Wer sich fragt, warum Frankreich – schon wieder – brennt, muss zurückschauen in die Annalen der Fünften Republik. Es fällt nicht schwer, den Cocktail aus kolonialer Erblast, städtebaulicher Ignoranz, Rassismus und zentralstaatlicher Inkompetenz und die daraus erwachsende Langzeitwirkung zu ermessen. Während Supermärkte und Autos brennen, Amtsträger angegriffen werden und die Polizei schweres Gerät auffährt, zerfällt das Frankreich des Präsidenten Emmanuel Macron in immer unversöhnlichere Lager.

Die erschreckenden Bilder der nächtlichen Schlachten wirken auf viele Französinnen und Franzosen wie ein Werbeblock für die rechtspopulistische Partei Marine Le Pens. Die Resultate sind bereits messbar. Eine aktuelle Umfrage zur Zufriedenheit der Bürger mit den politischen Reaktionen auf den Tod des jungen Nahel sieht Marine Le Pen mit 39 Prozent klar vorne, gefolgt vom Innenminister der Macron-Partei, dem Hardliner Gerard Darmanin (34 Prozent). Der Erste Sekretär der Sozialistischen Partei, Olivier Faure, der mit Rufen zur Vernunft und Selbstreflexion auftrat, steht mit 22 Prozent am unteren Ende der Zustimmung, gefolgt von allen anderen Partnern der Linken, mit denen die Sozialdemokraten seit den Parlamentswahl 2022 das Parteienbündnis NUPES geschmiedet hat.

Dieser Stimmungstest erlaubt wenig Hoffnung für den von progressiver Seite bereits lange geforderten, breiten gesellschaftlichen Dialog mit den Banlieues. Während die Regierung Macron sichtbar nach der angemessenen Reaktion zwischen Härte und Gerechtigkeit sucht, geißeln Republikaner und die Parteien der extremen Rechten Migrantinnen und Migranten als „Barbaren“, und beschreien die von ihnen vorhergesagten Folgen einer „Masseneinwanderung“.

Auf der anderen Seite des politischen Spektrums vermeidet es Jean-Luc Mélenchon, Parteiführer der Linkspartei La France Insoumise, zur Ruhe zu rufen. Vielmehr entschuldigt er die Randalierer mit der Begründung, sie seien Vertreter einer unterprivilegierten Klasse, gemäß dem Motto „Nicht zuerst die Ruhe, sondern die Gerechtigkeit“. Die Sozialistische Partei, die Grünen und die Kommunisten verurteilen hingegen die Gewalt, mahnen zur Deeskalation, fordern dazu auf, gegen Rassismus und Segregation vorzugehen – und werden damit kaum wahrgenommen. Mélenchon sorgt damit für eine unheilvolle Spaltung zwischen seiner La France Insoumise und den anderen progressiven Parteien, was im Bündnis NUPES gerade für starke Turbulenzen sorgt.

Der empörende Tod des 17-jährigen Nahel und die darauffolgende Welle der Wut in allen Bevölkerungsteilen haben natürlich auch die Debatte um das Vorgehen der Polizei angefacht. Hier hat Frankreichs Demokratie die Geister, die sie rief, wohl endgültig nicht mehr unter Kontrolle. Oder gerade doch?

Nirgendwo in Europa sterben mehr Menschen bei Polizeieinsätzen im Rahmen von Verkehrskontrollen als in Frankreich.

Nicolas Sarkozy, der spätere konservative Präsident, verabschiedete sich als Innenminister Frankreichs (2002–2007) beim Thema Polizei vom Konzept einer bürgernahen „Alltagspolizei“ und setzte fortan auf mehr Konfrontation und Waffengebrauch. Studien belegen, dass französische Polizeistrategien konfrontativ angelegt sind und im Vergleich zu anderen europäischen Ländern verhältnismäßig wenig Wert auf Deeskalation legen.

Ein Gesetz aus dem Jahr 2017, welches der Polizei den Einsatz tödlicher Waffen flexibler auslegt, wurde vom ehemaligen Premierminister Bernard Cazeneuve (der im letzten Jahr die Parti Socialiste verlassen und vor kurzem seine eigene sozialdemokratische Bewegung gegründet hat) initiiert. Cazeneuve war unter François Hollande einer der verantwortlichen Minister für die Maßnahmen in Reaktion auf eine Reihe von islamistischen Anschlägen in Frankreich, unter anderem auch den im Juli 2016 in Nizza, bei dem ein Attentäter mit einem LKW 86 Personen töte.

