Noch nie konnte man der türkischen Politik vorwerfen, Langeweile zu produzieren. Harte Wortgefechte, teils körperlich ausgetragene Auseinandersetzungen im Parlament und die berühmten außenpolitischen 180-Grad-Wenden von Präsident Recep Tayyip Erdoğan ziehen nicht nur Politikinteressierte unweigerlich in ihren Bann. Und doch war das, was seit dem 2. März in Ankara passiert ist, selbst für türkische Verhältnisse ungewöhnlich dramatisch. Innerhalb von vier Tagen einigte sich unter den Augen einer erstaunten Öffentlichkeit das wichtigste Oppositionsbündnis auf einen gemeinsamen Kandidaten. Das Bündnis zerbrach kurz darauf und fand dann doch wieder zusammen. Am Ende dieses spektakulären Schauspiels steht ein politischer Fahrplan und mit dem Vorsitzenden der sozialdemokratischen Cumhuriyet Halk Partisi (CHP), Kemal Kılıçdaroğlu, ein gemeinsamer Spitzenkandidat, der noch drei Tage zuvor seine letzte Chance auf eine Präsidentschaftskandidatur verloren geglaubt hatte.

Der Reihe nach: Seit nunmehr 20 Jahren wird die Türkei von Recep Tayyip Erdoğan regiert – zunächst als Ministerpräsident, seit 2014 als Staatspräsident und seit einer Verfassungsänderung 2017 als Staatspräsident mit äußerst weitreichenden Machtbefugnissen. Während ihn viele Jahre lang eine Aura der Unbesiegbarkeit umgab, begann dieser Nimbus im Jahre 2015 zu verblassen. In diesem Jahr verlor seine Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) erstmals die Mehrheit im Parlament und konnte diese nur durch eine unter fragwürdigen Bedingungen wiederholte Wahl zurückgewinnen. Seine schmerzlichste Niederlage erlitt er schließlich 2019, als die AKP die Rathäuser in den wichtigsten Städten der Türkei – darunter Istanbul, Ankara und Izmir – an die Opposition verlor. Diese hatte sich in einem Vierparteienbündnis, der Millet İttifakı („Allianz der Nation“), organisiert. Jenseits der konkreten Erfolge schöpften die oppositionellen Kräfte in der Türkei aus diesen Erfahrungen Hoffnung. Trotz fortschreitender Autokratisierung wuchs der Glaube, dass auch auf nationaler Ebene ein Wechsel durch Wahlen möglich sei, wenn die Opposition es schaffe, geschlossen und professionell aufzutreten.

Kemal Kılıçdaroğlu, Vorsitzender der CHP, erkannte diese Chance und arbeitete konsequent auf eine Erweiterung eines vereinigten, demokratischen Oppositionsbündnisses hin, besonders mit Blick auf die anstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Sommer 2023. Neben den ursprünglichen Bündnispartnern – der nationalistischen İyi Parti, der islamistischen Saadet Partisi und der liberal-nationalistischen Demokrat Parti – gelang es ihm, die AKP-Abspaltungen DEVA Partisi und Gelecek Partisi für die „Allianz der Nation“ zu gewinnen. Das von den Medien „Sechsertisch“ getaufte Bündnis wurde am 12. Februar 2022 ins Leben gerufen und präsentiert sich seither in jederlei Hinsicht als Gegenentwurf zum türkischen Präsidenten und dessen Führungsstil. Die biederen Fotos der regelmäßigen Treffen der sechs Parteivorsitzenden – fünf Männer und die İyi-Vorsitzende Meral Akşener – auf Stühlen um einen runden, schmucklosen Tisch sitzend, boten dem Netz reichlich Meme-Material und amüsierten die türkische Öffentlichkeit. Diese ist es gewohnt, dass ihr Präsident den großen Auftritt sucht. Er residiert in schlossähnlichen Anwesen, verantwortete den Bau des gigantischen Präsidentenpalasts in Ankara und schaltet sogar Werbung für sein eigenes Buch am New Yorker Times Square. Erdoğan produziert seit Beginn seiner Amtszeit die Bilder eines starken Führers. Der Sechsertisch hingegen produziert vor allem Papier. Einem Grundsatzpapier, das die Abkehr vom Präsidialsystem und die Etablierung eines gestärkten Parlaments fordert, folgte im Januar ein 240-seitiges Wahlmanifest – eine Art Koalitionsvertrag, das seiner Zeit voraus ist. So etwas hatte es in der Türkei noch nie gegeben und nicht einmal versierte Beobachter der türkischen Politik waren sich sicher, ob ein solches Vorgehen nun gut oder schlecht, ein Ausdruck von Hilflosigkeit oder kluge Taktik sei.

