Als lebenslanger Keynes-Anhänger sollte ich eigentlich von der zukünftigen Wettbewerbsfähigkeit Europas begeistert sein. Mario Draghi, der frühere Präsident der Europäischen Zentralbank, hat auf Bitten der EU-Kommission einen Strategiebericht zum Wirtschaftsumbau in Europa vorgelegt, der massive öffentliche Investitionen von bis zu 800 Milliarden Euro pro Jahr vorsieht. Dieser Bericht markiert das Ende einer langen wirtschaftspolitischen Durststrecke, nachdem der neoliberale Impuls in Europa erloschen, aber durch keine neue Strategie ersetzt worden war. Wenn die grundlegenden Empfehlungen des Draghi-Berichts umgesetzt werden, sollte die EU innerhalb eines Jahrzehnts die Integration und Modernisierung der Großindustrie, eine starke Erhöhung der Investitionen und erneute Produktivitätssteigerungen erleben. Wenn Europa im 21. Jahrhundert nicht zum reinen Schachbrett des Wirtschaftswettbewerbs zwischen den USA und China werden wolle, so Draghi, dann müsse es zum dritten großen Player aufsteigen.
Während Europas politische Führungsschicht Draghi und sich selbst gratuliert, besteht jedoch weiterhin ein großes Problem. Denn auch wenn Europa jetzt lernt, Wachstum durch öffentliche Investitionen zu schaffen, muss es immer noch lernen, wie man Wirtschaftskriege führt – nicht aus Angriffslust, sondern aus reiner Notwendigkeit. Russland und seine Verbündeten führen einen Stellvertreterkrieg gegen den Westen, der alle Bereiche umfasst: Medien, Energie, Ernährung, Finanzen und Organisierte Kriminalität. Im dritten Jahr des Angriffskriegs gegen die Ukraine ist die russische Wirtschaft in wesentlichen Zügen zur Kriegswirtschaft geworden. Die kriegsbezogene Produktion ist seit Herbst 2022 um 60 Prozent gewachsen, während die übrige Industrie stagniert. Fast 40 Prozent des Staatshaushalts werden für Verteidigung ausgegeben.
Russland und seine Verbündeten führen einen Stellvertreterkrieg gegen den Westen.
Die Regierungsstrukturen der EU und ihrer demokratischen Nachbarn wie Großbritannien sind jedoch nicht gut geeignet, um in dieser Weise zu reagieren. Deshalb muss der Draghi-Bericht, so brillant seine Empfehlungen auch sein mögen, der Ausgangspunkt und nicht das Ende des Nachdenkens über Europas Wirtschaftspolitik sein. Europa – und dazu zähle ich hier auch Großbritannien, so lange es von einer Mitte-links-Regierung geführt wird – braucht nicht nur eine neue, lösungsorientierte Generation von Technokratinnen und Technokraten, die Draghis drei große Ziele umsetzen können: Innovation, Dekarbonisierung und Sicherheit. Es braucht auch eine neue politische Führungsschicht, die die Aufgabe, Europas demokratisches Überleben zu sichern, im Rahmen von Sicherheit und Verteidigung neu formuliert und angeht.
Das wäre bereits für jeden Nationalstaat eine große Herausforderung. Sie ist umso größer für eine transnationale Organisation, die im Hinblick auf dauerhaften Frieden gegründet und aufgestellt wurde – vor allem weil ein Großteil der europäischen Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeit auf der Idee beruhte, gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit verringere das Konfliktrisiko. Doch die neue EU-Kommission wird sich dieser Herausforderung widmen müssen – und zwar schnell.
Was kann aus der letzten Periode wirtschaftlicher Kriegsführung gelernt werden, die in den 1930er Jahren begann? Großbritannien hatte aus dem Ersten Weltkrieg die Schlussfolgerung gezogen, eine Seeblockade als grundlegende Form des Wirtschaftskriegs wäre wirksam genug, um die deutsche Aggression im Zaum zu halten. Bereits 1924 wurde daher eine Beratungskommission eingerichtet, die sich mit Handel und Blockaden in Kriegszeiten befassen sollte. Das Advisory Committee on Trading and Blockade in Time of War arbeitete Mitte der 1930er Jahre aktiv an Einsatzplänen für den Fall von Kampfhandlungen mit Deutschland und Japan. Deren grundlegende Annahmen waren jedoch fehlerhaft. Selbst nach dem sogenannten „Anschluss“ Österreichs an Nazideutschland 1938 konnten britische Politiker nicht glauben, dass ein Land, das vom Seeweg abgeschnitten wäre, diese Blockade einfach umgehen würde, indem es sich die Ressourcen Osteuropas und des Balkans aneignete. Zudem waren sie, ganz ähnlich wie heute im Umgang mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, allzu optimistisch, dass die Unzufriedenheit des Volkes angesichts der kriegsbedingten Einschränkungen den Diktator zu Fall bringen werde.
Doch bei Kriegsausbruch 1939 richteten die Briten ein Ministerium für Wirtschaftskriegsführung ein, ausgestattet mit Abteilungen für Sanktionen, Soft Power, finanziellen Druck, Beschlagnahmung von Schmuggelware und Nachrichtendienst. In der letztgenannten Abteilung begann der Labour-Minister Hugh Dalton ab Mai 1940, die Anweisung „Steckt Europa in Brand!“ des konservativen Premierministers Winston Churchill in die Tat umzusetzen – durch Sabotage- und Widerstandsaktionen, die von einer Spezialeinsatztruppe, dem Special Operations Executive, koordiniert wurden. Als sich die Kampfhandlungen intensivierten, konzentrierte sich das Ministerium darauf, den Handel des Deutschen Reichs mit neutralen Ländern wie Schweden mit einer Kombination aus Soft Power, Störung der Finanzflüsse, rechtlichen Mitteln und offener Sabotage zu unterbinden.
