Österreichische Politik ist durchaus gewohnt an einen Zustand des nervösen Zusammenbruchs. Das politische System schlingert seit Jahren durch tiefe Krisen. Gegenwärtig wird das Land durch eine wackelige Koalition aus der rechtskonservativen Volkspartei und den eher linksliberalen Grünen regiert. Die Volkspartei, die im vergangenen Jahrzehnt einen scharfen Rechtskurs verfolgte, ist durch den Sturz ihres zeitweiligen Strahlemanns Sebastian Kurz nachhaltig zerrüttet. Die rechtsextreme Freiheitliche Partei (FPÖ) wiederum liegt in den Umfragen seit Monaten vorne. Das Schreckgespenst einer Orbanisierung durch eine Rechts-ultrarechts-Regierung treibt daher vielen längst Sorgenfalten auf die Stirn. In Niederösterreich, einer der wichtigsten Regionen des Landes, wurde gerade erst eine Weit-rechts-Regierung gebildet, die sich auf Amtsträger und Abgeordnete stützt, die weit ins Neonazi-Milieu hinein vernetzt sind. Und in dieser Lage rutscht jetzt auch noch die größte Oppositionspartei, die Sozialdemokratie, ins Chaos. Man kann auch sagen: gerade deswegen. Das Chaos ist die Konsequenz und zugleich auch die Ursache. Jüngste Wahlniederlagen und ein Niedergang in den Umfragen haben einen lange schwelenden Führungsstreit jetzt endgültig eskalieren lassen.

Der Streit an der Spitze hatte die SPÖ schon seit längerem gelähmt. Pamela Rendi-Wagner, die amtierende Parteivorsitzende, war seit Jahren den Sticheleien ihres innerparteilichen Rivalen Hans-Peter Doskozil ausgesetzt, des Chefs der burgenländischen Regionalregierung. Nach mehreren Regionalwahlen mit unerfreulichem Ergebnis, ging sie vor zwei Wochen in die Offensive und forderte ihren Rivalen ihrerseits heraus: Bei einem vorgezogenen Parteitag solle er sich stellen, damit die Führungsfrage final geklärt werden könne. Dabei hatte sie wohl gehofft, der Konkurrent würde kneifen – oder, falls nicht, bei einer Delegiertenkonferenz den Kürzeren ziehen. Doch ihr Gegenspieler nahm den Fehdehandschuh nach einigen Tagen auf und bekundete die Absicht, gegen die Parteichefin anzutreten – aber nur bei einem basisdemokratischen Mitgliedervotum, bei dem jeder Parteiangehörige mitstimmen könne. Dieser Forderung konnte sie nichts entgegensetzen. So sah alles nach einem Duell aus zwischen Rendi-Wagner, die die Mitte der Partei repräsentiert, und Doskozil, der als Anführer des rechten Parteiflügels gilt und sich am Vorbild der dänischen Sozialdemokratie orientiert.

Doch es kam ein wenig anders. Denn in der Partei herrscht aufgrund der zermürbenden Grabenkämpfe und wegen der recht glücklosen Performance der Parteichefin die Grundstimmung: weder er noch sie. Weite Teile der Funktionäre und der Mitglieder sind zornig auf das gesamte Parteiestablishment. Auf jene Teile der Parteielite, die es überhaupt so weit haben kommen lassen, besonders aber auch auf den Quertreiber aus dem Burgenland, der andauernd Unruhe in der Partei stiftet. Und so wurde der Ruf nach weiteren Kandidaten laut. Als erster warf ein junger Anti-Establishment-Kandidat aus Wien den Hut in den Ring, der Wirtschaftswissenschaftler Nikolaus Kowall. Zwei Tage später wiederum meldete der prominente und erfolgreiche Bürgermeister einer Kleinstadt, Andreas Babler, seine Kandidatur an.

Weite Teile der Funktionäre und der Mitglieder sind zornig auf das gesamte Parteiestablishment.

