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Nach einem wochenlangen, von allerlei verfassungsrechtlich fragwürdigen Vorschlägen begleiteten Tauziehen um die für den 10. Mai angesetzten Präsidentschaftswahlen, zeichnet sich nun doch noch eine Last-Minute-Lösung ab. Kaum war das große TV-Duell der Kandidaten vorüber, lief die Meldung über die sozialen Medien, dass die Wahlen an diesem Datum nun doch nicht stattfinden werden. Vielmehr hätte die konservative Mehrheitskoalition einen Weg gefunden, die Wahlen in den Sommer zu verschieben.

Ausgangspunkt der letzten Volte war eine Rebellion in den Reihen eines der Koalitionspartner der PiS, der liberal-konservativen Kleinstpartei Porozumienie. Eine hinreichend große Zahl von Abgeordneten dieser Gruppierung hatte gedroht, gegen den Gesetzesvorschlag der PiS für eine allgemeine Briefwahl am 10. Mai zu stimmen. Am Schluss stand für den PiS-Vorsitzenden Jaroswał Kaczyński – der bis zuletzt auf die Wahlen innerhalb des verfassungsmäßigen Zeitrahmens bestanden hatte – mehr auf dem Spiel als nur die Präsidentschaftswahlen: Die Regierung drohte ihre Mehrheit im Sejm zu verlieren.

Die Amtszeit des Präsidenten Andrzej Duda endet im August, laut der verfassungsmäßigen Fristen müsste die Wahl im Mai stattfinden. Gegen die Durchführung der Wahlen unter der Bedingung der Corona-Epidemie hatte sich nicht nur die gesamte Opposition ausgesprochen, sondern auch eine klare Mehrheit der Bevölkerung. Die bürgerliche Oppositionspartei PO forderte zunächst die Verschiebung um ein ganzes Jahr, die linke Opposition um vier Monate.

Der verfassungsrechtliche Spielraum für die Verschiebung von Wahlen ist aber äußerst eng. Die Verfassung nennt hierfür eine einzige klare Möglichkeit: Während eines Ausnahmezustands und in einer Periode von drei Monaten danach darf nicht gewählt werden. Allerdings sind die Hürden für die Ausrufung des Ausnahmezustands sehr hoch. Die Verfassung definiert den Ausnahmezustand explizit als ultima ratio der Politik – wenn das normale Funktionieren der Verfassungsorgane nicht mehr gesichert ist. Davon kann in Polen – genauso wie in Deutschland – keine Rede sein. Der polnische Staat funktioniert in der Coronakrise sehr gut und alle Verfassungsorgane verrichten ihre Arbeit – einschließlich beider Kammern des Parlaments.

Der verfassungsrechtliche Spielraum für die Verschiebung von Wahlen ist äußerst eng.

Die Regierung weigerte sich daher beharrlich, der Forderung der Opposition nach Ausrufung des Ausnahmezustands nachzugeben. Ein Nebenargument dabei war auch, dass die Notstandgesetzgebung vorsieht, dass Unternehmen für die dadurch entstandenen Verluste Entschädigung verlangen können. Dies könnte eine Lawine von Forderungen verursachen, die den in der Krise ohnehin geforderten Staat finanziell zu überlasten droht. Stattdessen versuchte die PiS in einer gesetzgeberischen Notoperation die Wahlen als allgemeine Briefwahlen innerhalb der ursprünglichen Zeitplanung zu organisieren. Dies scheiterte an der Rebellion des Koalitionspartners und einer erfolgreichen Verzögerungstaktik der Opposition – die in der zweiten Kammer, dem Senat, eine Mehrheit hat und sich 30 Tage Zeit nahm, um das Gesetz abzulehnen. An eine saubere Durchführung der Wahl war unter diesen zeitlichen Umständen nicht mehr zu denken. Polen drohte in den letzten Tagen eine veritable Verfassungs- und Regierungskrise.

