Ob Energie- oder Verteidigungspolitik: Die Divergenzen zwischen Frankreich und Deutschland sind in den vergangenen Monaten offen zutage getreten. Abhilfe sollte das 60. Jubiläum des Elysee-Vertrags leisten. Die Inszenierung war zu diesem Zweck bis ins kleinste Detail vorbereitet worden. An Glanz und Pathos sollte es nicht fehlen: zunächst das Pantheon, dann der Festakt in der Sorbonne, eine Arbeitssitzung beider Kabinette und schließlich eine gemeinsame Erklärung. Der Rahmen war gegeben. Zwei Tage nachdem Olaf Scholz und Emmanuel Macron in einem Gastbeitrag der FAZSieben strategische Ziele zur Stärkung Europas“ aufgezeigt hatten, würden sie ein neues Kapitel deutsch-französischer Geschichte aufschlagen. Dazu kam es jedoch leider nicht. 

Das neunseitige Strategiepapier, das Scholz und Macron der Öffentlichkeit servierten, ist ernüchternd. Es strotzt vor vagen Formulierungen, fasst zahlreiche altbekannte Vorschläge zusammen und löst am Ende keine der Fragen, die beide Länder wenige Monate zuvor an den Rand des Nervenzusammenbruchs gebracht hatten. Ein neues Kapitel der deutsch-französischen Geschichte wird so nicht aufgeschlagen. Sollte man sich darüber aufregen? Ja, denn vor uns stehen beinahe drei, von nationalen Wahlen nicht unterbrochene Jahre. An sich viel Zeit, um ehrgeizige Projekte zu schmieden und Europa voranzubringen. Sind die jüngsten Entwicklungen überraschend? Nein, denn wer genauer hinschaut, merkt: Nach der Verschiebung des für den Herbst geplanten Deutsch-Französischen Ministerrats hatten beide Länder zwar guten Willen demonstriert. Doch Macrons Staatsbesuch in Washington im Dezember 2022 sowie der Beitrag von Scholz in der Januar-Ausgabe von Foreign Affairs („The Global Zeitenwende“) hatten deutlich gemacht: Die großen Divergenzen sind nicht vom Tisch.

Die Feierlichkeiten in Paris und der anschließende Ministerrat zeigen: 60 Jahre nach Abschluss des Elysee-Vertrags hat der Mythos der deutsch-französischen Freundschaft nichts an Strahlkraft verloren. Das ist gut so, denn Deutschland und Frankreich brauchen Momente des Innehaltens, in denen das Erreichte zelebriert wird. Doch dabei kann es nicht bleiben. In einer Welt, die weiter aus den Fugen gerät, ist die EU noch immer auf das Zusammenwirken beider Länder angewiesen. Das mag abgedroschen klingen, entspringt aber einer Logik, die sich seit Beginn der europäischen Integration bewährt hat. Letztes Beispiel: die Einrichtung des EU-Wiederaufbaufonds.

Deutschland und Frankreich haben sich schon immer als Schicksalsgemeinschaft verstanden.

In den vergangenen Monaten wurde immer wieder behauptet, der Krieg in der Ukraine verändere das geopolitische Gleichgewicht Europas. Das ist richtig, gleichzeitig aber zu kurz gegriffen. Die Herausforderungen, denen die EU gegenübersteht, sind globaler Natur und lassen sich nicht auf einen einzigen Konfliktherd beschränken. Mit dem Vertrag von Barcelona (vom 19. Januar 2023) haben Frankreich und Spanien zu Beginn des Jahres ein klares Signal ausgesendet: Unsere Zukunft spielt sich nicht nur in der Ukraine ab, sondern auch an vielen anderen Orten dieser Welt, nicht zuletzt im Mittelmeerraum und in Afrika. Zeit also, eine 360-Grad-Perspektive einzunehmen. Der im März 2022 verabschiedete „Strategische Kompass“ bietet eine solche Perspektive. Am Ende wird es aber darauf ankommen, ob die EU-Mitgliedsstaaten bereit sind, der Theorie auch Taten folgen zu lassen. Und genau das ist der Punkt. Deutschland und Frankreich haben sich schon immer als Schicksalsgemeinschaft verstanden. Eine Willensgemeinschaft sind sie aber noch lange nicht.

In seiner Rede an der Sorbonne bezeichnete Bundeskanzler Olaf Scholz Frankreich als „nation indispensable“. Der Wink war klar. Wer ihn verstehen wollte, konnte ihn auch verstehen. US-Außenministerin Madeleine Albright hatte nach 1998 den Ausdruck gebetsmühlenartig wiederholt, um Amerikas Rolle nach dem Kalten Krieg zu skizzieren. Der Ausdruck entspricht auch voll und ganz der deutschen Wahrnehmung: Während Frankreich in den transatlantischen Beziehungen schon immer eine Zusatzversicherung für die Verteidigung des Landes gesehen hat, sind sie für Deutschland eine umfassende Lebensversicherung. Knapp 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges hat sich daran nichts geändert: Die USA sind und bleiben für die Bundesrepublik die unentbehrliche Nation.