Dieses Gesetz, und damit auch Cazeneuve, geraten dieser Tage ins Zentrum der Kritik und der Ex-Minister in Erklärungsnot. Denn der wehrhafte Staat hat in den letzten zwei Jahrzehnten eine Institution geschaffen, deren Kompass klar rechts dreht. Nirgendwo in Europa sterben mehr Menschen bei Polizeieinsätzen im Rahmen von Verkehrskontrollen als in Frankreich. Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass innerhalb der französischen Polizeikräfte Rassismus und die Diskriminierung von Migranten weit verbreitete Phänomene sind. So ist zum Beispiel die Zahl der Identitätskontrollen nach dem „Gesichtsprinzip“, also dem „Racial Profiling“ in Frankreich signifikant höher als in Deutschland. Als unabhängige Behörde hat der sogenannte „Ombudsmann der Rechte“ (Défenseur des Droits) in seinem Bericht festgehalten, dass in Frankreich eine junge Person, die als schwarz oder arabischstämmig wahrgenommen wird, eine zwanzigmal höhere Wahrscheinlichkeit hat, kontrolliert zu werden, als eine weiß anmutende Person.

Im Zuge der gewalttätigen Zusammenstöße zwischen Gelbwesten und der Polizei wurde von der Regierung Macron im Jahr 2021 zwar ein sicherheitspolitischer Gipfel einberufen. Wichtigste konkrete Ergebnisse waren jedoch nur eine Erhöhung des Budgets und bessere Arbeitsbedingungen für die Polizei. Gewalttaten der Polizei werden in Frankreich systematisch als isolierte Vorfälle behandelt. Obgleich es an massiver Kritik über die fehlende Unabhängigkeit der Polizeiaufsicht, welche dem Innenministerium untersteht, nicht mangelt, ist die französische Regierung bestrebt, am Status quo festzuhalten.

Gewalttaten der Polizei werden in Frankreich systematisch als isolierte Vorfälle behandelt.

Die Polizei radikalisiert sich zunehmend, was die sehr mächtigen Polizeigewerkschaften, denen bis zu 90 Prozent aller Polizisten angehören, lauthals artikulieren. Zwei der größten Gewerkschaften diskreditierten die randalierenden Jugendlichen nun als „Schädlinge“ und „wilde Horden“ und erklärten, die Polizei befinde sich „im Krieg“ und werde in den „Widerstand“ gehen. Reaktionen auf diese Stellungnahmen, die rhetorische Anleihen bei Antisemitismus und Kolonialzeit machen, bleiben von politischer Seite her zurückhaltend, außer seitens der Linken.

Der vormalige Innenminister Christophe Castaner, ein ehemaliger Sozialdemokrat und dann Macronist der ersten Stunde, hatte im Hinblick auf den Polizeiapparat noch zaghaft von Reformversuchen gesprochen. Unter dem Druck der Polizeigewerkschaften wurde er nicht wieder in sein Amt berufen. Ihm folgte im Juli 2020 der heutige Innenminister und Hardliner Gérald Darmanin.

Damit ist de facto die Polizei längst zu einer zentralen politischen Institution geworden, von der die delegitimierte, von multiplen Krisen geschüttelte Regierung meint, existentiell abhängig zu sein. So ist vorprogrammiert, dass künftige Konflikte dem sich wiederholenden Muster folgen werden: Der immer schriller werdende sprachliche Diskurs fördert, auf beiden Seiten, immer mehr Gewalt.

Emmanuel Macron und seine Minderheitsregierung sind nach einem Jahr erneuter Amtszeit durch die an den Wahlurnen entstandene politisch-institutionelle Situation quasi blockiert. Seit dem ebenfalls gewaltgeladenen Konflikt um seine Rentenreform ist zudem die französische Demokratie stark beschädigt. Der Präsident, eingepfercht zwischen rechtspopulistischer Stimmungsmache und linken Forderungen nach grundlegenden Reformpolitiken, steht kurz vor einer Regierungsumbildung. Die wachsende Polarisierung lässt ihm, dem Politiker, der einst meinte, Politik weder rechts noch links betreiben zu können, nur noch schlechte Optionen.