Jeder guten Absicht, die der Draghi-Plan für Europa enthält, wird Moskau mit einer bösen Absicht entgegentreten.
Da der Westen keinen Krieg gegen Russland führt, können derart offensive Mittel nicht eingesetzt werden. Doch jeder guten Absicht, die der Draghi-Plan für Europa enthält, wird Moskau mit einer bösen Absicht entgegentreten und dabei eine ganz ähnliche Mischung aus Hochfinanz und krimineller Rücksichtslosigkeit einsetzen. Das Ziel wird darin bestehen, die Fähigkeiten der EU zu schwächen, sich mit strategisch wichtigen Rohstoffen zu versorgen oder ihre Verteidigungsindustrien zu koordinieren.
Im heutigen Europa wäre eine solche Abteilung für wirtschaftliche Kriegsführung natürlich bei der designierten Kommissarin für Technologische Souveränität, Sicherheit und Demokratie anzusiedeln, der finnischen EU-Abgeordneten Henna Virkunnen. Ihre Ernennungsurkunde von der weiterhin amtierenden Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nimmt direkt Bezug auf den Draghi-Report und den ausstehenden Bericht ihres Landsmannes Sauli Niinistö zur zivilen und militärischen Verteidigungsbereitschaft Europas angesichts der russischen Aggression. Aufgrund der besonderen Erfahrungen Finnlands im Umgang mit dem großen Nachbarn im 20. Jahrhundert, die das Land dazu bewogen, nach Russlands Einmarsch in die Ukraine gemeinsam mit Schweden die Aufnahme in die NATO zu beantragen, verfügt es über gut entwickelte Kompetenzen, wie man wirtschaftliche, militärische und zivile Selbstverteidigung verbindet.
In diesem Stadium wird vor allem Vorstellungskraft gebraucht. Die meisten Politikerinnen und Politiker und viele gestandene Geschäftsleute in Europa sprechen im Privaten nur noch darüber, „wann“, und nicht, „ob“ Russland die NATO und die EU-Staaten direkt angreifen wird. Doch in der Öffentlichkeit wird jede Diskussion über die Ukraine mit Euphemismen garniert. Ähnlich wie beim Draghi-Bericht wird auch über die zerbröckelnde Sicherheitsarchitektur so geredet, als gäbe es keinen Endpunkt eines solchen Verfalls.
Es mag sein, dass die EU und die NATO mit einer raschen Aufrüstung und einer guten Koordination der europäischen Verteidigungsindustrien Russland von dem Angriff abhalten können, mit dem die Moderatorinnen und Moderatoren dort im Staatsfernsehen jeden Abend drohen. Doch wenn die – nicht auszuschließende – Möglichkeit besteht, dass diese Abschreckung versagt, muss die EU die Strukturen, Strategien und das Personal bereithalten, um einen Wirtschaftskrieg zu führen, der Russlands Mittel und Willen zum Kampf zerstört.
Solche Vorbereitungen einzufordern und den politischen Rahmen zu schaffen, den es zu ihrer Rechtfertigung bedarf, wird natürlich zu Konflikten mit den „Putin-Verstehern“ führen – vom ungarischen Premierminister Viktor Orbán bis zur linkskonservativen Sahra Wagenknecht in Deutschland und dem früheren Labour-Chef Jeremy Corbyn in Großbritannien. Aber ich würde diese Diskussion lieber heute führen als an dem Tag, an dem russische U-Boote ganz offen damit beginnen, die Glasfaserkabel in der Ostsee auszubaggern.
Am Ende bedarf es nicht nur der EU-Kommission, sondern auch Regierungen, die sich einig sind, dass wirtschaftliche Selbstverteidigung notwendig ist.
Draghis Bericht zeigt, was Europa im Inneren tun muss: Investitionen stärken, Fähigkeiten breiter aufstellen, die europäischen Verteidigungsindustrien koordinieren und uns ehrgeizige Ziele für technologische Innovationen stecken. Doch das ist im Grunde immer noch eine Strategie für wirtschaftlichen Wettbewerb und nicht für wirtschaftliche Konflikte. Niinistös Bericht sollte bei seinem Erscheinen als Auslöser für einen klaren institutionellen Wandel fungieren. Doch am Ende bedarf es nicht nur der EU-Kommission, sondern auch Regierungen, die sich einig sind, dass wirtschaftliche Selbstverteidigung notwendig ist. In diesem Kontext könnten die Verhandlungen zum Sicherheitspakt zwischen der EU und Großbritannien – der dort sehnlichst erwartet wird, wenn auch bislang noch kaum Details bekannt sind – ein gutes Forum zur Entwicklung der nächsten Schritte bieten. Vieles vom „Fünf-Ziele“-Ansatz der Regierung unter Premierminister Keir Starmer überschneidet sich mit Draghis Absichten, obwohl Letzterer sich stärker der mangelnden Koordination im europäischen Binnenmarkt widmete.
Doch woher der Impuls auch kommen mag, die Europäerinnen und Europäer müssen sich irgendwann der harten Tatsache stellen: Wir befinden uns nicht länger in einem wirtschaftlichen Wettbewerb mit Russland, oder in einer angespannten Situation. Russlands machtvoller Krieg gegen die Ukraine hat wirtschaftliche Konflikte mit dem Westen ausgelöst, die nicht einfach so verschwinden werden. Es braucht Politikerinnen und Politiker, die das einsehen und die Institutionen schaffen, die nötig sind, um die Oberhand zu behalten.
Dies ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europeund dem IPG-Journal.
Aus dem Englischen von Sabine Jainski