In Neukaledonien herrschen, seitdem die französische Nationalversammlung vergangene Woche über eine Verfassungsänderung debattierte, weiterhin Unruhen. Die geplante Änderung soll die Wahllisten in Neukaledonien wieder öffnen, nachdem das Wahlrecht bei den Provinzwahlen durch das Abkommen von Nouméa 1998 auf die damals in Neukaledonien ansässigen Personen sowie auf deren Nachkommen beschränkt worden war. Der Änderungsvorschlag hatte in der Hauptstadt Nouméa bereits im Vorfeld zu großen Protestbewegungen und einer vertieften Spaltung der Gesellschaft geführt. Die indigene Bevölkerung fühlt sich durch die Aufnahme von Zugezogenen auf die Wahllisten bedroht, während die Gegenseite im Ausschluss von potenziellen Wählerinnen und Wählern die Demokratie in Gefahr sieht. Am Tag der Abstimmung kam es dann zu gewalttätigen Ausschreitungen: Läden, Geschäfte und öffentliche Einrichtungen wurden beschädigt oder zerstört, zahlreiche Autos brannten. Mehrere Menschen wurden getötet und viele weitere verletzt. Frankreich verhängte den Ausnahmezustand und entsandte zusätzliche Sicherheitskräfte nach Neukaledonien, wo die Maßnahmen zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung weiterhin andauern.
Wirtschaftlich und politisch haben sich die Unruhen bereits als katastrophal erwiesen. Für Paris haben sie die Hoffnung auf ein relativ reibungsloses Ende des Nouméa-Abkommens zunichte gemacht. Das 1998 unterzeichnete Abkommen hatte die Übertragung von Befugnissen auf Neukaledonien in den meisten Bereichen außer Verteidigung, Justiz, Sicherheit sowie der Währung geregelt – und insgesamt drei Volksabstimmungen zur Unabhängigkeit festgelegt. Beim dritten und letzten Referendum, das von der Unabhängigkeitsbewegung mit Verweis auf die zahlreichen Covid-Opfer boykottiert wurde, stimmten im Jahr 2021 96 Prozent gegen die Unabhängigkeit.
Daran anschließend wollte die Regierung in Paris einen neuen Status für Neukaledonien innerhalb der französischen Republik festlegen. Eines der Ziele war es, die Autonomie des Archipels zu vertiefen. Doch erst im Juli 2023 wurde der politische Dialog zwischen der loyalistischen Mitte-rechts-Koalition, die sich gegen eine formale Unabhängigkeit einsetzt, und den Befürwortern der Unabhängigkeit wieder aufgenommen. Gemeinsam sollten eine Reihe von Themen diskutiert werden, darunter die Zukunft der lokalen Institutionen, die kaledonische Staatsbürgerschaft und das Wahlgremium, aber auch gesellschaftliche Ungleichheiten sowie wirtschaftliche und finanzielle Maßnahmen.
Der ohnehin schwierige Dialog scheiterte letztendlich an der Frage der Wahllisten, die durch das Nouméa-Abkommen seit 1998 de facto eingefroren sind. Interessanterweise war diese Maßnahme vom französischen Verfassungsrat sowie vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als Übergangsmaßnahme anerkannt worden, da sie als „Teil eines Entkolonialisierungsprozesses“ gesehen wurde, „vorausgesetzt, dass es sich tatsächlich um eine Übergangsmaßnahme handelt“. Allerdings wurde somit 20 Prozent der Bürger das Wahlrecht verweigert, was einen Verstoß gegen die Grundsätze der Gleichheit und der Universalität des Wahlrechts darstellt. Der Vorschlag – der nun beschlossen wurde –, wonach man mindestens zehn Jahre seinen Wohnsitz in Neukaledonien haben muss, um sein Wahlrecht ausüben zu können, trieb die Unabhängigkeitsbefürworter auf die Barrikaden. Der politische Dialog ist somit – zumindest vorübergehend – gescheitert.
Frankreich bemüht sich seit Jahren, sein Image zu verbessern.
Für Frankreich steht viel auf dem Spiel. Der Reputationsschaden ist in der Region bereits spürbar. Die Melanesische Speerspitzengruppe (MSG), ein regionales Bündnis, das 1986 gegründet wurde, um die Entkolonialisierung der melanesischen Länder zu unterstützen, beschuldigte die französische Regierung, die Verfassungsänderung einseitig voranzutreiben. Der MSG gehören Papua-Neuguinea, Vanuatu, die Salomonen und die für die Unabhängigkeit eintretende neukaledonische Allianz FLNKS an. Mark Brown, Präsident des Pazifischen Inselforums und Premierminister der Cook-Inseln, forderte eine größere Autonomie für das Volk der Kanak. Mehrere Staats- und Regierungschefs der pazifischen Inseln haben zudem Paris für seine „Weigerung zuzuhören“ kritisiert. Frankreich bemüht sich seit Jahren, sein Image zu verbessern und seine Partnerschaft mit den südpazifischen Inselstaaten und ihren regionalen Organisationen zu festigen. Die plötzliche Verschlechterung der Lage in Neukaledonien dürfte die Legitimität Frankreichs als indopazifische Macht nicht gerade stärken.
