Lesen Sie diesen Artikel auch auf Russisch.
Im Sommer 2020 zeigte sich das ganze Ausmaß des wohl größten Wirtschaftsskandals in der deutschen Geschichte. Der Skandal rund um die insolvente Wirecard AG hat alles, was ein moderner Wirtschaftskrimi braucht – angefangen vom Glamour eines deutschen Start-up-Wunders über spektakuläre Börsenerfolge hin zu angeblichen, windigen Kontakten zu diversen Geheimdiensten. Doch statt um einen Roman handelt es sich um die bittere Realität des DAX.
Die Dimensionen, die dieser Fall entfaltet, erscheinen auf den ersten Blick unglaublich. Es stehen Verbindlichkeiten in Höhe von 3,2 Milliarden Euro einem Bankguthaben in Höhe von 26,8 Millionen Euro gegenüber. Unter dem Strich sind 2,8 Milliarden Euro futsch. Diese Summe in 500 Euro-Scheinen würde 6,27 Tonnen wiegen. Bankräuber hätten diese Summe nicht einmal verladen können.
Im Zentrum des Skandals stehen die kriminellen und betrügerischen Machenschaften des ehemaligen Managements der Wirecard AG sowie das Versagen der Wirtschaftsprüfer Ernst &Young. Doch bei aller kriminellen Energie der gierigen Manager stellen sich zahlreiche weitere Fragen. Vor allem, wie konnten jahrelang Wirtschaftsprüfer die Bilanzen testieren und ebenso, wie die unterschiedlichen Aufsichtsbehörden keinen Verdacht schöpfen? Das insbesondere vor dem Hintergrund regelmäßiger kritischer Presseberichte sowie Short-Attacken. Mit diesen Fragen wird sich – neben den Strafverfolgungsbehörden – auch ein Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags beschäftigen.
Die Gier hat sich wie der alles durchdringende Kapitalismus global festgesetzt. Vom angeblich ehrenwerten rheinischen Kapitalismus scheinen nur noch Ruinen übrig – geschleift von FlowTex, Steinhoff, Wirecard und anderen.
Dieser Betrug reiht sich in die zahlreichen Skandale und Betrugsfälle seit den 2000ern ein. Auch wenn das Ausmaß des Enron-Skandals nicht erreicht wird, ist Wirecard der wohl größte Bilanzskandal in Europa und führt damit eine illustre Reihe von Betrügereien fort. Beginnend mit dem baden-württembergischen Hochstapler-Unternehmen FlowTex über Enron und Worldcom hin zu Parmalat und AIG. Den vorläufigen Schlusspunkt nach der Finanzkrise seit 2008 bildete die Credit Suisse im Jahr 2019 mit ihrem Geschäftsgebaren im Falle Mosambik. Es zeigt sich, dass es sich hierbei nicht um Einzelfälle handelt. Vielmehr müssen wir ein symptomatisches Verhalten gieriger, großspuriger Manager beobachten, das keinesfalls auf Deutschland oder Europa beschränkt ist. Die Gier hat sich wie der alles durchdringende Kapitalismus global festgesetzt. Vom angeblich ehrenwerten rheinischen Kapitalismus scheinen nur noch Ruinen übrig – geschleift von FlowTex, Steinhoff, Wirecard und anderen.
Der Finanzausschuss des Deutschen Bundestags hat sich seit dem Bekanntwerden des Skandals intensiv mit dem Fall auseinandergesetzt. Während der parlamentarischen Sommerpause hat es insgesamt drei Sondersitzungen gegeben. Im Fokus der Aufarbeitung stand die Frage nach den unterschiedlichen Institutionen der Aufsicht und deren Verantwortung. Einerseits konnten die verantwortlichen Personen ein wenig Licht ins Dunkel bringen, andererseits wurde ein deutliches Aufsichts-Wirrwarr in Deutschland erkennbar. Die Frage, warum es keine vernünftige Geldwäsche-Aufsicht durch die bayrische Staatsregierung über die Wirecard AG gegeben hat, wurde bis heute nicht schlüssig erklärt. Stattdessen wurde sich vielfach auf Formalien und eingeschränkte Rechtsbefugnisse berufen. Dies betrifft sowohl die BaFin und die FIU aber noch vielmehr die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft und deren Aufsicht, die Abschlussprüferaufsichtsstelle Apas.
Wir können heute noch nicht alle Lehren aus dem Wirecard-Skandal ziehen. Eines lässt sich jedoch mit Sicherheit sagen: wären die Reformvorschläge des damaligen EU-Kommissars Michel Barnier aus dem Jahr 2010 umgesetzt worden, so hätte es das kriminelle Wirecard-Management deutlich schwerer gehabt. Es ist mehr als offensichtlich, dass insbesondere im Bereich der Wirtschaftsprüfung ein enormer Reformbedarf besteht. Die Vergangenheit hat leider gezeigt, dass interne Kontrollen und Selbstverpflichtungen zu Compliance oft nicht das Papier wert sind, auf denen sie geschrieben werden. Es liegen bereits die ersten Reformvorschläge vor. Hier ist sowohl Sorgfalt als auch Eile geboten. Denn insbesondere die Erfahrungen mit dem europäischen Grünbuch zur Abschlussprüferreform zeigen, dass der Lobbydruck von Seiten der großen vier Wirtschaftsprüfergesellschaften zunehmen wird.
Es wird vielfach die Aufspaltung von Beratung und Prüfung in zwei unabhängige Gesellschaften verlangt. Auch die Option, dass Prüfaufträge durch eine Behörde vergeben werden und nicht im Auftrag der Unternehmen stattfinden, muss wieder auf den Tisch.
Mit dem Abschlussprüfungsreformgesetz im Jahr 2014 sind zwar erste Schritte gemacht worden, doch reichen sie bei Weitem nicht aus. Eines der offensichtlichsten Probleme liegt im Oligopol der vier großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, den Big4. Denn schiere Größe erzeugt eben nicht automatisch die erwünschte und notwendige Kompetenz, einem kriminellen Management auf die Spur zu kommen. Daher könnte eine gemeinsame Prüfung von zwei Gesellschaften zu deutlich mehr Transparenz und intensiverer Kontrolle führen.
Es wird vielfach die Aufspaltung von Beratung und Prüfung in zwei unabhängige Gesellschaften verlangt. Auch wenn es im Fall der Wirecard AG wahrscheinlich nicht das Kernproblem des Skandals und Betrugs ist, so kann dies in meinen Augen einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, das bestehende Oligopol zu entflechten. Auch die Option, dass Prüfaufträge durch eine Behörde vergeben werden und nicht im Auftrag der Unternehmen stattfinden, muss wieder auf den Tisch. Dieser Vorschlag war bereits im Grünbuch von Michel Barnier vorhanden, überstand aber nicht dem Lobbyismus der Big4.
In Deutschland liegt die Haftungsbeschränkung für die Wirtschaftsprüfungsgesellschaften bei vier Millionen Euro. In vielen anderen Ländern, wie den Vereinigten Staaten oder Frankreich gibt es diese Beschränkung nicht. Diese nun einfach pauschal zur erhöhen, erscheint auf den ersten Blick sympathisch. Jedoch wäre eine weitere Verfestigung des Oligopols der Big4 die Folge. Eine bessere Idee ist die folgende: Die Haftungssumme wird abhängig von Geschäftsvolumen oder Marktanteil der Prüfungsgesellschaft errechnet. Je höher der Marktanteil oder das Geschäftsvolumen, desto höher würde auch die Haftungssumme ausfallen. Läge der Marktanteil in Prüf- und Beratungsgeschäft über 15 Prozent bei einer einzelnen Gesellschaft, dann könnte auch jegliche Begrenzung der Haftungssumme aufgehoben werden.
Um solche kriminellen Machenschaften jedoch konsequent und nachhaltig zu unterbinden, dürfen wir mit den Reformen der Aufsicht nicht warten. Denn je länger wir warten, umso größer wird der Vertrauensverlust gegenüber dem Wirtschaftsstandort Deutschland und desto mehr Zeit haben die Big4 für Lobbyarbeit.
Aktuell muss es in Deutschland nach spätestens 24 Jahren einen Wechsel bei der Prüfgesellschaft geben. Auch hier braucht es eine Reform, die sich mindestens am europäischen 10-Jahres-Standard orientiert und keine Hintertüren mehr offen lässt. Zum Aufbrechen des Oligopols der Big4 sollte man erst wieder zu den großen vier wechseln, wenn dazwischen eine Gesellschaft engagiert war, die eben nicht zu den Big4 gehört. Durch diese Beschränkung würden automatisch Prüfgesellschaften außerhalb des Oligopols auch bei großen und renommierten Unternehmen zum Zuge kommen.
Der Fall Wirecard hat auch gezeigt, dass wir eine mit starken Rechten ausgestaltete europäische Börsenaufsicht benötigen. Diese sollte mit EU-weiten Durchgriffsrechten versehen sein. Dabei muss eine parlamentarische Kontrolle gewährleistet sein. Da ein europäisches Finanzministerium im Moment nicht in Sicht ist, müssten die EU-Kommission und das Europäische Parlament als europäische Kontrollinstanz fungieren.
Wie bereits beschrieben, befinden wir uns aktuell mitten in der Phase der Aufklärung des immensen Betrugs. Um solche kriminellen Machenschaften jedoch konsequent und nachhaltig zu unterbinden, dürfen wir mit den Reformen der Aufsicht nicht warten. Vielmehr sollten die ersten Schritte eher früher als später getätigt werden. Denn je länger wir warten, umso größer wird der Vertrauensverlust gegenüber dem Wirtschaftsstandort Deutschland und desto mehr Zeit haben die Big4 für Lobbyarbeit.