Die nun innerhalb des konservativen Lagers gefundene Kompromisslösung ist vermutlich auch nichts für Verfassungspuristen. Sie sieht vor, dass der 10. Mai formal Termin für den ersten Wahlgang bleibt. Da an diesem Tag keine Wahlen stattfinden werden, muss das Oberste Gericht diese Wahlen für ungültig erklären. Nach dieser Erklärung ist es an der Parlamentspräsidentin, innerhalb von 60 Tagen Präsidentschaftswahlen auszurufen. Diese sollen aus seuchenhygienischen Gründen als allgemeine Briefwahl stattfinden. Die Verantwortung für die Organisation liegt aber – anders als beim ursprünglichen Gesetzesentwurf – nicht bei der Post, sondern bei der nationalen Wahlbehörde. Das Gesetz, das die Grundlage für allgemeine Briefwahlen schafft, wurde nun am 7. Mai im Sejm mit den Stimmen des gesamten Regierungslagers angenommen.

Je nachdem, wie lange das Oberste Gericht sich Zeit nimmt, um die nicht stattgefundenen Wahlen zu annullieren (maximal 30 Tage), können die Präsidentschaftswahlen dann Ende Juni oder im Juli stattfinden. Damit könnte der Präsident rechtzeitig vor Ablauf der jetzigen Amtszeit neu bestimmt werden. Auf diesen Ausweg aus der verfassungsrechtlichen Sackgasse hatte nicht zuletzt die liberale Tageszeitung „Rzeczpospolita“ vor einigen Tagen hingewiesen – politisch gangbar geworden für die Regierungsmehrheit ist er aber vermutlich erst dadurch, dass Ende April die Amtszeit der bisherigen, sehr PiS-kritischen Vorsitzenden des Obersten Gerichts endete.

Die nun gefunden Lösung ist ein Dämpfer für die PiS-Hardliner (es gibt auch andere) und ein Sieg für die polnische Demokratie. Die Wahlen könnten nun unter weit reguläreren Bedingungen stattfinden als im Mai.  Die Opposition hat mit der Verschiebung der Wahl einen taktischen Punktsieg errungen.

Die Gründe des vergangenen Tauziehens um den Zeitpunkt der Präsidentschaftswahlen sind auch banal realpolitisch.

Wer langfristig davon profitiert ist noch nicht abzusehen. Die Gründe des vergangenen Tauziehens um den Zeitpunkt der Präsidentschaftswahlen sind nämlich auch banal realpolitisch. Wie in vielen anderen Ländern auch hat die Corona-Krise die Zustimmungswerte für die Regierenden nach oben getrieben. Polen ist bisher exzellent durch die Pandemie gekommen und kann eine der geringsten Corona-Sterblichkeiten weltweit vermelden. Davon profitierten auch die Zustimmungswerte des zur Wiederwahl antretenden Staatspräsidenten, der sich in der Krise als sorgender Landesvater präsentieren konnte. Andrzej Duda würde die Wahl zum jetzigen Zeitpunkt laut Umfragen klar gewinnen. Aber auch die PiS selbst hat in den letzten Wochen zugelegt und liegt bei der Sonntagsfrage bei 48%.

Dagegen hat vor allem die größte Oppositionspartei, die Bürgerplattform (PO) einen sehr schlechten Lauf. Die Umfragewerte ihrer Kandidatin befinden sich seit Wochen im freien Fall. Nach einer schlechten und widersprüchlichen Kampagne würden zurzeit nur noch 2-4 Prozent der zur Wahl Entschlossenen für Małgorzata Kidawa-Błońska stimmen. Dieser niedrige Wert erklärt sich in einem hohen Maße durch die Demobilisierung der PO-Wählerschaft, die eher auf einen Boykott der Wahlen eingestimmt wurde. Es ist aber dennoch eine katastrophale Zahl für eine Partei, die einst von Donald Tusk als politische Mehrheitsmaschine gegründet wurde.

Die Verhinderung der Wahl unter den aktuellen Umständen ist für die PO daher von vitalem Interesse, ebenso wie die PiS um jeden Preis die Krisendividende einfahren wollte. Denn die Lage kann sich natürlich schnell ändern. Die wirtschaftlichen, sozialen und fiskalischen Folgeschäden des Shutdowns werden sich erst in den kommenden Monaten voll entfalten. Zwar prognostiziert die EU-Kommission für Polen den geringsten Wirtschaftseinbruch aller Mitgliedstaaten (minus 4,3 Prozent), aber verlassen kann man sich darauf nicht. Das jetzt gefundene Wahlfenster ist aber vermutlich immer noch nahe genug an der jetzigen Krisensituation, dass die PiS und ihr Kandidat plausibel hoffen können, dass sich die Wähler noch an das erfolgreiche Management der Krise erinnern – und die Staatskassen noch nicht erschöpft sind.