Es wird wohl kaum jemand bestreiten, dass wir interessante Zeiten erleben. Die nationalistischen Kräfte gewinnen an Einfluss, das Gespenst einer militärischen Konfrontation, nicht zuletzt mit Nordkorea, geht um. Die Frage lautet daher: Werden die Vereinten Nationen uns retten?

Die Vereinten Nationen allein können die Welt nicht retten. Doch die UN geben meiner Ansicht nach Staaten und insbesondere Großmächten einen unglaublich wichtigen Mechanismus für die Bewältigung aktueller Krisen an die Hand. Im Falle Nordkoreas beispielsweise spielt der Sicherheitsrat gewissermaßen genau den Part, den die Gründer der UN im Auge hatten. Er bringt China, Russland und die USA an einen Tisch, damit sie überaus komplexe diplomatische Verhandlungen führen können, ohne die wohl die einzige Alternative eine Eskalation in den Krieg wäre. Es ist überraschend, dass dies im Umfeld der Regierung Trump geschieht, weil wir nicht erwartet haben, dass Trump überhaupt ernsthaft Diplomatie über die UN betreiben würde. Der Fall Nordkorea illustriert somit, dass die UN in einer unmittelbaren Krise ein letzter diplomatischer Anlaufpunkt sein kann. Aber wie steht es mit den längerfristigen Problemen, etwa im Umweltschutz, in der Migration, im sozialen Bereich, mit Herausforderungen also, die alle UN-Mitglieder angehen? Hat die Organisation darauf eine Antwort?

Die Ziele für nachhaltige Entwicklung, das Pariser Klimaschutzabkommen und möglicherweise auch ein Migrationsabkommen, auf das sich die Staaten nächstes Jahr verständigen werden, können meines Erachtens Elemente für eine Art Fahrplan liefern, der einen Weg aus der schwieriger werdenden Situation weist. Aber es ist eben nur ein Plan; die Vereinten Nationen allein können uns nicht retten.

Sie haben das T-Wort erwähnt: Trump. Die Haltung des US-Präsidenten zum Multilateralismus ist, gelinde gesagt, widersprüchlich: Seine Rede zur Amtseinführung gipfelte in dem Schlagwort „America First“. Er droht mit der Aufkündigung des Iran-Abkommens, er droht Nordkorea mit „Feuer und Wut“, und er ist offenkundig völlig fixiert auf die Souveränität der USA; letzten Monat in seiner Rede vor der Generalversammlung verwendete er diesen Begriff immerhin 21 Mal. Gleichzeitig sprach er aber auch recht diszipliniert: Er hat weder geschwafelt, noch gewütet, noch stundenlang geredet. Und seine UN-Botschafterin Nikki Haley hat durchaus Eindruck gemacht oder zumindest die in sie gesetzten Erwartungen übertroffen. Wie sehen Sie die künftige Zusammenarbeit zwischen den Vereinten Nationen und den USA?

Die Zusammenarbeit zwischen UN und USA hat sich definitiv nicht so schlecht entwickelt, wie es zu Jahresbeginn zu befürchtet stand. In praktischen Fragen, etwa einer Reform der UN-Bürokratie und einer Verschlankung des UN-Entwicklungssystems, hat Haley viele Gemeinsamkeiten mit dem neuen Generalsekretär Antonio Guterres.

Guterres hat ein Bündel aus Reformvorschlägen für die Rationalisierung und Modernisierung der UN vorgelegt, die Haley, wie viele andere UN-Diplomaten auch, gutheißt. Dadurch konnte Guterres das Drängen der USA auf eine Kürzung des UN-Budgets zumindest abschwächen, und die Forderung aus Washington nach einer Halbierung der Beitragszahlungen an die Vereinten Nationen ist leiser geworden. Selbst Trumps Entscheidung, sich aus der UNESCO zurückzuziehen, fehlt es an Schärfe, denn die Regierung Obama stellte die Beitragszahlungen an die UNESCO wegen deren Haltung zu Israel und Palästina schon 2011 ein.

Aber das ist eigentlich nur für UN-Insider von Interesse. Ich mache mir Sorgen, dass trotz der langsamen Fortschritte ein Streit im Sicherheitsrat über Nordkorea oder vor allem über den Iran die Beziehungen zwischen den USA und den UN stark belasten und eine Situation herbeiführen könnte, die mit 2003 und dem Irakkrieg vergleichbar wäre, als die USA und die Vereinten Nationen zutiefst gespalten waren.