Beginnend mit Kowalls Ankündigung geschah dann noch etwas völlig Unerwarteteres: Binnen kaum mehr als 48 Stunden setzte ein regelrechter Run auf die SPÖ-Mitgliedschaft ein. 9 000 Menschen traten innerhalb weniger Tage der Partei bei – mehr als die österreichischen Grünen überhaupt Mitglieder haben (die SPÖ hatte bis dato 138 000 Mitglieder). Die Motive dahinter sind vielfältig: Angesichts der Aussicht auf einen neuerlichen Rechtsruck im Land sind viele bisher Unabhängige vom Motiv angetrieben, dagegen etwas zu unternehmen. Viele Menschen sind der Meinung, dass das Land eine energetische Sozialdemokratie braucht – und von Kowall oder Babler begeistert (Kowall hat seine Kandidatur derweil zurückgezogen, um Babler zu unterstützen). Vor dem „Stichtag“, Freitag, 23.59 Uhr, gab es richtige Beitrittspartys, bei denen sich lange Schlangen bildeten. Es wurde quasi über Nacht hip, SPÖ-Mitglied zu sein. Die Spitzenfunktionäre der Partei wurden von den Ereignissen überrollt und mussten die Regeln für die Abstimmung mehrmals ändern. Dabei haben sie keine besonders glückliche Figur gemacht, und agierten hilflos, als wäre die Abhaltung von „Primaries“ irgendeine Art von Raketenwissenschaft.

Da sich der Nebel nun einigermaßen gelichtet hat, ist einigermaßen klar geworden: Beim Führungs-Wettkampf werden sich drei aussichtsreiche Anwärter gegenüberstehen, die allesamt relativ untypisch für sozialdemokratische Parteiführer sind. Da ist einmal die amtierende Parteivorsitzende, Pamela Rendi-Wagner, die 2018 das Amt nach dem überraschenden Abgang von Ex-Bundeskanzler Christian Kern übernahm. Sie war damals eher die Kandidatin der urbanen, progressiven, linksliberalen Strömungen in der Partei. Eine Frau mit gewinnender Ausstrahlung, modern und jung, und jenseits der Parteiklüngel sozialisiert.

Sie war erst eineinhalb Jahre zuvor der SPÖ beigetreten, als sie Gesundheitsministerin wurde. Sie hatte es nicht leicht, als Parteichefin Autorität zu gewinnen, machte aber auch selbst eine lange Reihe von Fehlern, wirkte zunehmend übercoached und verlor viel von ihrer gewinnenden Ausstrahlung. Ihre größte Stärke ist ein bewundernswertes Stehvermögen. Aber die Zweifel, ob sie die richtige Person an der Spitze ist, sind nie verschwunden und haben zuletzt überhandgenommen. Ihr großes Manko ist, dass kaum jemand mehr glaubt, dass man mit ihr Wahlen gewinnen kann. Manche dieser negativen Beurteilungen mögen unfair sein, aber sie werden sich kaum mehr korrigieren lassen.

Hans-Peter Doskozil war ebenso wie Rendi-Wagner in der Regierung von Christian Kern Minister, und zwar für Verteidigung zuständig. Davor war er Polizist. Er kultivierte das Image des „Sicherheits“-Manns, insbesondere beim Migrationsthema. Gesellschaftspolitisch ist er am rechten Flügel der Partei, sozial- und wirtschaftspolitisch versucht er sich als links zu präsentieren. Er gibt sich als bodenständig, und ein wenig ist er das Angebot für all jene, die am liebsten in die Siebzigerjahre zurückwollen. Jenseits aller politischer Aspekte hat er noch ein weiteres Handicap: Aufgrund einer Erkrankung hat er seine Stimme verloren und kann nur mehr flüstern. Im Fernsehen ist er daher kaum zu verstehen. In einer Mediendemokratie ist das keine Petitesse.

Durch die andauernden Konflikte verlaufen die Gräben freilich nicht allein nach einer Links-rechts-Geografie. Die Parteichefin hat Anhänger vor den Kopf gestoßen, Doskozil hat sich ebenfalls viele Feinde gemacht. Die Zerwürfnisse sind in höherem Maße persönlich als ideologisch. Deswegen ist der dritte Kandidat, Andreas Babler, ein durchaus ernst zu nehmender Rivale – manche halten ihn auch schon für den eigentlichen Favoriten. Viele Funktionäre und Mitglieder, aus großen Städten, aber auch aus kleinen Gemeinden, wollen ihn wählen. Einen Großteil der jungen und neu beigetretenen Mitglieder hat er praktisch in der Tasche.

