Menschen leben ursprünglich wie andere Primaten auch in Stammesgemeinschaften. Man bezeichnet das als Tribalismus. Weil wir einer Gruppe angehören möchten, finden wir Gefallen an Vereinen und Mannschaften. Haben sich Menschen einer Gruppe erst angeschlossen, ist ihre Identität oft eng damit verbunden. Sie helfen anderen Gruppenmitgliedern, auch wenn sie persönlich nichts davon haben. Außenseiter bestrafen sie scheinbar beliebig. Sie bringen für die Gruppe Opfer, ja, sie töten und sterben für sie.

Das mag auf den ersten Blick eine Binsenweisheit sein. Doch die Macht des Tribalismus wird besonders in den Vereinigten Staaten in der Politik und der Pflege der internationalen Beziehungen so gut wie nicht berücksichtigt. Wenn politische Beobachter und Entscheidungsträger in den USA Weltpolitik erklären, konzentrieren sie sich meist auf die Rolle von Ideologie und Wirtschaft und betrachten Nationalstaaten als die wichtigsten Organisationseinheiten. Damit unterschätzen sie aber die Bedeutung der Gruppenidentifikation für das menschliche Verhalten. Auch übersehen sie, dass sich die Identität, die den Menschen am wichtigsten ist – für die sie ihr Leben hinzugeben bereit sind – vielerorts nicht aus der Nation ableitet, sondern aus Ethnie, Region, Religion, Konfession oder Clanzugehörigkeit. Dass dies immer wieder übersehen wird, hat in den letzten 50 Jahren zu einigen der schlimmsten außenpolitischen Debakel der USA beigetragen, besonders augenfällig in Afghanistan und im Irak, aber auch in Vietnam.

Vietnam, Afghanistan und der Irak mögen von den Vereinigten Staaten Welten entfernt sein, doch gegen die Kräfte der Stammespolitik, die diese Länder verwüstet haben, sind auch die Amerikaner nicht immun.

Zum ersten Mal in der US-Geschichte sind die Weißen drauf und dran, ihren Mehrheitsstatus einzubüßen. Minderheiten in den USA fühlen sich seit langem in unterschiedlichem Ausmaß angreifbar und bedroht. Heute nun wächst dieses Gefühl unter den Weißen.

Menschen in den Industrieländern, besonders die Großstadteliten, wähnen sich gern in einer posttribalen Welt. Schon die Worte „tribal“ oder „Stamm“ stehen in ihren Augen für etwas eine primitive, rückständige Lebensweise, fern der Fortschrittlichkeit des Westens, in dem die Menschen atavistische Impulse zugunsten des kapitalistischen Individualismus und des demokratischen Bürgertums hinter sich gelassen haben. Doch der Tribalismus ist und bleibt eine einflussreiche Kraft. Seit einigen Jahren erschüttert er in der entwickelten Welt gar das Gefüge der liberalen Demokratien und die liberale Nachkriegsordnung. Um die heutige Welt mit ihren Entwicklungen in Gänze zu begreifen, muss man die Macht des Tribalismus erkennen. Wer das versäumt, kurbelt ihn nur weiter an.

Amerikaner sehen in der Demokratie meist eine einigende Kraft. Doch wie das Beispiel Irak zeigt und wie die USA derzeit aus erster Hand erfahren, kann Demokratie unter bestimmten Bedingungen Gruppenkonflikte auch erst herbeiführen. In den letzten Jahren haben die Vereinigten Staaten eine zerstörerische politische Dynamik an den Tag gelegt, die eigentlich eher für sich entwickelnde und nicht-westliche Länder typisch ist: den Aufstieg ethnonationalistischer Bewegungen, ein sinkendes Vertrauen in Institutionen und Wahlergebnisse, Hassreden und Demagogie, eine populistische Bewegung gegen „das Establishment“, Außenseiter und Minderheiten und vor allem die Umdeutung der Demokratie in einen Motor für politischen Tribalismus als Nullsummenspiel.

Diese Entwicklungen sind auch Folge massiver demographischer Veränderungen. Zum ersten Mal in der US-Geschichte sind die Weißen drauf und dran, ihren Mehrheitsstatus einzubüßen. Minderheiten in den USA fühlen sich seit langem in unterschiedlichem Ausmaß angreifbar und bedroht. Heute nun wächst dieses Gefühl unter den Weißen. Einer Studie aus dem Jahr 2011 zufolge glauben mehr als die Hälfte der amerikanischen Weißen, dass „Weiße die Schwarzen als ‚Hauptdiskriminierungsopfer‘ ablösen“. Wenn sich Gruppen bedroht fühlen, ziehen sie sich auf Stammesverhalten zurück. Sie schließen die Reihen, denken insular und defensiv, rücken das „Wir gegen Die“ in den Mittelpunkt. Im Fall der schrumpfenden weißen Mehrheit haben sich diese Verhaltensweisen zu einer Gegenreaktion verdichtet. Die Spannungen nehmen zu in einem bereits polarisierten sozialen Klima, in dem sich jede Gruppe – Weiße, Schwarze, Latinos und Asiaten; Christen, Juden und Muslime; Heterosexuelle und Homosexuelle; Linksliberale und Konservative; Männer und Frauen – angegriffen, unterdrückt, verfolgt und diskriminiert fühlt.

