Investitionen in die ukrainische Produktionswirtschaft tragen entscheidend zur Widerstandsfähigkeit des Landes in Kriegszeiten und zur Nachhaltigkeit seines Wiederaufbaus bei. Auf der kürzlich in Berlin abgehaltenen Ukraine Recovery Conference erklärte die ukrainische Wirtschaftsministerin Julija Svyrydenko, ihr Land benötige ein jährliches Investitionsvolumen von 10 bis 30 Milliarden Dollar, um das BIP-Wachstum zu erreichen, das nötig ist, um sich von der verheerenden Invasion Russlands zu erholen. Das hochkarätige Auditorium westlicher Führungskräfte und Entwicklungsbanker ging vermutlich davon aus, dass Svyrydenko damit ausländische Direktinvestitionen (ADI) meinte, denn die Frage der Gewinnung externer Investoren für die am Boden liegende ukrainische Wirtschaft war mit Abstand das beherrschende Thema der Konferenz.
Dass ausländische Direktinvestitionen wichtig sind, kann niemand leugnen. Wer sich allzu stark darauf fokussiert, läuft allerdings Gefahr, die wirtschaftspolitischen Perspektiven für einheimische Unternehmen und Investoren zu verengen. Häufige ideologische Begleiterscheinungen einer „ADI-freundlichen“ Politik sind eine maximale Marktöffnung und das Vermeiden von Local Content – also des im Zielland erbrachten Anteils an der Gesamtwertschöpfung – und industriepolitischen Maßnahmen. Die ukrainischen Unternehmen sind jedoch mit massiven kriegsbedingten Markteinbrüchen konfrontiert und brauchen eine wirksame staatliche Politik, um ihre Wettbewerbsposition gegenüber den EU-Ländern zurückzugewinnen.
Selbst unter den furchtbaren Rahmenbedingungen des Krieges investieren ukrainische Unternehmen derzeit offenbar aktiver in die Wirtschaft ihres Landes als ausländische Unternehmen. Ministerin Swyrydenko gab bekannt, dass ihr Land 2023 ausländische Direktinvestitionen im Umfang von 4,3 Milliarden US-Dollar erhalten hat – ein enormer Anstieg gegenüber den mageren 250 Millionen US-Dollar von 2022 und ein großer Schritt in Richtung des Vorkriegsniveaus von 7,95 Milliarden US-Dollar. Für 2023 liegen zwar keine Angaben zu inländischen Investitionen vor, aber für 2022 meldeten ukrainische Unternehmen Kapitalinvestitionen in Höhe von 10,5 Milliarden US-Dollar – 2021 lagen sie noch bei 20 Milliarden US-Dollar.
Dass ukrainische Unternehmen eher bereit sind, weitere Investitionen im Inland zu tätigen, ist wenig überraschend, denn sie haben jahrzehntelang in ihre bestehenden Anlagen investiert und verfügen über deutlich weniger Alternativen, wie sie ihr Kapital einsetzen können. Und ihre Risikobereitschaft ist wirklich beachtlich: Im von Raketen zerstörten Charkiw und in Nikopol – unweit eines russisch besetzten Atomkraftwerks auf der anderen Seite des Flusses Dnipro – investieren Fabriken derzeit in neue Produktionsanlagen.
Es gibt eine enorme Finanzierungslücke für die großen Kapitalprojekte, die erforderlich sind, um die ukrainische Industrie wiederzubeleben.
Auch unter den ausländischen Direktinvestoren waren 2023 diejenigen Unternehmen die größten, die bereits Anlagen in der Ukraine hatten, wie Kronospan Wood Panels oder Carlsberg Brewing. Das wichtigste in Berlin vorgestellte ADI-Projekt wurde bereits bei der Ukraine Recovery Conference in London im vergangenen Jahr besonders gelobt: der vom irischen Baustoffhersteller Kingspan in der Region Lwiw errichtete Fabrikkomplex. Die nächsten ADI-Erfolgsgeschichten dürfte es wohl im Verteidigungssektor geben, aber die meisten Gelder existieren bisher nur in Form von Zusagen.
