Nach dem brutalen Mord an dem Lehrer Samuel Paty im letzten Jahr wird nach wie vor intensiv darüber diskutiert, inwieweit der Islam mit den Werten der französischen Demokratie vereinbar ist. Kürzlich hat die Debatte eine neue Wendung genommen und kreist nun um die einst eher randständige ultrarechte Vorstellung des sogenannten „Islamo-gauchisme“, eine angeblich an französischen Universitäten verbreitete Allianz zwischen Linken und Islamisten, die eine Gefahr für die Französische Republik darstelle.

Der Begriff erreichte, vielleicht überraschend, den Mainstream ausgerechnet durch den französischen Präsidenten Emmanuel Macron, seine Partei und seine Minister, die damit das sogenannte „“ mit seinen weitreichenden Eingriffen in die bürgerlichen Freiheiten rechtfertigten.

So überraschend ist Macrons Reaktion in Wahrheit nicht. Es dürfte mittlerweile jedem klar sein, dass der französische Präsident ein rechtes neoliberales Projekt verfolgt. Und da sich im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2022 seine und Marine Le Pens Umfragewerte annähern, ist er darauf angewiesen, die rechte gesellschaftliche Basis, die sein Projekt unterstützen würde, für sich zu gewinnen.

Macrons Sieg im Jahr 2017 wurde im Gegensatz dazu als Überwindung der Links-Rechts-Spaltung interpretiert, die den politischen Wettbewerb in Frankreich seit Beginn der Fünften Republik traditionell beherrscht hatte. Macron, der sein politisches Projekt links und rechts verortete, konnte sich Stimmen in der Wählerschaft der Sozialistischen Partei (PS) ebenso sichern wie in Teilen des konservativen Lagers.

Es dürfte mittlerweile jedem klar sein, dass der französische Präsident ein rechtes neoliberales Projekt verfolgt.


Der letzte Wahlgang gegen Marine Le Pen schien auf eine neue Spaltung zwischen „Populisten“ und Progressiven hinzudeuten. Macrons Ziel war es, die wohlhabenderen und gebildeten gesellschaftlichen Gruppen der Linken und die rechte Basis in einem neuen gesellschaftlichen Block zu einen, den Stefano Palombarini und ich den „bürgerlichen Block“ genannt haben.

Er versprach neoliberale „Strukturreformen“, die Wachstum schaffen und die Arbeitslosigkeit senken sollten, und trieb die europäische Integration voran. Gleichzeitig führte er einen progressiven Diskurs über die Rechte des Individuums und die Werte der Gesellschaft. Von der Zerrissenheit der traditionellen Linken und Rechten profitierend, konnte er den „bürgerlichen Block“ einen und die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen gewinnen.

Doch der bürgerliche Block repräsentiert nur einen kleinen Teil der Wählerschaft. Aufgrund seiner Versprechen zur Gesellschaftsentwicklung und zur Wirtschaftspolitik (Wachstum durch Strukturreformen) hat sich der Kern dieses Blocks – Oberschicht und obere Mittelschicht – um eine breitere Mittelschicht erweitert. Doch Macrons wahres Ziel sind die Strukturreformen mit einer Reihe von Maßnahmen, die das sozioökonomische Modell Frankreichs radikal verändern würden.

Um sie durchzusetzen, muss er seine gesellschaftliche Basis über den bürgerlichen Block hinaus erweitern. Und die einzigen Gruppen, die Macron und sein neoliberales Reformprogramm unterstützen könnten, gehören dem früheren rechten Block an; ihnen sind seine vagen Versprechen in Bezug auf liberale gesellschaftliche Werte nicht so wichtig.

Macrons drastisches neoliberales Reformprogramm, das Änderungen im Arbeitsrecht, in der Arbeitslosenhilfe, im Rentensystem und in der Privatisierung vorsieht, wird erhebliche finanzielle und soziale Ungleichheit nach sich ziehen. Es stößt deshalb auf massive gesellschaftliche Widerstände: Im November 2018 erhob sich die Gelbwestenbewegung, die bis heute protestiert (wenn auch nicht mehr ganz so spektakulär).

Angesichts Macrons schmaler Basis ließen sich solche Proteste nur mit harter Polizeigewalt und der Einschränkung bürgerlicher Freiheiten eindämmen. Man kann daher heute anders als früher nicht mehr behaupten, Macron gehöre weder der Linken noch der Rechten an. Sein Programm ist sowohl in der Wirtschaftspolitik als auch mit seinem gesellschaftlichen Wertekanon fest in der Rechten verankert, weil dort Macrons Basis für das Reformprogramm angesiedelt ist.

