Die Parlamentswahlen in Tschechien im Oktober hatten auf den ersten Blick einen erfreulichen Ausgang: Der bisherige Premierminister, der Medienmogul und Großunternehmer Andrej Babiš, dessen politisches Engagement vor allem dem Ausbau seines Firmenimperiums diente, wurde abgewählt.

Betrachtet man die Ergebnisse aber eingehender, stimmt das Bild nicht mehr ganz so optimistisch: Das Ergebnis war denkbar knapp und es beruhte nicht darauf, dass ein Teil von Babiš' Wählerschaft umgestimmt wurde, sondern auf der Mobilisierung von vergleichsweise wenigen zusätzlichen Stimmen für das Oppositionslager. Denn: Zählt man die Stimmen für die fünf Parteien zusammen, die Babiš bezwungen haben, und vergleicht sie mit den Stimmen für Babiš, für die rechtspopulistische SPD und mehrere weitere nationalistische Protestparteien, die an der 5-Prozent-Hürde scheiterten, dann erreichen die Kräfte des formell unterlegenen Lagers eine eindeutige Mehrheit. Zum Verhängnis wurde ihnen lediglich ihre Zersplitterung.

Zum Verhängnis wurde Babiš lediglich die Zersplitterung seines Lagers.

Einmal mehr zeigen die Wahlen, dass die tschechische Gesellschaft in zwei Lager gespalten ist. An der Oberfläche mögen diese wie ein Pro-Babiš-Lager und ein Anti-Babiš-Lager aussehen; die Wahl wurde dementsprechend auch als ein Referendum über seine Person verstanden. Doch die Spaltung ist viel grundsätzlicher und Andrej Babiš lediglich ihr Symbol, nicht aber ihre Ursache, so die Studie Eine Gesellschaft – unterschiedliche Lebenswelten. Mit dem Wahlausgang dürften die Fronten jetzt erst richtig verhärtet sein. Und wenn es nicht gelingt, die Gräben zu überwinden, könnten die nun besiegten Kräfte bald wieder gestärkt und geeint zurückkommen.

Wie sind die Konfliktlinien in der tschechischen Gesellschaft entstanden? Die wichtigste Frage ist, ob man mit der Entwicklung des Landes nach 1989 zufrieden oder unzufrieden ist. Die Positivennennen als Gründe für ihre optimistische Bewertung insbesondere den Zugewinn an privaten wie bürgerlichen Freiheiten, während sie die zahlreichen sozialen Probleme des Landes weitgehend ausblenden. Bei den Kritischen ist es genau andersherum – weil sie die sozialen Umwälzungen seit 1989 so hart zu spüren bekamen, treten für sie bei der Gesamtbewertung der Situation alle im Vergleich dazu weniger greifbaren Freiheiten in den Hintergrund. Und zwar auch deshalb, weil zahlreiche der Errungenschaften wie die Reise- oder die unternehmerische Freiheit für diese Schichten aufgrund ihrer ökonomischen Situation keine direkte Bedeutung haben.

Schlimm genug, dass die Entstehung einer solchen Ungleichheit politisch überhaupt zugelassen wurde. Aber schlimmer noch, dass diese Konfliktlinie die Politik zwar einerseits massiv beeinflusst – denn die in den Wahlergebnissen zum Ausdruck kommende Spaltung des Landes ist im Grunde genau diese: in Wendeverlierer und Wendegewinner – andererseits bislang jedoch weder aufgedeckt noch konsequent aufgearbeitet wurde. Und so reden die beiden Lager fortwährend aneinander vorbei: Die nun siegreichen Kräfte vertreten die Positiven und versprechen ihnen eine „Rückkehr zur Normalität“. Sprich zu den Zeiten unmittelbar nach der Wende. Damals wurde ihrem Gesellschaftsbild, der unheilvollen Kombination aus wirtschaftlichem Neoliberalismus und in gewissem Maße auch kulturellem Liberalismus westlicher Prägung, noch kein lautstarker Protest entgegengebracht.

Die Wahlsieger können schlicht nicht nachvollziehen, dass die Positionen der Wendeverlierer durch eine sehr andere Erfahrung der Transformationszeit geprägt sein können.

Auf diesen Protest können sie sich nun keinen Reim machen. Es ist bezeichnend, dass die Teilnehmer der oben genannten Studie, die diesem Lager zuzuordnen sind, großen Wert auf Informiertheit legen, wenn es darum geht, wie man der Polarisierung der Gesellschaft entgegenwirken könnte. Dies zeigt eindrücklich, dass sie schlicht nicht nachvollziehen können, dass die Positionen der Wendeverlierer durch eine sehr andere Erfahrung der Transformationszeit geprägt sein können und dass es nicht einfach darum geht, dass man ihnen beispielsweise die Vorteile der EU-Mitgliedschaft, eines der konkreten Streitthemen zwischen den Lagern, noch nicht gut genug erklärt hat.

