Parallel zum weltweiten Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie läuft eine zweite Kontroverse. Wie sollte die Welt regiert werden? Dazu gibt es zwei konkurrierende Narrative. Die Bekämpfung der Pandemie ist von vorrangiger Bedeutung. Doch die Antwort auf die Frage, welches Narrativ sich durchsetzen wird, wird ebenso weitreichende Folgen haben.
Das erste Narrativ präsentiert sich klar und eindeutig: Eine globale Gesundheitskrise hat uns die Notwendigkeit des Multilateralismus ebenso vor Augen geführt wie den Irrweg des Nationalismus und Isolationismus mit Scheuklappen. Das zweite Narrativ lautet genau umgekehrt: Durch Globalisierung und offene Grenzen werden Länder anfällig gegenüber Viren und anderen Bedrohungen, und der aktuelle Kampf um die Kontrolle von Lieferketten und lebensrettenden Schutzausrüstungen erfordert, dass sich jedes Land zunächst um sich selbst kümmert.
Vertreter des ersten Lagers betrachten die Pandemie als Beleg dafür, dass die Länder zusammenarbeiten müssen, um gegen gemeinsame Bedrohungen vorzugehen. Im zweiten Lager sieht man die Pandemie als Beweis, dass es sicherer ist, wenn die Länder auf Distanz zueinander gehen. Auf den ersten Blick hat es den Anschein, als ob Covid-19 das Argument für einen stärker koordinierten internationalen Ansatz erhärten würde. Da das Coronavirus nicht an nationalen Grenzen Halt macht, erscheint es logisch, dass auch Gegenmaßnahmen dadurch nicht eingeschränkt werden sollen. Aus Sicht der öffentlichen Gesundheit ergibt das durchaus Sinn.
Wenn sich Covid-19 irgendwo hält, bleibt es überall eine Bedrohung, unabhängig von den Bemühungen, die Krankheit lokal zu begrenzen. Die Pandemie wird umso rascher überwunden werden, je umfassender Testkits sowie Behandlungen und Impfstoffe – nach ihrer Entwicklung – zur Verfügung stehen. Je stärker wissenschaftliche Erkenntnisse ausgetauscht werden, desto schneller werden diese Medikamente entwickelt. Und je mehr sich die Regierungen unterdessen in Fragen wie Reisebeschränkungen und sozialer Distanzierung koordinieren, desto reibungsloser wird sich der Ausweg aus dieser Krise gestalten.
Krisen verstärken und beschleunigen bereits bestehende Trends. Die Covid-19-Pandemie fiel zeitlich in eine Phase des populistischen und nativistischen Widerstands gegen den Globalismus und die internationale Nachkriegsordnung.
Die Pandemie erfordert offenkundig auch verstärkte gemeinsame Anstrengungen zur Lösung tödlicher Konflikte, und zwar nicht nur, um schutzbedürftigen lokalen Bevölkerungsgruppen zu helfen. Aufgrund des durch die Pandemie verursachten zusätzlichen sozioökonomischen Stresses könnten inner- und zwischenstaatliche Konflikte zu einem weiteren Verlust staatlicher Autorität oder – in Ländern, die bereits an einem Wendepunkt stehen – sogar zu Staatszerfall führen. Neben dem offensichtlichen hohen menschlichen Preis würden damit neue und wachsende Bereiche entstehen, in denen es zu einer unkontrollierten Ausbreitung von Covid-19 ebenso kommen könnte wie zu anschwellenden Migrationsströmen über weniger überwachte Grenzen. Außerdem würden sich nicht-staatlichen Akteuren vermehrt Möglichkeiten bieten, das Chaos zu nützen, um Fuß zu fassen und ihre Macht auszubauen.
Schließlich besteht auch ein eindeutiger wirtschaftlicher Grund für internationale Kooperation. Durch Hilfe für die am schwersten betroffenen Staaten können alle Länder die Folgen des drohenden weltweiten Niedergangs auch für sich selbst abmildern.
Doch die Pandemie erhöht auch die Zugkraft der gegenteiligen Ansicht. Krisen verstärken und beschleunigen bereits bestehende Trends – schwere Krisen umso mehr. Die Covid-19-Pandemie fiel zeitlich in eine Phase eines durch inner- und zwischenstaatliche Ungleichheiten geschürten populistischen und nativistischen Widerstands gegen den Globalismus und die internationale Nachkriegsordnung.
Eine Zukunftsvision sieht so aus: In den kommenden Monaten und Jahren werden akute Notlagen auf nationaler Ebene die internationale Solidarität wie einen unerschwinglichen Luxus erscheinen lassen.
Von dem Weltwirtschaftssystem, das sich nach dem Ende des Kalten Krieges herausbildete, haben einige wenige auf Kosten vieler profitiert, sagen die Kritiker des Systems nicht ohne Grund. In ähnlicher Weise werden auch die Vereinten Nationen mittlerweile als ein Relikt vergangener Tage betrachtet, das die Sieger eines längst vergangenen Krieges bevorzugt, veraltete Machtstrukturen widerspiegelt und Ländern des globalen Südens eine angemessene Vertretung vorenthält, von denen viele zur Zeit der Gründung der UNO im Jahr 1945 noch nicht einmal ihre Unabhängigkeit erlangt hatten. Parallel dazu und insbesondere seit der globalen Finanzkrise 2008 führte die sozioökonomische Unzufriedenheit in Ländern von Russland über die Türkei und Ungarn bis nach Brasilien, Israel und den Vereinigten Staaten zu verschiedenen Formen des Populismus, Nativismus und Autoritarismus.
Diese Dynamik könnte sich durch die Covid-19-Krise noch verstärken. Eine Zukunftsvision sieht so aus: In den kommenden Monaten und Jahren werden akute Notlagen auf nationaler Ebene die internationale Solidarität wie einen unerschwinglichen Luxus erscheinen lassen. Wenn es zu einer Kontraktion der Volkswirtschaften kommt, werden auch die Ressourcen schmelzen und die Regierungen werden Mühe haben, ihre eigenen Bevölkerungen zu versorgen. Die politischen Führungen werden vor immer größeren Schwierigkeiten stehen, die Mittelzuweisung für Entwicklungshilfe, internationale Gesundheits- und Hilfsorganisationen, Flüchtlinge oder diplomatische Initiativen zu rechtfertigen. Die zunehmende Unzufriedenheit im eigenen Land wird sich in noch größerer Wut und Ernüchterung gegenüber dem internationalen System niederschlagen.
Und jeder verbleibende globale Führungsanspruch der USA ist in Zukunft ebenfalls beschädigt. Dies aufgrund des Missmanagements der Pandemie durch die Trump-Administration sowie wegen des Gefühls, sie seien nicht der Lage gewesen, sich um die eigene Bevölkerung – geschweige denn um andere Menschen – zu kümmern. Hinzu kommt auch noch die Wahrnehmung, sie hätten sich zurückgezogen, als es hart auf hart kam. In dieses Führungsvakuum könnte China vorstoßen, das auf dem Höhepunkt der Krise durch kamerafreundliche Demonstrationen seiner Großzügigkeit Auftrieb erhielt. Allerdings könnte sich das Land aufgrund seines suboptimalen Umgangs mit dem Ausbruch und dessen innenpolitischen Auswirkungen genauso gut inmitten einer tiefgreifenden wirtschaftlichen Kontraktion wiederfinden.
Covid-19 enthüllte, wie kostspielig die Bewältigung einer globalen Krise mit einem fehlerhaften internationalen System ist. Noch schlechter wäre nur, die nächste Krise überhaupt ohne internationales System bewältigen zu müssen.
Unabhängig davon, wer sich an der Spitze etabliert (wenn es überhaupt jemand tut), fällt es schwer zu glauben, dass die von der Pandemie verursachte sozioökonomische Hoffnungslosigkeit nicht als Wegbereiter für eine noch stärkere nativistische und xenophobe Welle dient. In vielen Ländern hat man bereits begonnen, Ausländer und Minderheiten zu Sündenböcken zu stempeln.
Könnte irgendwann eine vorteilhaftere, stärkere internationale Ordnung entstehen? Vielleicht. Noch vor ihrem Sieg im Zweiten Weltkrieg begannen die Alliierten eine Nachkriegsordnung zu konzipieren, um damit die Wiederkehr eines weiteren globalen Flächenbrandes abzuwenden. Diese Ordnung wies grundlegende Schwachstellen auf. Obwohl sie die Illusion einer globalen Governance hervorrief, konnte diese Weltordnung niemals effektiver sein, als es die rivalisierenden Mächte zuließen.
Bei all ihren Erfolgen sind auch monumentale Misserfolge aufzulisten. Und doch war das System aus den 1940er Jahren dem vorangegangenen eindeutig vorzuziehen. Im Jahr 2020 kann man erst beginnen, sich zu überlegen, wie eine neue, nachhaltigere Ordnung zu schaffen sei, im Rahmen derer die wachsenden Bedenken hinsichtlich Gleichstellung berücksichtigt werden und in der mehr Länder Gehör finden können. Unterdessen werden wir uns wohl in einer neuen Welt zurechtfinden müssen, in der Auseinandersetzungen abrupt an die Stelle bestehender Arrangements treten. Selbst wenn sich das Chaos als vorübergehend erweist, wäre dies ein trauriger, zerstörerischer und gefährlicher Schlusspunkt der Nachkriegszeit. Covid-19 enthüllte, wie kostspielig die Bewältigung einer globalen Krise mit einem fehlerhaften internationalen System ist. Noch schlechter wäre nur, die nächste Krise überhaupt ohne internationales System bewältigen zu müssen.
Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier
(c) Project Syndicate