Doch Macrons wahres Ziel sind die Strukturreformen mit einer Reihe von Maßnahmen, die das sozioökonomische Modell Frankreichs radikal verändern würden.

Diese Entwicklungen widerlegen die Fiktion einer neuen Spaltung zwischen Populisten und Progressiven. Dennoch kann sich Macron weder als neue Führungsfigur der Rechten positionieren, noch ausschließlich auf die Unterstützung ihrer traditionellen Basis setzen. Ein Grund ist der politische Wettbewerb im rechten Spektrum. Konservative Parteien wie Les Républicains (LR) haben stark unter dem Aufstieg Macrons gelitten, sind jedoch noch nicht vollends zusammengebrochen.

Auch Marine Le Pens Rassemblement National (RN), der eine solide Wählerbasis besitzt, versucht sich in konservativer Seriosität. Und nicht zuletzt ist auch ein Teil der traditionellen rechten Basis in den gesellschaftlichen Gruppierungen angesiedelt, die das französische Sozialmodell nach wie vor schätzen und Macrons neoliberalem Reformprogramm nicht sonderlich zugeneigt sind.

Macron versucht daher, mit einer Doppelstrategie einen rechten Block zu versammeln. Erstens werden die neoliberalen Strukturreformen zwar sehr wahrscheinlich einen kleinen Teil der linken Mittelschicht, die sich 2017 dem bürgerlichen Block angeschlossen hat, abschrecken. Wichtiger ist allerdings, dass er die traditionelle Ober- und Mittelschicht für sich gewinnen kann, die früher die konservativen Parteien unterstützt haben, weil sie auf eine Umgestaltung des französischen Modells nach Thatcher-Vorbild hofften. Vergleicht man Macrons (und Hollandes) Reformen mit dem, was rechte Regierungen in den letzten vier Jahrzehnten politisch umgesetzt haben, zeigt sich, dass Macron deutlich neoliberaler war und ist als jede dieser Regierungen.

Die zweite Strategie ist das Besetzen diverser identitätspolitischer Themen wie des sogenannten Islamo-gauchisme, die Macron und seine Partei in der öffentlichen Debatte vertreten, um sich im rechten Spektrum des bürgerlichen Blocks zu etablieren. So verwischen sie die Grenzen zwischen „Regierungsparteien“ wie LREM oder LR und Le Pens RN und definieren einen politischen Raum, der fest im rechten Spektrum verortet ist.

Der Linken täte es daher gut, wenn sich die öffentliche Debatte von Fragen der Identität, Hautfarbe oder Religion abwenden und stattdessen der Wirtschaftsstruktur annehmen würde.

Durch die Thematisierung identitätspolitischer Fragen in den Medien lassen sich besonders kontroverse Aspekte der Wirtschaftsreform übertünchen und Widerstände aus der Gesellschaft entschärfen. Die Gefahr ist allerdings, dass diese Strategie Le Pen legitimiert und Macron mit ihr um eine ähnliche Wählerschaft kämpfen muss. Macron scheint zu glauben, dass Le Pen die Präsidentschaftswahl 2022 aufgrund ihrer Inkompetenz verlieren wird. Das ist allerdings alles andere als sicher. Jüngste Umfragen deuten auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Le Pen und Macron im ersten Wahlgang hin, andere sagen Macron einen Sieg mit einem hauchdünnen Vorsprung von nur vier Prozent in der Stichwahl voraus.

Lässt diese Situation Raum für eine linke Initiative? Als die traditionelle Linke Teile der gut ausgebildeten Mittelschicht verlor, hat der bürgerliche Block sie vermutlich ein für alle Mal aufgebrochen. Eine linke Strategie kann nur versuchen, mit einem Programm, das sich drastisch von dem der Parti Socialiste von 2017 absetzt, eine neue gesellschaftliche Basis zu sammeln.

Eine politische Debatte, die konkrete materielle Probleme in den Mittelpunkt rückt – und eine politische Partei, die in der Lage ist, eine programmatische Alternative zu den neoliberalen Reformen anzubieten –, könnte einen neuen linken Block zum Leben erwecken.

Der Linken täte es daher gut, wenn sich die öffentliche Debatte von Fragen der Identität, Hautfarbe oder Religion abwenden und stattdessen der Wirtschaftsstruktur annehmen würde (also der neoliberalen Umwandlung des sozioökonomischen Modells in Frankreich). Immerhin befürwortet eine Mehrheit der Gesellschaft die Institutionen, die Macrons Programm zu demontieren versucht: Bildung für alle, soziale Sicherheit und öffentliche Gesundheitsversorgung.

Aus dem Englischen von Anne Emmert