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The Walking Dead, Game of Thrones, oder Z Nation, in der Popkultur wimmelt es nur so von Zombies. Die Untoten sind die perfekte Analogie in Zeiten großer Umbrüche. Schon Antonio Gramsci wusste: Wenn das Alte stirbt und das Neue nicht geboren werden kann, kommen Monster zum Tanz. Heute fürchten wir den amerikanischen Nachtkönig, der mit seiner Armee von Hirntoten den Westen zu überrennen droht. Und diskutieren eifrig, ob seine „white walkers“ nun abgehängte „white workers“ oder privilegierte, alte, weiße Männer sind.
Auf der Leinwand bleibt immer unklar, was die Untoten eigentlich am Laufen hält. Ein Virus? Oder ein Zauberspruch? Im echten Leben dagegen liegt die Antwort auf der Hand: billiges Geld. Als in der Finanzkrise 2008 der Infarkt im Herzen des globalen Kapitalismus drohte, begannen die Banken Geld zu drucken. Was ursprünglich als kurzfristige Rettungsmaßnahme gedacht war, hält jedoch bis heute an. Weil die Realwirtschaft nicht aus eigener Kraft wächst, leben wir in einer Welt ohne Zinsen.
Das billige Geld hält Zombiebanken, Zombieunternehmen, ja ganze Zombievolkswirtschaften künstlich am Leben.
Dieses billige Geld hält Zombiebanken, Zombieunternehmen, ja ganze Zombievolkswirtschaften künstlich am Leben. Mehr als ein Drittel der Unternehmen erwirtschaften nicht mehr ausreichende Renditen, um ihre Kreditkosten zu decken. Deutsche Banken, chinesische Staatsunternehmen, italienische Fluggesellschaften, bankrotte Euroländer werden durch immer neue Finanzspritzen „gerettet“. Unfähig, sich aus dem Morast ihrer Schulden zu befreien, schaffen diese Untoten nichts Neues mehr. Und doch dürfen die Zombies nicht sterben. Sie müssen sich weiterschleppen, um dem lebensfähigen Teil der Ökonomie Zeit zu kaufen, in einen neuen Wachstumszyklus einzutreten. Darauf warten wir jedoch bereits seit Jahrzehnten. Japan hantiert seit knapp dreißig Jahren mit Nullzinsen. Bei uns datiert der Soziologe Wolfgang Streeck den Beginn der Strategie, mit künstlicher Nachfrage Zeit zu kaufen, sogar auf die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts.
Willkommen im Zombiekapitalismus
Weil es kaum produktivitätsgetriebenes Wachstum gibt, bleibt Pensionskassen, Kleinanlegern und Investmentfonds kaum etwas anderes übrig, als in Vermögenswerte wie Immobilien, Aktien, Kunst, oder Gold zu investieren. Der Hamburger Wirtschaftssoziologe Aaron Sahr sieht in dieser Vermögenspreisinflation die eigentliche Ursache der rasant wachsenden sozialen Ungleichheit. Steigen die Vermögenswerte, profitieren nur die sehr wenigen, denen diese Dinge gehören, während die große Mehrheit von steigenden Mieten und Immobilienpreisen verdrängt wird. Die Reichen werden reicher und die Armen ärmer.
In einer politischen Ökonomie, in der acht Milliardäre mehr besitzen als die Hälfte der Menschheit, kann es keinen fairen Wettbewerb geben. Wenn die Einkommen der multinationalen Konzerne größer sind als die Bruttoinlandsprodukte von 85 Prozent der Staaten, wird Regulierung zur Illusion. Die Konzentration der Vermögen an der Spitze der Pyramide konzentriert also zugleich die politische Macht in den Händen der Besitzenden.
Billiges Geld trägt zu diesen Machtasymmetrien bei. Ohne attraktive Anlagemöglichkeiten in der Realwirtschaft marodieren heute Billionen auf der Suche nach Renditen um den Erdball. Besonders schädlich ist dieses Spekulationskapital auf den Immobilienmärkten. Stagnierende Löhne und explodierende Mieten nehmen Geld aus den Taschen der Konsumenten. Schwächelnde Nachfrage auf den westlichen Absatzmärkten ist einer der Gründe, warum die chinesische Exportmaschine stottert. Verlangsamt sich die chinesische Nachfrage nach Rohstoffen, brechen wiederum in vielen Schwellenländern die Einnahmen weg. Nach einer kurzen Verschnaufpause im Rohstoffboom der 2000er Jahre sind daher heute viele Entwicklungs- und Schwellenländer wieder auf Notkredite angewiesen. Kürzen die Regierungen unter dem Druck ihrer Gläubiger Subventionen für Energie, Mobilität oder Nahrungsmittel, gehen Hunderttausende auf die Straße. Weil diese Demonstranten den Reichen und Mächtigen gefährlich werden könnten, werden sie als hirnlose Massen verunglimpft. Doch die Proteste zeigen, dass der Zombiekapitalismus den Menschen nicht mehr viel zu bieten hat.
