechte und Geschlechtergleichstellung in Schweden. In den vergangenen zehn Jahren taten sie sich als Verteidiger der liberalen Demokratie und als Hauptrivalen der aufstrebenden radikalen Rechten hervor.
Nun kämpfen die drei etablierten liberalen und konservativen Parteien also gemeinsam für eine Regierungskoalition, die auf die Schwedendemokraten angewiesen wäre. Wenn man den Umfragen glaubt, haben die drei Parteien mit ihrem Bestreben, die Schwedendemokraten als politische Partner salonfähig zu machen, der Rechtsaußenpartei zusätzlichen Rückenwind verschafft. Dieses Dilemma, das sich für Kristersson noch zur Tragödie auswachsen könnte, lässt sich treffend mit einem Zitat von John F. Kennedy auf den Punkt bringen: „Diejenigen, die in ihrem törichten Streben nach Macht auf dem Rücken des Tigers reiten wollen, enden in seinem Bauch.“
In Anderssons rot-grünem Block läuft es allerdings auch nicht rund. Die vier Parteien erwecken den Eindruck, als hätten sie ihre Wahlkampfstrategien nicht einmal ansatzweise aufeinander abgestimmt. Die Zentrumspartei wartete bis wenige Wochen vor dem Wahltag, ehe sie sich endlich öffentlich festlegte, Anderssons Kandidatur als Ministerpräsidentin zu unterstützen. Die Zentrumspartei steht mehr als die meisten anderen Parteien in Schweden für Marktorientierung und Neoliberalismus. Dass sie sich widerwillig dem rot-grünen Lager angeschlossen hat, liegt vor allem an ihrer entschieden ablehnenden Haltung gegenüber den Schwedendemokraten. In den vergangenen vier Jahren hat die Zentrumspartei jedes größere linke und progressive Reformvorhaben blockiert und stattdessen mehr Steuererleichterungen und Privatisierungen durchgesetzt und den Arbeitnehmerschutz geschwächt.
Die Sozialdemokraten bewegen sich in den Umfragen zwischen 25 und 30 Prozent und sind damit nach wie vor stärkste Kraft. Seit 2014 führen sie in wechselnden Konstellationen die Regierung an. In den vergangenen Jahren stand diese Regierung auf besonders wackligen Füßen. Ein Jahr vor der Wahl tauschte die Sozialdemokratische Arbeiterpartei in einem geschickten Schachzug ihr Zugpferd aus, nachdem sie erkannt hatte, dass ein dritter Wahlkampf mit Ex-Ministerpräsident Stefan Löfven als Spitzenkandidat nicht zum Erfolg geführt hätte. Mit Magdalena Andersson gelang der Partei ein Neustart – und Schweden bekam die erste Ministerpräsidentin seiner Geschichte.
In den vergangenen vier Jahren hat die Zentrumspartei jedes größere linke und progressive Reformvorhaben blockiert.
Die Sozialdemokraten führen einen ausgesprochen personalisierten Wahlkampf und orientieren sich in vielerlei Hinsicht an der Kampagne, die Olaf Scholz letztes Jahr ins Kanzleramt brachte. Andersson erfreut sich hoher Zustimmungswerte: Zwischen 52 und 56 Prozent der Wählerschaft stufen sie als vertrauenswürdig ein; Kristersson kommt lediglich auf 33 bis 42 Prozent. Indem die Sozialdemokraten Anderssons langjährige Erfahrung als Finanzministerin und ihre Kompetenz in den Vordergrund stellen, stilisieren sie die Wahl zu einer Art Präsidentschaftswahl mit Andersson und Kristersson als Kandidaten.
Problematisch für Andersson ist, dass die Wahl von Themen dominiert wird, bei denen die Opposition stärker punktet. Bei Umfragen im August zeigte sich, welche Politikfelder für die Wählerinnen und Wähler am wichtigsten sind: An erster Stelle steht das Gesundheitswesen, gefolgt von Ordnung und Sicherheit sowie der Schul- und Bildungspolitik. Platz 4 belegt das Thema Zuwanderung und Integration, Platz 5 die Energiepolitik. Gesundheitswesen, Schule und Bildung sind die einzigen Bereiche, in denen die Sozialdemokraten nach Meinung der Befragten die besten politischen Rezepte haben.
Die beherrschenden Themen in der öffentlichen Diskussion sind jedoch Ordnung und Sicherheit, Ghettobildung und Migration. Hier versuchen die Sozialdemokraten, sich vom konservativen Lager abzuschauen, wie man klare Kante zeigt. Ein weiteres Problem für Andersson: Der Opposition gelingt es, der Regierung die Schuld für die seit August explodierenden Stromrechnungen in die Schuhe zu schieben.
Die Sozialdemokraten umwerben mit ihrer Wahlkampfstrategie eher die politische Mitte. Sie hofieren die Zentrumspartei, signalisieren sogar den Liberalen gegenüber wieder Verhandlungsbereitschaft und zeigen den Linken die kalte Schulter. Von Steuererhöhungen und Umverteilung will Andersson nichts wissen. Sie zielt auf die urbane, gebildete und liberale Wählerschaft, die den Schwedendemokraten nicht über den Weg traut, und sucht sie in ihr rot-grünes Lager hinüberzuziehen.
Wenn die Sozialdemokraten diese Strategie bis zum Wahltag beibehalten, gibt es allerdings ein Problem: Sie vergraulen damit ihre linken Stammwählerinnen und -wähler und die gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmerschaft. Bisher besannen die Sozialdemokraten sich meistens in der Endphase des Wahlkampfs auf ihre klassisch linke Rhetorik, um die eigene Wählerschaft zum Urnengang zu motivieren. Angesichts des Kopf-an-Kopf-Rennens, das die Parteien sich im Augenblick liefern, könnte es sich allerdings als folgenschwerer Fehler erweisen, wenn die Sozialdemokraten sich nicht auf die Mobilisierung ihrer angestammten Wählerinnen und Wähler konzentrieren, sondern darauf setzen, die Randgruppe der liberalen Wählerinnen und -wähler für sich zu gewinnen. Wie die Sache ausgeht, werden wir bald erfahren.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld