Ein kurzer Zwischenruf zum Ende der Münchener Sicherheitskonferenz. Dort wurde wie jedes Jahr diskutiert, wieso sich die Welt, der Westen, Europa und natürlich auch Deutschland nicht stärker engagieren, um Konflikte zu beenden und Gewalt einzudämmen. Und nur damit wir uns nicht missverstehen: Diese Diskussion wird vollkommen zu Recht geführt. Sie ist wichtig und drängend.
Der außen- und sicherheitspolitische Beobachter landet bei diesen Debatten dann immer schnell beim handfest Militärischen. Wird zu viel interveniert oder doch zu wenig? Wie bekommen wir „Boots on the Ground“, um ein wesentlicher Akteur zu werden, beziehungsweise wollen wir das überhaupt? Wie bekommen wir die Fähigkeiten (fehlen bisher) und den politischen Willen (fehlt auch), um notfalls auch mit militärischen Mitteln unsere Werte und Interessen in Konflikten weltweit und vor allem in unserer Nachbarschaft mit Nachdruck zu vertreten?
Aber unabhängig davon wie „interventionistisch“ oder „zurückhaltend“ man selbst auch eingestellt sein mag, kommt man an einem schlichten Befund kaum vorbei: Selbst wenn wir wollten, könnten wir aktuell nur sehr begrenzt mit militärischem Engagement an den Konfliktherden weltweit etwas bewirken. Kapazitäten und Doktrinen fehlen, politischer Wille ist nicht vorhanden, Interoperabilität ebensowenig.
Umso erschreckender ist, dass wir an der Stelle wo Deutschland und Europa direkt etwas ausrichten könnten – überspitzt formuliert mit einer einzigen Überweisung – dies weiterhin nur mit angezogener Handbremse tun: bei der Finanzierung der humanitären Hilfe. Dabei zeigt schon ein flüchtiger Blick auf die Zahlen eine bemerkenswerte Relation: Der deutsche Haushaltsüberschuss betrug 2019 13,5 Milliarden Euro. Das Defizit in der Finanzierung des weltweiten Bedarfs an humanitärer Hilfe, welcher vom zuständigen Büro der Vereinten Nationen (UN OCHA) ermittelt wird, betrug im selben Jahr 11,3 Milliarden Euro.
Nach offizieller Schätzung der Vereinten Nationen fehlen mehr als zehn Milliarden Euro, um den Bedarf an humanitärer Hilfe zu decken.
Sprich: Es fehlten nach offizieller Schätzung der Vereinten Nationen mehr als zehn Milliarden Euro, um den Bedarf an humanitärer Hilfe zu decken, während Deutschland einen Haushaltsüberschuss in der gleichen Größenordnung erzielt hat. Da liegt es nahe zu fragen, warum wir nicht angesichts der mantra-artigen Betonung der internationalen Verantwortung Deutschlands an genau dieser Stelle noch deutlich mehr Verantwortung übernehmen? Am Geld müsste es ja offensichtlich nicht scheitern.
An dieser Stelle kommen dann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit drei Einwände ins Spiel. Erstens: Wir zahlen doch schon so viel, haben unseren Beitrag in den letzten Jahren massiv erhöht und sind damit bereits einer der größten Geber für humanitäre Hilfe. Ja, das stimmt, aber es reicht eben schlicht und ergreifend nicht aus, um den Bedarf zu decken. Zahlen lügen nicht: Wir hätten angesichts der deutschen Finanzlage (Stichwort: Überschüsse) auch in den vergangenen Jahren die Defizite in der humanitären Hilfe viel stärker auffangen können und meines Erachtens auch sollen.
Zweitens: Wenn wir einspringen, werden sich andere internationale Akteure als Trittbrettfahrer erst recht zurücklehnen. Ja, das kann schon sein, aber wir haben nun einmal keine Option, andere Akteure dazu zu zwingen diese Lücke zu füllen. Da wir aber die Mittel haben, diese Lücke zu schließen, sollten wir das auch tun. Umgekehrt sind wir ja selbst laut verbreiteter Interpretation in anderen Bereichen internationaler Politik Trittbrettfahrer beziehungsweise Nutznießer des globalen Status Quo.
Drittens: Humanitäre Hilfe löst keine Probleme, setzt falsche Anreize und stützt im schlimmsten Fall sogar die Konfliktparteien. Ja, auch das mag teilweise stimmen. Das Lösen von strukturellen Problemen ist aber auch nicht ihr Anspruch. Humanitäre Hilfe ist jedoch leider das einzige Instrument, welches wir derzeit halbwegs verlässlich einsetzen können, um menschliches Leid vor Ort zu lindern. Außerdem trifft dieser Einwand mindestens genauso im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit Sicherheitsakteuren in Konfliktregionen zu. Diese erfreut sich aber unter dem Label der „Ertüchtigung“ einer anhaltend hohen Beliebtheit – trotz der fraglos größeren moralischen Ambivalenz im Vergleich zur humanitären Hilfe.
Es gibt meines Erachtens also wirklich keinen guten Grund dagegen, dass die Bundesrepublik Deutschland sich entschieden und effektiv dafür einsetzt, dass der Finanzierungsbedarf der humanitären Hilfe endlich voll gedeckt wird. Am besten ginge dies natürlich in einer breiten internationalen Koalition, die strukturelle Innovation vorantreibt, wie beispielsweise die Einführung eines humanitären Pflichthaushalts. Gleichzeitig müssen wir aber bereit sein, zur Not zunächst auch einseitig Lücken in der Finanzierung der humanitären Hilfe zu füllen. Und zwar jetzt. Ein Blick in die Statistik zeigt, dass wir die gewaltige Lücke zwischen benötigten Mitteln und konkreter Finanzierung in fast konstanter Größenordnung schon viel zu lange hinnehmen. Seit 2010 wurden durchgängig weniger als zwei Drittel des von UN OCHA tatsächlich ermittelten Bedarfs an humanitärer Hilfe gedeckt. Ein Armutszeugnis für die internationale Gemeinschaft. Daher das Plädoyer: Die Bundesrepublik Deutschland sollte sich ohne Wenn und Aber zum Ziel setzen, dass die internationale Gemeinschaft den Bedarf der humanitären Hilfe ab 2020 zu 100 Prozent deckt – und zur Not selbst als „Donor of Last Resort“ einspringen.