Kürzen die Regierungen Subventionen für Energie, Mobilität oder Nahrungsmittel, gehen Hunderttausende auf die Straße. Weil diese Demonstranten den Reichen und Mächtigen gefährlich werden könnten, werden sie als hirnlose Massen verunglimpft.
Angetrieben wird dieser Totentanz von untoten Ideen. Wie in den Hochzeiten des Washington Consensus zwingt der Internationale Währungsfonds seine Schuldner wieder zu Strukturanpassungen. Die deutsche Regierung drängt ihre verschuldeten Nachbarn zum finanziellen Aderlass. Neoklassische Ökonomen brandmarken jeden Mindestlohn, jede soziale Sicherung als Wachstumskiller.
Der Zombiekapitalismus wird regelmäßig von Finanzkrisen erschüttert. Und doch wird nichts gegen die Bildung neuer Blasen getan. Im Gegenteil, mit zum Nulltarif gepumptem Geld lässt es sich noch hemmungsloser spekulieren als zuvor. Am wildesten geht es in den Private Equity Märkten zu. Hier verbrennen Venture Fonds Abermilliarden billigen Geldes, um mit ihren digitalen Plattformen eine profitable Quasimonopolstellung zu erringen. Was Google, Apple, Facebook und Amazon vorgemacht haben, gelingt ihren Nachahmern jedoch immer seltener. Der gescheiterte Börsengang von WeWork könnte den Anfang vom Ende der besinnungslosen Jagd nach dem nächsten Einhorn markieren.
Was unterm Strich bleibt, wenn sich all die Milliarden in Luft aufgelöst haben, ist ein gebrochenes Versprechen. Nachdem mit den Autos, Fernsehern und Kühlschränken der letzten industriellen Revolution kein Geld mehr zu verdienen ist, soll nun die digitale Revolution den nächsten Wachstumszyklus auslösen. Doch der erhoffte Produktivitätsschub bleibt bislang aus. Allen Protesten der Sparer zum Trotz muss das anämische Wachstum der alten Industrieländer also weiter mit billigem Geld angekurbelt werden. Die neue Chefin der Europäischen Zentralbank Christine Lagarde hat dementsprechend die Nullzinspolitik ihres Vorgängers erneut verlängert. Die Nullzinswelt wird also auf absehbare Zeit unsere Realität bestimmen.
Moment mal, sind nicht eigentlich hohe Zinsen das viel größere Problem? Alle Weltreligionen haben über Jahrtausende den Wucher verboten, weil sie um seine sozial zersetzende Wirkung wussten. John Maynard Keynes hat sein Leben lang für niedrige Zinsen gekämpft, um Krisen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Hier lohnt das genauere Hinsehen. Die Banken geben das billige Geld, das sie gemeinsam mit den Zentralbanken schöpfen, nicht weiter an die Realwirtschaft. Verschuldete Unternehmen mit schlechter Bonität qualifizieren sich nicht für Kredite. Und die letzte Finanzkrise war eine Warnung, es mit leichten Konsumentenkrediten nicht zu übertreiben. Der Zombiekapitalismus verbindet also das Schlechteste aus beiden Welten: Zocker befeuern mit Unmengen billigen Geldes die soziale Ungleichheit, während es Unternehmen an Finanzmitteln fehlt um zu investieren, und Haushalten an Einkommen, um zu konsumieren. Genau hier liegt der Grund, warum sich die Wirtschaft trotz billigen Geldes nicht erholt, und die Bürger Europas unter hohen Mieten und Arbeitslosigkeit leiden.
Damit das neu geschöpfte Geld nicht bei den Zockern landet, sondern an die Realwirtschaft weitergegeben wird, will die britisch-südafrikanische Ökonomin Ann Pettifor dem Staat die demokratische Kontrolle des Finanzsektors zurückgeben. Das ist angesichts der Kräfteverhältnisse ein ambitioniertes Ziel. Angesichts der multiplen Krisen, die der Zombiekapitalismus rund um den Erdball auslöst, reicht jedoch ein Herumdoktern an den Symptomen nicht mehr aus.
Platzen die neuen Spekulationsblasen, droht die nächste Finanzkrise. Doch im Vergleich zur letzten Krise haben die Zentralbanken nichts mehr im Köcher, um die Wirtschaft vor dem Kollaps zu bewahren, denn der Zins liegt bereits heute bei null. Um die Wirtschaft aus dem „schwarzen Loch“ der Nullzinsen zu befreien, fordert der amerikanische Ökonom Larry Summers, der Staat müsse Geld borgen und es ausgeben, sei es für Sozialausgaben, sei es für die Erneuerung der Infrastruktur. Selbst die konservative Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung fordert seit Jahren, die expansive Geldpolitik durch eine expansivere Fiskalpolitik zu begleiten.