Die derzeitigen Aufstände haben zudem den Weg für ausländische Einmischungen geebnet, die den Unruhen teilweise bereits vorausgingen. Die französische Regierung hatte hier insbesondere Aserbaidschan Vorwürfe gemacht. So hat die aserbaidschanische Regierung im Juli 2023 die Gründung der Baku Initiative Group veranlasst, deren Ziel die Unterstützung von Befreiungsbewegungen gegen den französischen Kolonialismus ist – eine Vergeltungsmaßnahme wegen der französischen Unterstützung für Armenien. Am 18. April 2024 wurde eine Absichtserklärung zwischen dem Kongress von Neukaledonien und der Nationalversammlung von Aserbaidschan unterzeichnet. Aserbaidschanische Flaggen waren bei den von der Unabhängigkeitsbewegung organisierten Demonstrationen zu sehen, lange bevor die Gewalt ausbrach, und die Baku Initiative Group hat seitdem ihre Unterstützung für das kanakische Volk und ihre Verurteilung der „französischen Repression“ zum Ausdruck gebracht.
Die ausländische Einmischung ist jedoch nicht der Grund für den Ausbruch der Gewalt. Diese kommt jedoch gleich mehreren externen Mächten nicht ungelegen. Die Maßnahmen Bakus erinnern in mancherlei Hinsicht an russische anti-westliche Aktionen in Neukaledonien und anderen Teilen der Welt. Auch Moskau unterstützt die neukaledonische Unabhängigkeitsbewegung, und zwar schon seit Sowjetzeiten – seit der Annektierung der Krim im Jahr 2014 jedoch deutlich aktiver. Bei Demonstrationen für die Unabhängigkeit wurden Banner gesichtet, auf denen Wladimir Putin willkommen geheißen oder sogar die Befreiung der Kolonien gefordert wurde. Auch in den sozialen Netzwerken kursiert russische Propaganda, die sich explizit gegen Frankreich richtet. Im Kontext des Krieges in der Ukraine sind die Probleme Neukaledoniens ein Segen für den Kreml, der versucht sein könnte, ähnlich wie in Afrika Öl ins Feuer zu gießen.
Peking nutzt jede Gelegenheit, um die westliche Macht im Südpazifik herauszufordern.
Der größte Nutznießer der aktuellen Situation könnte Analysten zufolge jedoch eine dritte Partei sein: China. Peking nutzt jede Gelegenheit, um die westliche Macht im Südpazifik herauszufordern und seinen eigenen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Einfluss auszuweiten. Dass die Inselstaaten wiederum China in internationalen Organisationen unterstützen – in Fragen wie Taiwan, Hongkong, Tibet, Xinjiang, aber auch bezüglich des Ost- und Südchinesischen Meeres –, ist für Peking von großer Bedeutung. China ist zudem an der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen in der Region interessiert. Auch wenn die endgültigen militärischen Absichten Chinas umstritten sind, vermuten viele Analysten, dass hinter den Infrastrukturprojekten, die China in mehreren Inselstaaten vorantreibt, eine doppelte Absicht stecken könnte.
Nach der Unterzeichnung eines Sicherheitsabkommens mit den Salomonen im Jahr 2022, scheiterte Peking damit, ein pazifikweites Handels- und Sicherheitsabkommen auszuhandeln, und musste sich stattdessen an andere Inselstaaten und deren regionale Organisationen wenden. So unterstützt China laut einigen Experten die MSG finanziell. Diese debattiert wiederum die Möglichkeit einer Sicherheitskooperation mit Peking.
Für Chinas Bemühungen, einen Inselstaat nach dem anderen zu verführen, sind die Probleme in Neukaledonien hilfreich, da sie die angebliche Ruchlosigkeit der französischen und westlichen Präsenz demonstriere. Neukaledonien ist Teil von Chinas indirekter Strategie: Peking hat einerseits ein Auge auf die Nickelreserven Neukaledoniens geworfen, weiß aber auch, dass jede Schwächung des französischen Einflusses seinen eigenen regionalen Ambitionen zugutekommt.
In dieser Hinsicht betreffen die Unruhen in Neukaledonien weit mehr als das alleinige nationale Interesse Frankreichs. Die derzeitige Situation trägt zur Unsicherheit in einem ohnehin schon politisch instabilen Umfeld bei. Sowohl Paris als auch dessen Verbündete haben ein Interesse an einer schnellen Beendigung der Krise. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass es ein einfacher Prozess werden wird, da es für keine der anstehenden Fragen eine eindeutige Lösung gibt.
Die französische Regierung hat ihre Bereitschaft bekräftigt, den Dialog mit allen Parteien wieder aufzunehmen. Das Ende der Gewalt ist jedoch eine Vorbedingung hierfür. Sowohl die Loyalisten als auch die Unabhängigkeitsbefürworter haben ihre Truppen aufgerufen, die Lage zu beruhigen – bislang mit wenig Erfolg. Die Behörden versuchen vorrangig, Recht und Ordnung wiederherzustellen, wobei bei jeder Operation das Risiko besteht, dass sie aus dem Ruder läuft. Ein Prozess der gemeinsamen Vertrauensbildung ist dringend notwendig. Dafür müssen zwingend Kompromisse eingegangen werden, die für beide Seiten schmerzhaft sein werden.