In den Augen der politischen Führung im Kreml bestand die grundlegende Voraussetzung für einen erfolgreichen Krieg gegen die Ukraine nicht allein in der unterstellten Übermacht und Überlegenheit der russischen Streitkräfte gegenüber der ukrainischen Armee. Nein: Die in zahlreichen vor dem Krieg abgegebenen Erklärungen deutlich herauszuhörende Vorstellung war, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer nicht kämpfen, sondern die Russen freudig empfangen würden, und dass die ukrainische Bevölkerung „befreit“ und „beschützt“ werden müsse.

Die Realität beweist das Gegenteil. Nicht nur die Streitkräfte setzen sich vehement zur Wehr. Auch die ukrainische Bevölkerung demonstriert Einheit und Widerstand. Das widerspricht entschieden der Idee von einem „Graben zwischen den Menschen in der Ost- und der Westukraine“, die von der russischen Propaganda seit Jahren verbreitet wird. Vertreten die Menschen in der Ukraine nach wie vor unterschiedliche Ansichten mit Blick auf ukrainische Politikerinnen und Politiker, die wirtschaftliche Entwicklung und sogar die Außenpolitik? Ja, natürlich, genau wie in jeder anderen Demokratie. Und doch sind den neuesten Umfragen vom März zufolge 76 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer der Meinung, dass das Land den richtigen Kurs einschlage. Im Februar lag die Zahl gerade mal bei 25 Prozent. Zudem sind sie nicht bereit, die Krim und die besetzten Gebiete von Luhansk und Donezk aufzugeben: 86 Prozent vertreten die Ansicht, es sollte mit allen Mitteln darum gekämpft werden, den Donbas zurückzugewinnen. 80 Prozent denken dasselbe in Bezug auf die Krim. Auch diese Zahlen sind höher als vor Kriegsbeginn.

In den neuesten Umfragen vom März sind 76 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer der Meinung, dass das Land den richtigen Kurs einschlage.

Die russischen Strategen waren der felsenfesten Überzeugung, dass sich die russischsprachigen Städte wie Charkiw und Odessa als erste ergeben würden. Noch kurz vor dem Einmarsch hatte in den sozialen Medien in Odessa ein Gerücht die Runde gemacht: Der Bürgermeister habe eine Million Rosen gekauft, um die russischen Soldaten zu begrüßen. Selbst der ukrainische Präsident hatte vor Kriegsbeginn in einem Interview mit der Washington Post erklärt, dass Charkiw von der russischen Föderation besetzt werden könnte. Diese Aussage stieß bei den politisch Verantwortlichen und anderen politisch Aktiven vor Ort auf heftigen Widerspruch. Sie versicherten, dass die Stadt zum Widerstand bereit sei und in der Stadt eine pro-ukrainische Stimmung herrsche.

In Expertenkreisen wird nun vermutet, dass die unbarmherzige Bombardierung Charkiws eine Bestrafung für die im Januar öffentlich erklärte Haltung sein könnte. Auch in Odessa ergab eine in der dritten Kriegswoche durchgeführte Umfrage, dass 91 Prozent die Meinung vertreten, dass dies ein russischer Angriffskrieg gegen die Ukraine sei. Der Aussage, dass Russland die Ukraine von „Nazis“ befreien müsse, widersprachen 74 Prozent. Und 93 Prozent unterstützen die Maßnahmen von Präsident Wolodymyr Selenskij.

Auch der ursprüngliche russische Plan, dass die besetzten Städte schnell dem „Krim-Szenario“ folgen würden, einschließlich fingierter Referenden und der Ernennung von russischen Marionetten als Stadtoberhäupter, funktionierte nicht. Die Menschen in den besetzten Städten Cherson, Kachowka und Enerhodar kommen täglich zu pro-ukrainischen Demonstrationen gegen die russischen Besatzungskräfte zusammen. Die Bürgermeister mehrerer Städte in der Ostukraine, darunter auch der von Melitopol, wurden entführt. Die Bewohnerinnen und Bewohner dieser Städte verweigern der neuen „Führung“ ihre Unterstützung.