Investieren, nicht sparen, schafft nachhaltiges Wachstum
Und genau hier liegt der Ausweg aus dem Zombiekapitalismus. Billiges Geld ermöglicht Investitionen in die Zukunft. Alleine die Instandsetzung der seit Jahrzehnten vor sich hin rottenden Infrastruktur erfordert einen gigantischen finanziellen Kraftakt. In seltener Eintracht fordern daher das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) und das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) für das kommende Jahrzehnt öffentliche Investitionen von 457 Milliarden Euro. Der klimaneutrale Umbau der Produktions-, Mobilitäts-, Energie- und Wohnungssektoren verlangt nach Investitionen in Billionenhöhe. Um die digitale Revolution menschengerecht zu gestalten, brauchen wir die größten Investitionen in die Köpfe seit den preußischen Reformen. Und um den verunsicherten Bürgern und Bürgerinnen in den strukturschwachen Gebieten das Gefühl zu nehmen, der Staat lasse sie im Stich, muss die Daseinsvorsorge in die Fläche zurückkehren.
Die gute Nachricht: Billiger als heute sind diese Investitionen nie wieder zu haben. Der deutsche Staat kann sich derzeit zum Nulltarif an den Finanzmärkten bedienen. Im Gegenteil, die Anleger zahlen dem Fiskus sogar noch Geld dafür, damit er sich bei ihnen verschuldet. Die Investitionen in die Zukunft werden sich nicht nur langfristig auszahlen. Kurzfristig sendet der Staat ein Zeichen des Vertrauens in die wirtschaftliche Entwicklung, das zusätzliche private Investitionen nach sich ziehen wird. Nutzt der Staat die Gunst der Stunde, ließe sich ein positiver Nachfragezyklus in Gang setzen.
Um die digitale Revolution menschengerecht zu gestalten, brauchen wir die größten Investitionen in die Köpfe seit den preußischen Reformen.
Damit das neue Geld nicht einfach liegen bleibt, müssen jedoch zuerst die Strukturen repariert werden, die unter dem Spardiktat der letzten Jahrzehnte zerstört wurden. Neben leistungsfähigen kommunalen Verwaltungen bedeutet das auch, Bauwirtschaft und Handwerk, Universitäten und Forschungseinrichtungen wieder aufnahmefähig zu machen.
Die italienisch-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin Marianna Mazzucato möchte daher das neue Geld nicht einfach in den Konsum lenken, sondern für die Gestaltung der Zukunft nutzen. Mit dem 100 Milliarden Euro schweren Innovationsprogramm Horizon Europe der Europäischen Union werden ab 2020 fünf Missionen finanziert: die Anpassung an den Klimawandel, der Kampf gegen den Krebs, gesunde Ozeane, klimaneutrale Städte und gesunde Böden und Ernährung. Ziel ist es, mit dem billigen Geld neue Märkte zu schaffen, die dem Gemeinwohl dienen. Die eigentliche Botschaft der Missionen liegt allerdings zwischen den Zeilen: Der jahrzehntelang als Bremser verschriene Staat nimmt seine angestammte Rolle als Pfadfinder wieder ein und signalisiert damit Bürgern und Unternehmen, dass sie auf die Zukunft vertrauen können.
Es bewegt sich also was. Woher kommen auf einmal die vielen Risse in der Orthodoxie? Paradigmenwechsel entstehen nicht im luftleeren Raum. Vielmehr ist mit Chinas Staatskapitalismus ein Systemrivale entstanden, der über unbegrenzte Finanzmittel verfügt. Aber auch im Westen wanken alte Gewissheiten. Alleine die amerikanischen, europäischen und japanischen Zentralbanken haben zur Bekämpfung der Krise mehr als 20 Billionen Euro aus dem Nichts geschaffen. Das Tabu, die Notenpresse für andere Aufgaben als die Preisstabilität zu nutzen, ist also gefallen. Die Europäische Zentralbank möchte nun auch die Bekämpfung des Klimawandels zu ihrer Aufgabe machen. Die drohende Rezession, die politischen Erdbeben und die digital Revolution werden das ökonomische Denken weiter aufbrechen.
In die neue Zeit
Angesichts der vielen Krisen ist es höchste Zeit, unser Wirtschaftssystem auf ein gesundes Fundament zu stellen. Billiges Geld in den Händen von Spekulanten verursacht hohe wirtschaftliche, soziale und politische Kosten. Progressive Politik muss daher dafür kämpfen, den geldschöpfenden Finanzsektor wieder demokratisch zu kontrollieren. Versagt die Herzkammer des Finanzkapitalismus dabei, die Realwirtschaft mit Kapital zu versorgen, dann muss der Staat einen Bypass legen. Nutzt der Staat das billige Geld für Investitionen in die Zukunft, wird aus der Not eine Tugend. Denn für die Finanzierung der drängenden Modernisierungsaufgaben ist das billige Geld ein echter Glücksfall. Ein handlungsfähiger Staat, der die Finanzmärkte demokratisch kontrolliert und klug in die Zukunft investiert, ist der beste Ausweg aus dem Zombiekapitalismus.