Die Ukraine sollte unbedingt darüber nachdenken, wie sie attraktive Bedingungen für künftige ausländische Direktinvestitionen schaffen kann, und jede sich während des Krieges bietende Gelegenheit nutzen, um neue Investoren anzuziehen. Aber wäre es angesichts der enormen Herausforderungen nicht sinnvoll, vorrangig das Kapital der einheimischen Unternehmen zu mobilisieren, die gegenwärtig den Löwenanteil der Kriegsinvestitionen stemmen?
Die Bemühungen der ukrainischen Regierung, einheimischen Unternehmen im Rahmen des Programms „Made in Ukraine“ mehr Mittel zur Verfügung zu stellen, verdienen Anerkennung. Das von staatlichen Banken subventionierte Kreditprogramm 5-7-9 (der Name bezieht sich auf die angebotenen Vorzugszinssätze) ist in Kriegszeiten finanziell gut ausgestattet. Zudem ist Kiew dabei, in enger Zusammenarbeit mit Gebern und internationalen Finanzinstitutionen mehr Finanzmittel in das Bankensystem zu lenken. Zudem hat die Ukraine ähnlich wie ihre EU-Nachbarn Anreize für die Errichtung von Industrieparks geschaffen und bietet zusätzliche Anreize für Investoren, die mehr als zwölf Millionen Dollar investieren. Den ukrainischen Landwirten werden Rabatte für den Kauf von Gerätschaften aus inländischer Produktion gewährt.
Diese großartigen Anstrengungen sollten jedoch nur der Auftakt sein. Es gibt eine enorme Finanzierungslücke für die großen Kapitalprojekte, die erforderlich sind, um die ukrainische Industrie wiederzubeleben und zu modernisieren und all das zu liefern, was für den Wiederaufbau gebraucht wird. Im Augenblick bemüht sich zum Beispiel ein ukrainischer Investor um eine Finanzierung in Höhe von 180 Millionen US-Dollar, die er mit seinen eigenen 80 Millionen US-Dollar zusammenlegen will, um in der Ukraine die erste Flachglasfabrik seit Sowjetzeiten zu errichten. Vor dem Krieg importierte die Ukraine den größten Teil ihres Flachglases aus Russland und Belarus. Heute braucht sie riesige Mengen, um beschädigte Häuser zu reparieren. Die Metallurgie-Riesen Metinvest und Interpipe – Eigentümer sind die ukrainischen Oligarchen Rinat Achmetow beziehungsweise Andrii Pintschuk – haben einen Finanzierungsbedarf in Höhe von 3,6 Milliarden Dollar für Investitionen in umweltfreundlichen Stahl angemeldet, um zu verhindern, dass sie aufgrund des CO2-Grenzausgleichsmechanismus vom EU-Markt ausgeschlossen werden. Insgesamt beziffert der ukrainische Metallurgieverband den Bedarf an solchen Dekarbonisierungsinvestitionen in der gesamten Branche auf 15 Milliarden US-Dollar.
Die ukrainischen Hersteller sehen in der schwachen Verbrauchernachfrage eines der Haupthindernisse für ihre wirtschaftliche Erholung.
Viele politische Entscheidungsträger und Analysten halten eine ukrainische Entwicklungsbank für die geeignete Institution, um die für so ehrgeizige Projekte benötigten „langfristigen“ Gelder bereitzustellen. Kiew sollte mit seinen westlichen Partnern zusammenarbeiten, um die Startmittel und Garantien zu beschaffen, die benötigt werden, um ukrainische Unternehmen in dieser Größenordnung zu finanzieren.
Neben der Bereitstellung von Finanzmitteln sollte die Regierung in Kiew auch darüber nachdenken, welche politischen Hebel sie in Bewegung setzen kann, um mehr Ressourcen zu den einheimischen Unternehmen zu lenken. Untersuchungen haben ergeben, dass ukrainische Hersteller 80 Prozent der für den Wiederaufbau des Landes benötigten Baumaterialien (im Wert von fast 40 Milliarden Dollar) liefern könnten. Doch mit der Zahl an staatlichen Ausschreibungen für den Wiederaufbau steigt auch der Anteil der zugekauften Importgüter. Die ukrainischen Hersteller sehen in der schwachen Verbrauchernachfrage eines der Haupthindernisse für ihre wirtschaftliche Erholung. Deshalb sind staatliche Ausschreibungen für ihr Überleben besonders wichtig.