Der Stil des Sechsertisches machte es Präsident Erdoğan schwer, seine größten Stärken auszuspielen: Polarisieren und Polemisieren.

Der Stil des Sechsertisches machte es Präsident Erdoğan schwer, seine größten Stärken auszuspielen: Polarisieren und Polemisieren. Seine Attacken prallten an der unspektakulären Fassade des Sechsertisches ab. Und zur Überraschung vieler blieben auch seine zahlreichen Versuche, das heterogene Bündnis zu spalten, ohne messbaren Erfolg. Insbesondere die İyi-Partei – eine Abspaltung des ultranationalistischen AKP-Koalitionspartners Milliyetçi Hareket Partisi (MHP) – widerstand den Avancen Erdoğans. Ihre charismatische Vorsitzende Meral Akşener blieb auf der Linie des Bündnisses: Der Zusammenschluss sei erfolgt, um die Türkei wieder auf den Weg der Rechtsstaatlichkeit zu bringen und die Verfassung zu reformieren. Erst wenn dies gelungen sei, würden die Bündnismitglieder wieder zu politischen Wettbewerbern werden.

Dass es im Innern des Bündnisses nicht so harmonisch zuging, wie es nach außen präsentiert wurde, zeigte sich indes bei verschiedenen Gelegenheiten. Akşener ließ immer wieder erkennen, dass sie eine entscheidende Rolle bei der Auswahl des gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten einnehmen wolle und sich nicht der Mehrheitsmeinung unterwerfen werde. Trotz ihres wichtigen Mitwirkens am Zustandekommen des Bündnisses weigerte sich Akşener, Kemal Kılıçdaroğlu als Kandidaten zu unterstützen. Die von ihr geäußerte Skepsis wird von großen Teilen der türkischen Öffentlichkeit geteilt: Kılıçdaroğlu sei zu farblos, zu wenig charismatisch, nicht in der Lage, einem Gegner wie Erdoğan auf offener Bühne Paroli zu bieten. Zudem hänge ihm das Image des Verlierers an, da er noch keine Wahl um ein öffentliches Amt gewinnen konnte.

Im Innern des Oppositions-Bündnisses ging es nicht so harmonisch zu, wie es nach außen präsentiert wurde.

Geeigneter seien die beiden populärsten Oppositionspolitiker des Landes: Der Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu und sein Pendant aus Ankara, Mansur Yavaş. Während Umfragen diese Sicht durchaus stützen, sprachen aus Sicht der CHP und der übrigen Mitglieder des Sechsertisches wichtige Argumente gegen beide Alternativkandidaten. İmamoğlu wurde am 14. Dezember 2022 wegen „Beleidigung des Hohen Wahlrats“ in erster Instanz verurteilt, ihm droht ein mehrjähriges Politikverbot. Yavaş, ehemaliges Mitglied der ultranationalistischen MHP, ist für die pro-kurdische HDP ein rotes Tuch und würde in einer Stichwahl kaum auf deren Unterstützung zählen können. Im erwartbar engen Wahlkampf dürfte das seine Siegchancen erheblich verringern.

Diese Debatten schienen am 2. März zu einem Ende gekommen zu sein. Medienwirksam präsentierten die sechs Parteivorsitzenden, inklusive Akşener, ein unterzeichnetes Dokument, das festhielt, dass sich alle Parteien auf einen gemeinsamen Kandidaten geeinigt hätten – ohne dessen Namen zu nennen. Doch während Kemal Kılıçdaroğlu schon an seiner Nominierungsrede feilte, holte Akşener zu einem letzten, verzweifelten Schlag aus. Mit großem Getöse verkündete sie am 3. März, den Sechsertisch zu verlassen, da dieser sich nicht auf die von ihr vorgeschlagenen Kandidaten İmamoğlu und Yavaş habe einlassen wollen. Tatsächlich verließ sie das Bündnis und nahm an dessen nächster Sitzung nicht teil. Es half auch nicht, dass İmamoğlu und Yavaş öffentlich erklärten, sie stünden für eine Präsidentschaftskandidatur gar nicht zur Verfügung. Kurz vor der Ziellinie war das Oppositionsbündnis gesprengt, und mit ihm die realistische Hoffnung auf einen demokratischen Machtwechsel.

Doch das türkische Drama hielt noch eine weitere Wendung bereit. Drei Tage nach dem Bruch mit dem Bündnis kehrte Akşener zum Erstaunen der Öffentlichkeit und der übrigen Parteivorsitzenden wieder an den Tisch zurück. Und nicht nur das: In einer kurzen, aber angesichts ihrer Vorgeschichte eindrucksvollen Demonstration der Geschlossenheit riefen die Parteivorsitzenden noch am selben Abend vor jubelndem Publikum Kemal Kılıçdaroğlu zum gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten aus.

Mit Kılıçdaroğlu soll ein neuer Stil in die türkische Politik einziehen.

Für die türkische Öffentlichkeit ist Kılıçdaroğlu ein bekanntes Gesicht. Der 74-jährige Alevit ist seit 2010 Vorsitzender der CHP, der Partei des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk. Kılıçdaroğlu beruft sich auf dessen Erbe, hat jedoch erkannt, dass die identitätsstiftende Kraft des „Kemalismus“ allein nicht mehr ausreicht, um politische Mehrheiten zu gewinnen. Er betont aus diesem Grund die sozialdemokratische Identität der CHP und deren Kompetenz auf zentralen Politikfeldern. Er steht für den Begriff Helalleşme, was sich frei als „Versöhnungspolitik“ übersetzten lässt. Kılıçdaroğlu will gesellschaftliche Gräben überwinden und die Debatte weglenken von religiösen und kulturellen Identitätsfragen. „Unser größtes Ziel ist es, der Türkei Wohlstand, Frieden und Freude zu bringen“, rief Kılıçdaroğlu nach der Verkündung seiner Kandidatur seinen Anhängern zu.

Mit ihm soll ein neuer Stil in die türkische Politik einziehen, das verdeutlicht auch der „Zwölf-Punkte-Fahrplan“, auf den sich der Sechsertisch im Zug der Kandidatenverkündung einigte. So soll auf dem Weg zum gestärkten Parlamentarismus das Land in kollegialer Abstimmung aller Parteien regiert werden, bis die Verfassungsänderung vollzogen sei. Dem Präsidenten der Republik werden die fünf übrigen Parteivorsitzenden als Vizepräsidenten zur Seite gestellt, denen sich später – ein offensichtliches Zugeständnis an Akşener – auch noch die Oberbürgermeister von Istanbul und Ankara anschließen sollen.

Ein fairer Wahlkampf ist nicht zu erwarten.

Die Karten liegen nun auf dem Tisch und der Wahlkampf kann beginnen. Es wird erwartet, dass Präsident Erdoğan in wenigen Tagen den 14. Mai als Wahltermin bekanntgeben wird. Dann kommt es mehr denn je darauf an, dass sich die Opposition geeint und gefestigt zeigt. Die Kapriolen Akşeners vor der Kandidatenverkündung stellen eine schwere Hypothek für das Oppositionsbündnis dar. Und ein fairer Wahlkampf ist ohnehin nicht zu erwarten. Die Regierung kontrolliert einen großen Teil der Medien, in denen die Opposition Schwierigkeiten hat, ihre Botschaften zu platzieren. Mit dem Istanbuler Oberbürgermeister İmamoğlu hat die türkische Justiz den aussichtsreichsten Oppositionskandidaten bereits vor den Wahlen aus dem Verkehr gezogen und ein anhängiges Verbotsverfahren gegen die pro-kurdische HDP könnte kurz vor dem Wahltermin noch einmal sämtliche Kalkulationen über den Haufen werfen.

Es ist angesichts dieser schwierigen Umstände erstaunlich, dass die Opposition in fast allen Umfragen deutlich in Führung liegt. Die Erklärung hierfür findet sich in der wirtschaftlichen Situation. Nach Jahren der sozioökonomischen Stagnation und einer Inflation von offiziell bis zu 85 Prozent rutschen immer mehr Türkinnen und Türken aus der Mittelschicht ab und die Armutsquote steigt. Das verheerende Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet verschärft die Auswirkungen dieser Krise. Die Weltbank schätzt allein die Schäden an Wohngebäuden auf mehr als 34 Milliarden Euro. Hinzu kommen Klagen über eine teils chaotische Koordinierung der Rettungsmaßnahmen in den ersten Tagen nach dem Erdbeben. Erdoğans Erfolgsrezept der religiös-identitären Bindung greift nicht mehr im gleichen Maße wie in der Vergangenheit und sein polternder Politikstil wirkt immer häufiger aus der Zeit gefallen.

Auch wenn der betuliche Kılıçdaroğlu in der türkischen Bevölkerung wenig Euphorie zu entfachen vermag: Für den Populisten Erdoğan ist der Versöhner Kılıçdaroğlu sein bislang härtester Gegner.