Durch die andauernden Konflikte verlaufen die Gräben freilich nicht allein nach einer Links-rechts-Geografie.

Babler, 50, gilt seit Jahren schon als eine Art grundsatztreuer, aber gemäßigter Parteirebell. Als er das Bürgermeisteramt in Traiskirchen, einer mittelgroßen Stadt nahe Wien, vor rund zehn Jahren übernahm, hatte die SPÖ in seiner Gemeinde 69 Prozent der Stimmen – er steigerte den Anteil noch einmal auf phänomenale 73 Prozent, und verlor auch fünf Jahre später nur unwesentlich (es blieben knapp 72 Prozent). Politisch gilt er als wichtige Figur des linken Parteiflügels. Aber das ist nicht die Erklärung für seinen Erfolg. Er ist ein geerdeter Typ, war früher Staplerfahrer in einer Mineralwasserfabrik, stieg im zweiten Bildungsweg auf. Er redet nicht wie die Politelite, sondern positioniert sich glaubwürdig als Sprecher der ganz normalen, einfachen Leute, die sich ansonsten heute nur selten von der Sozialdemokratie repräsentiert sehen und anderswo aus Protest oft die extreme Rechte wählen.

Viele sind der Überzeugung, ein Repräsentant einer „Kleine-Leute-SPÖ“ wie Babler könne der rechtsextremen FPÖ signifikant Paroli bieten, gerade auch, weil er Unzufriedene ansprechen kann sowie Wählerinnen und Wähler, die empfinden, dass sie keine Stimme haben. Die große Stärke von Babler ist, dass er die Wut über kritikwürdige Zustände mobilisieren kann. Seine humanitäre Gesinnung in der Migrationsfrage sichert ihm wiederum ebenso den Zuspruch der liberalen, urbanen Mittelschichten. Gewohnheitsmäßig wird er schon – das berühmte Brecht-Stück paraphrasierend – „Der Gute Mensch von Traiskirchen“ genannt.

Die Anhänger der beiden Hauptrivalen begannen erwartungsgemäß sofort, die „Wählbarkeit“ des Anti-Establishment-Herausforderers in Frage zu stellen, ungeachtet der Tatsache, dass sie – nimmt man etwa Meinungsumfragen – auch nicht gerade als Könige der „Electability“ dastehen. Die Botschaft ist nichtsdestoweniger: Wie kann ein populärer, aber unerfahrener Provinzbürgermeister einen Kanzlerwahlkampf gewinnen?

Jetzt liegen die Nerven einigermaßen blank. Viele Parteimitglieder sind frustriert angesichts der bitteren Streitereien, die eskaliert sind, viele sind aber auch elektrisiert durch die Aufbruchsstimmung und die Beitrittswelle. Im Parteivorstand liefern sich die Spitzenleute mittlerweile regelmäßig Schreiduelle, nur mit Mühe konnte man sich auf die Details des Auswahlverfahrens verständigen. Auch nur ein oberflächlicher Konsens in den verfeindeten Macht-Cliquen ist mittlerweile außerhalb des Vorstellbaren. Bis Mai soll das Mitgliedervotum abgeschlossen sein, danach soll ein Parteitag das Ergebnis absegnen.

Was aber eigentlich passiert, wenn die drei Kandidaten – oder zwei der drei – einigermaßen gleichauf liegen, steht noch in den Sternen. Es ist jedenfalls keine besonders komfortable Situation, in der sich die SPÖ derzeit befindet, auch wenn eine Aufbruchstimmung etwa durch den Sieg des Anti-Apparat-Kandidaten nicht völlig undenkbar erscheint. Dass am Ende nur Verlierer und kein echter Gewinner vom Platz geht, ist nicht ausgeschlossen. Zwischen Wiederaufstieg und Renaissance sowie katastrophalem Abstieg in die Bedeutungslosigkeit – das Spektrum der Möglichkeiten reicht zu allen Extremen.

Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.