Dass Scholz an der Sorbonne gerade auf diesen Ausdruck zurückgriff, hatte also große symbolische Bedeutung. Doch er allein konnte nicht die Zweifel besänftigen, die in Frankreich im Kontext des Krieges immer lauter geworden sind: „Man hat das Gefühl, dass die gegenwärtige Krise keine Gelegenheit für Deutschland ist, europäischer zu werden, sondern eine Gelegenheit (...), seine transatlantischen Beziehungen zu stärken“, erklärte der französische Analyst Shahin Vallée wenige Tage nach den Feierlichkeiten in Paris. Der deutsch-amerikanische „Panzerpakt“ vom 25. Januar sollte ihm Recht geben. Wenn Macron an dieser Stelle vorgeprescht ist – wie von vielen kritisch angemerkt –, dann sicherlich auch, weil Deutschland zögerte und auf das grüne Licht der USA wartete.

Bei aller Kritik am Kurs von Scholz stellt sich aber die Frage, wieviel Macht das selbst- und machtbewusste Frankreich bereit wäre, mit Deutschland zu teilen, vor allem im hochsensiblen Sicherheits- und Energiebereich. Der Streit um den Weiterbau der Gasleitung Midcat (Herbst 2022) und die Entscheidung Frankreichs, sie durch einen „grünen Energie-Korridor“ mit Spanien zu ersetzen, hat in diesem Kontext Klarheit geschaffen: Was wir erleben, ist eine Machtprobe, ein Wettstreit um die Führung in Europa. Aktuell schwingt das Pendel eindeutig Richtung Frankreich. Deutschland wirkt abgehängt, selbst in Bereichen, in denen es lange die Nummer 1 gewesen ist: „Dieser Krieg und seine Folgen stellen das deutsche Wirtschaftsmodell in Frage. Das ist eine große Herausforderung für Ihr Land“, stellte kürzlich Laurence Boone, Frankreichs Staatssekretärin für Europa, fest, offensichtlich mit einer leichten Prise Schadenfreude.

Was wir erleben, ist eine Machtprobe, ein Wettstreit um die Führung in Europa.

Dass es knirscht und kracht, dennoch nie zum Bruch kommt, ist eine Konstante deutsch-französischer Geschichte. Nun könnte man argumentieren, dass der geopolitische Stress die historisch gewachsenen Bruchlinien zwischen beiden Ländern derart akzentuiert hat, dass die Reparaturarbeiten diesmal kaum möglich sein werden. Vor uns liegt tatsächlich viel Arbeit. Deutschland und Frankreich wissen aber, dass kein Weg aneinander vorbeiführt und dass sie in einem gewissen Sinne dazu „verdammt“ sind, zusammenzuarbeiten, ob sie es wollen oder nicht. Der französische Historiker Jacques Bariéty hatte zu seiner Zeit den Ausdruck „Vernunftehe“ geprägt, um die deutsch-französische Zusammenarbeit plastisch zu machen. Übertragen auf die jetzige Epoche könnte man nahezu von einer „Zwangsehe“ sprechen. Noch nie hat die oft heraufbeschworene Schicksalsgemeinschaft solch dramatische Züge angenommen und noch nie hat sie eine derart strategische Bedeutung gehabt.

Wir erleben aber einen Kanzler, der wenig an Frankreich interessiert ist, viel zögert, und die USA als Maß aller Dinge betrachtet. Ob sich etwas daran ändert, ist mehr als fraglich, zumindest solange Joe Biden im Weißen Haus sitzt. Frankreich scheint dies in Kauf genommen zu haben und übernimmt die Führung. Nachdem Emmanuel Macron zwei Jahre lang Deutschland umgarnt hatte, beschloss der französische Staatspräsident im Sommer 2019 einen Kurswechsel: „die Zeit der fruchtbaren Konfrontation“. Der EU-Gipfel in Sibiu im Mai 2019 bot ihm eine erste Gelegenheit, die neue Methode auszuprobieren: Im Vorfeld des Treffens hatte Macron eine Allianz aus acht Ländern geschmiedet, um sein Ziel – dass in EU-Haushalten mindestens 25 Prozent der Mittel dem Kampf gegen den Klimawandel gewidmet werden – durchzuboxen. Deutschland, das einen anderen Weg gehen wollte, war am Anfang nicht dabei. Nach wenigen Tagen musste es sich der von Frankreich angeführten Gruppe anschließen. Der Druck war zu groß geworden.

Seitdem gehört die Bildung von Ad-hoc-Koalitionen zu den Kernaspekten von Macrons Europapolitik. Sie ist Teil einer Strategie, deren Ziel darin besteht, durch den Schulterschluss mit anderen EU-Ländern Druck auf Deutschland auszuüben. Vieles spricht dafür, dass Macron in den nächsten zwei bis drei Jahren auf diesem Kurs beharren wird. Deutschland ist gewarnt.

Am Ende sind es aber auch die kleinen Schritte, die das große Rad der Geschichte in Bewegung setzen. An „deutsch-französischer Kreativität“ fehlt es an dieser Stelle nicht. Angesichts ihrer jetzigen Divergenzen sollten beide Länder verstärkt auf diese Karte setzen. Der Aachener Vertrag sowie die deutsch-französische Erklärung vom 22. Januar 2023 bieten hierfür gute Voraussetzungen. Beide wimmeln von kleineren, weniger konfliktgeladenen Projekten, die – wenn sie zielgerichtet umgesetzt und mit den entsprechenden Ressourcen unterfüttert werden – Deutschland und Frankreich ein Stück näherbringen sollen und Europa ein Stück handlungsfähiger machen können. Darin liegt vielleicht aktuell der Schlüssel der deutsch-französischen Beziehungen.