Doch es gibt noch eine andere Erklärung dafür, dass sich diese tribalistischen Symptome ausgerechnet heute verstärken. Historisch betrachtet hatten die Vereinigten Staaten nie eine marktbeherrschende Minderheit. Im Gegenteil: Fast immer wurde das Land wirtschaftlich, politisch und kulturell von einer relativ geeinten weißen Mehrheit dominiert, ein ärgerlicher, aber stabiler Zustand.

Wie andere marktbeherrschende Minderheiten sind auch die US-Küsteneliten extrem insular, interagieren und heiraten meist untereinander, leben in denselben Vierteln, besuchen dieselben Schulen.

Doch in den letzten Jahren hat sich etwas geändert. Aufgrund der extrem großen wirtschaftlichen Ungleichheit und einem starken Rückgang der geographischen und sozialen Mobilität sind die Weißen in den USA heute viel stärker in soziale Klassen gespalten als in den Generationen davor. Das begünstigt vermutlich den Aufstieg einer marktbeherrschenden Minderheit: der vieldiskutierten Gruppe der „Küsteneliten“. Der Begriff ist natürlich irreführend, gewissermaßen eine Überzeichnung. Die Gruppenmitglieder leben nicht alle an der Ost- und Westküste und gehören nicht alle einer Elite an, zumindest nicht in dem Sinne, dass sie reich wären. Doch auch mit einigen Vorbehalten weisen diese „Küsteneliten“ in den USA eine starke Ähnlichkeit mit marktbeherrschenden Minderheiten in Entwicklungsländern auf. In den USA konzentriert sich der Reichtum in den Händen relativ weniger Menschen, die mehrheitlich an der Ost- oder Westküste leben. Diese Minderheit beherrscht Schlüsselbranchen der Wirtschaft, etwa die Wall Street, die Medien und das Silicon Valley. Obwohl sie nicht einer einzigen Ethnie angehören, teilen sie bestimmte kulturelle Eigenheiten und oft auch kosmopolitische Werte wie Säkularismus, Multikulturalismus, die Tolerierung sexueller Minderheiten sowie eine einwanderungsfreundliche und progressive Politik. Wie andere marktbeherrschende Minderheiten sind auch die US-Küsteneliten extrem insular, interagieren und heiraten meist untereinander, leben in denselben Vierteln, besuchen dieselben Schulen. Darüber hinaus sind viele Mittelschicht-Amerikaner der Ansicht, dass sie den Interessen des Landes gleichgültig, wenn nicht gar feindlich gegenüberstehen.

In der US-Präsidentschaftswahl 2016 war zu beobachten, was ich für die Wahl in einem Entwicklungsland mit einer sehr unbeliebten marktbeherrschenden Minderheit prognostiziert hätte: der Aufstieg einer populistischen Bewegung, in der demagogische Stimmen „echte“ Amerikaner dazu aufriefen, sich, wie Donald Trump es formulierte, „das Land zurückzuholen“. Anders als die meisten Bewegungen gegen marktbeherrschende Minderheiten in Entwicklungsländern richtet sich Trumps Populismus allerdings nicht gegen die Reichen. Im Gegenteil: Trump selbst ist selbsterklärter Milliardär, weshalb sich viele fragen, wie er seine establishmentfeindliche Basis dazu gebracht hat, einen Superreichen zu unterstützen, dessen Politik die Superreichen noch reicher macht.

Die Antwort gibt der Tribalismus. Oft hört man, Trumps Attraktivität gründe in seinem Rassismus: Als Kandidat und Präsident hat er mit vielen Aussagen explizit oder verschlüsselt an rassistische Vorurteile seiner weißen Basis angeknüpft. Aber das ist nicht die ganze Erklärung. Trump ist mit seinen Vorlieben, Empfindungen und Werten vielen Mitgliedern der weißen Arbeiterschicht durchaus ähnlich. Im Tribalismus geht es in erster Linie um Identifizierung, und in Trumps Basis können sich viele gefühlsmäßig mit ihm identifizieren. Sie identifizieren sich mit der Art, wie er spricht und wie er sich kleidet. Sie identifizieren sich mit der Art, wie er aus der Hüfte schießt, auch (oder besonders), wenn er bei Fehlern, Übertreibungen oder Lügen ertappt wird. Und sie identifizieren sich mit ihm, wenn ihm linke Kommentatoren – die ja meist den Küsteneliten angehören – vorwerfen, dass er nicht politisch korrekt, nicht feministisch genug sei, keine Bücher lese und Fastfood in sich hineinstopfe.

