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Als am 6. Oktober türkische Truppen die Grenze Richtung Syrien überschritten, war das Entsetzen in Europa groß. Von einem „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“ war die Rede, durchaus seriöse Medien schrieben von „Erdogans Krieg gegen die Kurden“ – zumindest in den Überschriften verzichtete man auf die Unterscheidung zwischen Organisationen wie der YPG und den Kurden als Volk. In der Folge verhängten mehrere europäische Länder ein Waffenembargo gegen die Türkei.
Dagegen wirkt die sonst so tief gespaltene türkische Gesellschaft ungewohnt geschlossen: Fußballspieler salutieren bei internationalen Spielen, Popstars äußern sich solidarisch. Sogar Vertreter der christlichen und jüdischen Gemeinden beteten gemeinsam für die türkischen Soldaten in Syrien: „Wir beten für unsere Soldaten bei der Entwicklung unserer Nation und unterstützen sie“, sagte Yusuf Cetin, Patriarch der syrisch-orthodoxen Kirche von Istanbul. In den sunnitischen Moscheen war die Unterstützung ohnehin groß. Selten hat in den vergangenen Jahren in der Türkei ein Thema für so wenig Dissens gesorgt wie die Offensive in Syrien.
Man könnte hinter all dem die Propaganda der Regierungspartei AKP vermuten. Tatsächlich reicht diese Wagenburg-Mentalität weit zurück. Erdogan bedient sich ihrer und nutzt sie für seine Politik.
Wirtschaftssanktionen oder die Ankündigung des Volkswagen-Konzerns, das geplante Werk nahe Izmir zu überdenken, haben wenig Wirkung. Sie tragen im Gegenteil zur Erzählung bei, die Türkei sei von Feinden umzingelt.
Das Wir-gegen-Alle-Gefühl ist Teil des Gründungsmythos der türkischen Republik. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg sollten die Reste des Osmanischen Reiches aufgeteilt werden. Große Teile der kleinasiatischen Küste sollten an Griechenland und Italien fallen, der Südosten an Frankreich. Dass es Kemal Atatürk entgegen aller militärischen Wahrscheinlichkeit gelang, in einem vierjährigen Krieg die Alliierten zu besiegen und 1923 schließlich einen modernen, säkularen Staat zu gründen, weiß in der Türkei jedes Schulkind. In der Folge sollte ein strenger Zentralismus jegliche Abspaltungsbewegungen verhindern. Der Garant dafür war und ist bis heute eine starke Armee, die noch immer hohes Ansehen in der Bevölkerung genießt.
Aus dieser Zeit rührt auch ein tief sitzendes Misstrauen gegen jegliche Pläne ausländischer Mächte, die Region zu gestalten. Vor allem Antiamerikanismus ist in der türkischen Gesellschaft tief verankert und lässt sich jederzeit mobilisieren. Laut einer Umfrage der Kadir-Has-Universität in Istanbul vom vergangenen Februar sehen 81 Prozent der Türken die USA als „eine Bedrohung“ und nur die Hälfte der Türken hält eine NATO-Mitgliedschaft des Landes für nützlich.
Präsident Trump, der im Sommer 2018 tatsächlich mit ein paar Tweets eine Finanzkrise in der Türkei auslöste, dient einigen als ein weiterer Beleg dafür, dass mehr oder weniger geheime Kräfte die Türkei schwächen wollen.
Missverstanden fühlen sich viele Türken zudem im jahrelangen Kampf gegen die PKK. Während die offiziell als Terrororganisation eingestufte „Arbeiterpartei Kurdistans“ unter manchen Linken in Europa Sympathien genießen mag, herrscht in der Türkei breiter Konsens über nahezu alle Schichten hinweg, dass die PKK, wenn nötig militärisch, besiegt werden muss.
Viele Türken haben das Gefühl, der Westen distanziere sich nicht deutlich von der PKK. Die tendenziell empathische Berichterstattung westlicher Medien für die Sache der Kurden nährt das Gefühl der Entfremdung nur weiter.
Die größte Oppositionspartei CHP kämpft gegen dieses Narrativ nicht an. Der Vorsitzende der Partei, Kilicdaroglu, kritisiert zwar die Syrien-Politik Erdogans im Allgemeinen und fordert seit längerem eine Wiederannäherung an den Machthaber Assad – der Militäreinsatz im Besonderen wird aber als notwendiger Schritt gegen Terroristen gesehen.
Notwendig wäre ein gesellschaftlicher Diskurs, der auch eine kritische Aufarbeitung der Gründungsjahre der Republik und den Abbau des Rechtsstaats in der jüngeren Vergangenheit umfasst.
Jahrzehntelang waren es vor allem die säkularen Machthaber, die für eine harte anti-kurdische Politik standen, und kurdische Autonomie-Bestrebungen brutal unterdrückten. Ironie der Geschichte: Es war ausgerechnet der amtierende Präsident Erdogan, der in seinen Anfangsjahren eine Annäherung an die Kurden suchte.
Die ultranationalistische MHP, sowie deren Abspaltung, die Iyi-Partei dagegen geben sich alle Mühe, Erdogan rechts zu überholen. Trumps Brief solle Erdogan „umgehend in den Papierkorb werfen“, sagte zum Beispiel Meral Aksener, Vorsitzende der Iyi-Partei.
Das ist auch ein Grund, weshalb Wirtschaftssanktionen oder die Ankündigung des Volkswagen-Konzerns, das geplante Werk nahe Izmir zu überdenken, meist wenig Wirkung haben. Sie tragen im Gegenteil zur Erzählung bei, die Türkei sei von Feinden umzingelt.
Ändern ließen sich solche Narrative höchstens von innen aus der türkischen Gesellschaft heraus. Doch von den etablierten Parteien lehnte nur die pro-kurdische HDP den Militäreinsatz in Syrien ab. Ihr wird aber von Erdogans AKP ohnehin immer wieder unterstellt, Verbindungen zur PKK zu unterhalten. Von der selbsterklärt sozialdemokratischen CHP kritisierte einzig Canan Kaftancıoğlu, die auch den Wahlkampf des neuen Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu geleitet hatte, den Umgang mit Kritikern der Offensive. „Wie kann es sein, dass die, die den Frieden verteidigen, als Verräter abgestempelt werden?“, fragte sie in der parteinahen Zeitung Cumhurriyet. In den vergangenen Tagen sind rund 190 Menschen vorübergehend verhaftet worden – unter anderem, weil sie die Offensive auf Social Media als „Krieg“ bezeichnet hatten.
Notwendig wäre ein gesellschaftlicher Diskurs, der auch eine kritische Aufarbeitung der Gründungsjahre der Republik und den Abbau des Rechtsstaats in der jüngeren Vergangenheit umfasst. Das ist vielleicht das Tragischste an der Kriegsbegeisterung in der Türkei: Durch die mittlerweile nahezu gleichgeschaltete Presse kann genau das nicht mehr stattfinden. Die Regierung hat in den vergangenen Jahren das Umfeld zementiert, in dem schon immer Verschwörungstheorien und Schwarz-Weiß-Denken am besten gedeihen.
Was also kann die EU tun, um diesen Prozess zu unterstützen? Man sollte sich zumindest bewusst sein, dass Sanktionen meist den gegenteiligen Effekt haben. Druck von außen bestätigt viele Türken in ihrem Weltbild, wonach das Land von Feinden umgeben ist. Mehr Wirkung entfaltet langfristig eine Unterstützung der türkischen Zivilgesellschaft und eine Förderung des Dialogs verschiedener gesellschaftlicher Gruppen.