Die Kritischen dagegen erleben die Zeit seit der Wende als einen einzigen Kontrollverlust – durch das Wegbrechen der Errungenschaften eines bis 1989 starken Sozialstaats, aber auch in einem tieferen Sinn als massive Änderung der Anforderungen an ihre Mentalität und Identität, als Beschleunigung und Entgrenzung. In ihren Äußerungen zeigt sich somit die Kehrseite der von den anderen gefeierten Freiheit. In letzter Konsequenz sind viele Positionen der Kritischen problematisch, aber sie enthalten eine gute Portion berechtigter Sozialkritik. Da diese aber von der Politik nicht aufgegriffen wird und keine adäquaten Lösungen dafür angeboten werden, ziehen sie ganz eigene Schlüsse draus und enden bei all den falschen Propheten – bei Babiš‘ absurder Anti-Establishment-Rhetorik oder bei den gegen die Flüchtlinge hetzenden Nationalisten.

Es sieht nicht danach aus, dass sich die nun siegreichen politischen Kräfte anschickten, diesen grundlegenden Konflikt zu befrieden – im Gegenteil, es macht den Anschein, als hätten sie nichts verstanden. Schon im Wahlkampf gegen Babiš gab es wenig Anhaltspunkte dafür, dass ihnen klar wäre, wie man dessen Wähler wirklich umstimmen könnte; sein gutes Abschneiden bestätigte dann diesen Befund. Die nationalistischen Kräfte werden gar nicht erst ernsthaft bekämpft, ihre Wähler wurden komplett aufgegeben. Und nun beginnen die Wahlgewinner ihre Regierungsarbeit mit derselben Agenda, die Babiš und die anderen Protestparteien erst hervorgebracht hat – einer Sparpolitik, die voraussichtlich die ohnehin schon sozial und ökonomisch benachteiligten Wendeverlierer am härtesten treffen wird, genauso wie in der Nachwendezeit. Welchen Frust und weitere Radikalisierung dies in diesem Spektrum in den kommenden Jahren hervorrufen könnte, möchte man sich lieber nicht ausmalen. Polnische oder ungarische Verhältnisse, im Sinne ähnlicher dominanter politischer Konfliktlinien, sind in Tschechien jedenfalls nicht abgewendet worden, wie nach der Wahl vielerorts erleichtert verlautbart wurde. Das Gegenteil ist der Fall, sie verfestigen sich in der neuen Konstellation vielleicht gerade erst richtig: hier die (neo)liberalen Wendegewinner, da die immer trotziger protestierenden Wendeverlierer. Und keine Kompromissmöglichkeit in Sicht, weil den Lagern eine Verständigungsgrundlage fehlt.

Eine solche Grundlage muss in den kommenden Monaten und Jahren von der Linken geschaffen werden, daran führt kein Weg vorbei. Sie ist dezimiert, wie in vielen anderen postkommunistischen Ländern, und derzeit überhaupt nicht mehr im tschechischen Parlament vertreten. Es ist kein Zufall, dass die Linke in dem geschilderten Konflikt keine Rolle spielt. Sie wurde selbst zu sehr in eine neoliberale Richtung gedrängt. Dies gilt in Westeuropa, aber in den postkommunistischen Ländern umso mehr, weil ihr dort der Kommunismus von vor 1989 den Aktionsradius für eine radikalere linke Politik stark verengt hat. Zudem sind die allermeisten meinungsbildenden Eliten, inklusive der medialen, rechtsliberal. Sie wittern bei harmlosesten sozialen Maßnahmen eine Rückkehr in die staatssozialistische Totalität.

Die Linke muss ausdrücklich zur Stimme der Wendeverlierer werden und den Konflikt mit den Neoliberalen wagen.

Was muss sich nun ändern? Die Linke muss ausdrücklich zur Stimme der Wendeverlierer werden und den Konflikt mit den Neoliberalen wagen. Der erste Schritt ist trivial, aber in der tschechischen Realität gleichzeitig extrem schwer, weil die tonangebenden Wendegewinner bislang keine differenzierte Debatte über die Nachwendezeit zuließen: Es muss nämlich offen darüber gesprochen werden, dass es überhaupt Wendeverlierer gibt und dass sie zu Recht wütend sind. Nicht nur haben sie durch die Umwälzungen gelitten. Darüber hinaus wurden sie lange ignoriert, missverstanden oder gar verachtet. Die Linke muss Anwalt der Wiedergutmachung von greifbaren wie gefühlten Ungerechtigkeiten werden und eine positive Zukunftserzählung entwickeln, die diesen Schichten in der heutigen Umbruchszeit berechtigte Ängste vor weiteren Umwälzungen nimmt. Sonst werden weiterhin die autoritären, populistischen und nationalistischen Kräfte punkten, die bislang das Bedürfnis nach Zuflucht und Respekt befriedigt haben. Dies wird alles andere als einfach, doch die jüngsten Erfolge der SPD in Ostdeutschland zeigen doch, dass dies letztlich der einzige erfolgversprechende Weg ist. Denn dort ist die Situation letztendlich sehr ähnlich wie in den anderen postkommunistischen Ländern.