Wer in den USA das Establishment ablehnt, lehnt nicht automatisch auch die Reichen ab. Die Habenichtse im Land verabscheuen Reichtum nicht. Viele von ihnen wollen ihn ja erwerben oder wollen, dass ihre Kinder es versuchen, auch wenn sie finden, dass das System einseitig gegen sie ist. Die Armen und die Menschen aus der Arbeiter- und Mittelschicht, egal welcher Ethnie sie angehören, sehnen sich nach dem altmodischen American Dream. Wenn ihnen dieser Traum versagt bleibt, ja, wenn er sie verhöhnt, wenden sie sich eher gegen das Establishment, das Gesetz, Immigranten und andere Außenseiter oder sogar gegen die Vernunft, als gegen den Traum an sich.

Der wachsende Tribalismus ist nicht nur ein US-Problem. Varianten des intoleranten tribalen Populismus brechen auch überall in Europa hervor, unterminieren den Rückhalt für die Europäische Union und bedrohen sogar die liberale internationale Ordnung.

Der politische Tribalismus zersplittert die Vereinigten Staaten, verwandelt sie in ein Land, in dem Menschen der einen Gruppe die einer anderen nicht nur als Opposition, sondern als unmoralisch, böse, unamerikanisch betrachten. Um daraus einen Ausweg zu finden, müssen wirtschaftliche wie kulturelle Ursachen bekämpft werden.

Zig Millionen Menschen der Arbeiterschicht sind die traditionellen Wege zu Wohlstand und Erfolg versperrt. Wie der Ökonom Raj Chetty aufzeigt, sind in den USA die Chancen eines Kindes, einen höheren Verdienst zu erzielen als seine Eltern, in den letzten 50 Jahren von etwa 90 auf 50 Prozent gesunken. Eine neue Studie der Pew Charitable Trusts zeigte auf, dass „43 Prozent der Amerikaner, die am unteren Ende der Einkommensleiter aufwuchsen, auch als Erwachsene dort verharren und 70 Prozent es nie bis zur Mitte schaffen“. Auch der Status der amerikanischen Eliten ist in einem Ausmaß, dessen sie sich selbst wohl nicht bewusst sind, mittlerweile erblich. Mehr als je zuvor sind für das Erreichen von Wohlstand in den USA eine Elitebildung und soziales Kapital notwendig; die meisten Geringverdiener-Familien können da nicht mithalten.

Politischer Tribalismus gedeiht unter Bedingungen der wirtschaftlichen Unsicherheit und mangelnder Chancengleichheit. Hunderte von Jahre lang konnten die Vereinigten Staaten dank wirtschaftlicher Chancen und Aufwärtsmobilität sehr unterschiedliche Menschen erfolgreicher integrieren als jedes andere Land. Der Zusammenbruch der Aufwärtsmobilität in den Vereinigten Staaten sollte als nationaler Notstand begriffen werden.

Doch die Bürgerschaft wird auch kollektiv eine nationale Identität schaffen müssen, die alle Menschen im Land anspricht und zusammenhält: Alte und Junge, Einwanderer und Einheimische, Städter und Landbewohner, Reiche und Arme, Nachkommen von Sklaven und Nachkommen von Sklavenhaltern. Ein erster Schritt wäre, die Kluft der beiderseitigen Ahnungslosigkeit und Geringschätzung zu überbrücken, die die Küsten vom Landesinneren trennt. Das könnte durch ein staatliches Programm erreicht werden, das Jugendliche dazu ermutigt oder verpflichtet, nach der Highschool ein Jahr weit weg in einer anderen Umgebung zu verbringen, nicht etwa, um dort Mitgliedern einer anderen Gruppe zu „helfen“, sondern um mit Menschen zu interagieren, mit denen sie normalerweise nicht zusammenkämen, idealerweise in partnerschaftlicher Arbeit für ein gemeinsames Ziel.

Der wachsende Tribalismus ist allerdings nicht nur ein US-Problem. Varianten des intoleranten tribalen Populismus brechen auch überall in Europa hervor, unterminieren den Rückhalt für übernationale Gebilde wie die Europäische Union und bedrohen sogar die liberale internationale Ordnung. So war der Brexit eine populistische Gegenreaktion darauf, dass die Eliten in London und Brüssel nach Wahrnehmung vieler Menschen das Vereinigte Königreich aus der Ferne kontrollierten und den Kontakt zu den „wahren“ Briten verloren hatten – den „wahren Besitzern“ des Landes, die Einwanderer oft als Bedrohung betrachten.

International wie auch in den Vereinigten Staaten wird sich Geschlossenheit nicht von selbst einstellen, sondern nur mir harter Arbeit, mutiger Führung und kollektivem Willen. Kosmopolitische Eliten können ihren Teil beitragen, indem sie einsehen, dass auch sie einer exklusiven und vorurteilsbehafteten Gruppe angehören, dass ihre Toleranz gegenüber Verschiedenheit oft eher prinzipieller als praktischer Natur ist und dass sie auf diese Weise ungewollt zu Hass und Spaltung beitragen.

(c) Foreign Affairs

Dieser Beitrag ist ein bearbeiteter Auszug aus dem Buch „Political Tribes: Group Instinct and the Fate of Nations“ (Penguin Press, 2018).

Aus dem Englischen von Anne Emmert