Die radikalste Möglichkeit, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, bestünde für die Ukraine darin, eine sogenannte National Security Exemption zu erklären, sich damit von ihren Verpflichtungen gegenüber der Europäischen Union und der Welthandelsorganisation freizumachen und zudem ein Gesetz zu erlassen, das alle ausländischen Unternehmen zur Auftragserfüllung im ausschreibenden Land verpflichtet. Ein solches einseitiges Vorgehen könnte jedoch die so wichtigen Beziehungen der Ukraine zur EU zusätzlich belasten. Alternativ könnte Kiew versuchen, für die Zeit des Krieges und der frühen Wiederaufbauphase mit der EU eine befristete Local Content-Vorgabe auszuhandeln. Wenn man festlegt, dass ein bestimmter Mindestanteil (zum Beispiel 60 bis 70 Prozent) der Baustoffe und anderer Schlüsselgüter, die in der Ukraine schon jetzt problemlos produziert werden, in der Ukraine beschafft werden muss, würde dies das Vertrauen der ukrainischen Unternehmen in den Marktzugang stärken und zu mehr inländischen Investitionen anregen. Es würde auch die Wiederherstellung der Steuerbasis beschleunigen, aus der schließlich später die Mittel für die Rückzahlung der Wiederaufbaukredite der Ukraine an die EU bezahlt werden.
Eine ukrainische Entwicklungsbank könnte dazu beitragen, dass einheimische Unternehmen in diesem jungen Wirtschaftszweig zum Zuge kommen.
Der neu entstehende ukrainische Rohstoffsektor braucht zum einen mehr Finanzmittel und zum anderen eine zielgerichtete Industriepolitik. Auf der Ukraine Recovery Conference äußerten sich EU-Vertreter begeistert über die gewaltigen Rohstoffvorräte der Ukraine, die nach einer Schätzung über 22 der 30 kritischen Mineralien auf der Brüsseler Liste verfügt, und betonten, wie wichtig diese Vorräte für die „strategische Autonomie“ der Union und gar für „die europäische Souveränität“ seien. Alle Vortragenden waren sich einig, dass ein möglichst großer Teil der Wertschöpfung in der Ukraine erwirtschaftet werden solle. Doch wie lässt sich zuverlässig dafür sorgen, dass die notwendigen Anreicherungs-, Verarbeitungs- und Produktionsanlagen gebaut werden? Wird es genügend ausländische Direktinvestitionen geben, und werden die Investoren motiviert sein, mehr zu tun, als nur den Transport von rohem Erz über die Grenze zu erleichtern?
Eine ukrainische Entwicklungsbank könnte dazu beitragen, dass einheimische Unternehmen in diesem jungen Wirtschaftszweig zum Zuge kommen und die wertschöpfungsintensive Verarbeitung Priorität erhält. Außerdem braucht es Local Content-Vorgaben, damit bei ausländischen Direktinvestitionen, die in diesen Sektor fließen, ukrainische Zulieferer einbezogen werden und damit diese Investitionen in der ukrainischen Wirtschaft eine Tiefenwirkung entfalten.
Die Ukraine strebt den Beitritt zum europäischen Binnenmarkt an und sollte sich nicht auf unrealistische Modelle der autarken Selbstversorgung verlegen. Den Schwerpunkt stärker auf inländische Investoren und Unternehmen zu legen, ist obendrein angebracht und folgerichtig in Zeiten, in denen Russland ausländische Investoren rasch mit neuen Zerstörungsaktionen verschrecken kann. Wenn man jetzt die inländischen Kapazitäten stärkt, trägt das dazu bei, dass die ukrainischen Unternehmen für den Wettbewerb und die Zusammenarbeit gerüstet sind, wenn ausländische Direktinvestoren tatsächlich in dem von der Ukraine Recovery Conference geforderten Umfang einsteigen.
Aus dem Englischen von Christine Hardung