Die russischen Strategen waren der felsenfesten Überzeugung, dass sich die russischsprachigen Städte wie Charkiw und Odessa als erste ergeben würden.

2013 versammelten sich hunderttausende Ukrainerinnen und Ukrainer nach der brutalen Zerschlagung studentischer Proteste auf dem Maidan in Kiew. 2022 kommen Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer – unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion oder bevorzugten Sprache – zur Unterstützung jener Städte zusammen, die unter konstantem Beschuss stehen. Die neu gegründete Territorialverteidigung der Ukraine, einer Organisation der ukrainischen Streitkräfte bestehend aus Reservisten sowie ukrainischen und internationalen Freiwilligen, plante im Januar noch eine Werbekampagne, um 100 000 Reservisten zu rekrutieren. Jetzt im März ist es fast unmöglich, sich ihr anzuschließen, weil sie inzwischen über die doppelte Truppenstärke verfügt. Wie schon 2014 leisten Freiwillige – die nun aber über Erfahrungen aus acht Jahren Krieg gegen Russland verfügen – Hilfe und sorgen für Nachschub an die Front. Der entscheidende Faktor ist jedoch, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer an ihre Streitkräfte glauben. Genau dieses Vertrauen und die Unterstützung aus der Bevölkerung machen die Situation für den Kreml so schwierig.

Bei der Erarbeitung von Strategiepapieren für die ukrainischen Streitkräfte oder für Diplomaten stellten wir immer ein wichtiges Element heraus: das Personal und deren Motivation. Luftüberlegenheit oder eine Überzahl an Soldaten und Raketen sind zwar wichtig. Aber einen Vorteil bringen sie nur, wenn die Truppen bereit sind, zu kämpfen – und dazu gehört, dass sie verstehen, wofür sie kämpfen sollen. Drei Wochen nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine scheint es, als sei die russische Armee trotz ihrer militärischen Überlegenheit verwirrt und demoralisiert. Leider trifft das nicht auf ihre Führung zu.

Der entscheidende Faktor ist, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer an ihre Streitkräfte glauben. Genau dieses Vertrauen und die Unterstützung aus der Bevölkerung machen die Situation für den Kreml so schwierig.

Deren Fehleinschätzungen sind offensichtlich. Sie beruhen auf Analysen der Situation in der Ukraine von 2014: erhebliche Unterstützung durch die dortigen pro-russischen politischen Parteien, eine schlecht funktionierende ukrainische Armee, verbreitete Unkenntnis in der Bevölkerung von den undemokratischen Prozessen in Russland selbst. Aber in den acht Jahren seit der Besetzung der Krim und dem Kriegsausbruch im Donbas hat sich das Stück für Stück geändert. Der Wunsch der Ukrainerinnen und Ukrainer nach Frieden darf nicht mit der Bereitschaft aufzugeben verwechselt werden. Das Bedürfnis nach Stabilität ist nicht mit der Akzeptanz der Unterdrückung des demokratischen und souveränen Willens der Bevölkerung gleichzusetzen.

„Es ist unser Land, es ist unsere Heimat.“ „Wir greifen niemanden an und streiten um nichts. Wir verteidigen unsere Familie.“ „Fragt nicht, wie es meiner Familie geht, denn meine Familie sind 44 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer.“ Das sind in diesen Tagen die beliebtesten Parolen in der Ukraine. Das ist weder Nationalismus noch übertriebener Patriotismus. Das ist die Art von Widerstandskraft, über die in Expertenkreisen und in der Politik im vergangenen Jahr diskutiert wurde. Im September 2021 verabschiedete die ukrainische Regierung ihre erste Nationale Resilienzstrategie. Nicht einmal ein halbes Jahr später wird sie nun bereits auf ihre Tauglichkeit geprüft.

Aus dem Englischen von Ina Goertz