Falls das geschieht, müsste in einer solchen Krise vor allem der Generalsekretär vermitteln. Guterres wurde vor zwölf Monaten gewählt. Wie bewerten Sie seinen bisherigen diplomatischen Fußabdruck?

Guterres ist in den ersten neun oder zehn Monaten im Amt sehr behutsam vorgegangen. Er musste sich an die Regierung Trump annähern, und zu Beginn seiner Amtszeit Anfang dieses Jahres fehlten ihm der Zugang und gute Kanäle nach Washington.

Er hat den Schwerpunkt darauf gelegt, eine Arbeitsbeziehung mit Haley aufzubauen und Fürsprecher im Kongress zu finden, um die Vereinten Nationen vor den schlimmsten Kürzungen durch die Regierung Trump zu bewahren. Weil er sich so stark auf Washington konzentriert hat, war Guterres in New York bisweilen fast unsichtbar. Er hat wohl 70 Prozent seiner politischen Bemühungen auf die Beziehungen zu den USA verwendet. Daher wissen viele UN-Beamte vielleicht nicht genau, was er tut, und haben keine klare Vorstellung von seiner Agenda.

Tatsächlich stehen derzeit recht viele UN-Mitarbeiter Guterres reserviert gegenüber, weil sie finden, dass er nicht offen genug mit ihnen umgegangen ist. Meiner Ansicht nach muss er etwas mehr Zeit darauf verwenden, seinen Mitarbeitern zu versichern, dass ihm ihre Ansichten wichtig sind.

Dennoch: Er hat, wie gesagt, erfolgreich eine Beziehung zur Regierung Trump aufgebaut, was nicht selbstverständlich ist, und gleichzeitig ist es ihm gelungen, die guten Beziehungen zu China und vielen Entwicklungsländern zu bewahren.

Das ist durchaus eine Leistung, denn wenn ein Generalsekretär sehr eng mit den USA kooperiert, werden die blockfreien Staaten im globalen Süden meist nervös und gehen mit dem Generalsekretär hart ins Gericht. Aber das ist nicht eingetreten. Meiner Ansicht nach ist das ein Beleg dafür, dass Guterres aus seiner Zeit als Chef des UNHCR noch enorm gute Netzwerke in Lateinamerika und in Afrika hat und diese Netzwerke auch tatsächlich nutzt.

Sie haben Guterres' Reformagenda erwähnt, eines seiner wichtigsten Wahlversprechen. Können Sie erläutern, woraus diese Reformen bestehen?

Ich will vorausschicken, dass die Reformagenda nicht das abdeckt, was sich wohl 95 Prozent der Normalbürger unter einer UN-Reform vorstellen, nämlich eine Neuordnung des Sicherheitsrates. Der letzte Generalsekretär, der eine solche Reform auch nur ansprach, war Kofi Annan, und er kam damit nicht weiter. Ban Ki-moon rührte das Thema nicht an, und dasselbe gilt für Guterres.

Guterres' Reformagenda steht auf vier Säulen. Eine ist die Förderung der Geschlechterparität in der Organisation. Viele UN-Beobachter waren ja enttäuscht, dass der Sicherheitsrat im letzten Jahr keinen weiblichen Generalsekretär gewählt hat. Guterres kann nicht ändern, dass er ein Mann ist, aber er tut sein Bestes, die Geschlechterparität zu fördern. Etwa 50 Prozent der von ihm bislang berufenen leitenden Mitarbeiter sind Frauen. Hier macht er also Fortschritte.

Die wichtigsten Strukturreformen betreffen das UN-Entwicklungssystem, und hier geht es im Grunde um die Streichung von Bestandteilen, die nicht mehr zweckmäßig sind. Die UN-Entwicklungspolitik steckt noch im letzten Jahrhundert fest, es gibt zu viele Doppelstrukturen, und ehrlich gesagt ist vieles, was die UN leistet, mittlerweile durch den Aufstieg Chinas zu einem wichtigen globalen Geldgeber überflüssig geworden. Guterres plant daher, den Fußabdruck der UN in der Entwicklungspolitik weltweit zu verkleinern, die Einrichtungen wieder stärker direkt ihm als Chef der Organisation zu unterstellen und einen Teil der Bürokratie zu beseitigen.

Zweitens befasst er sich mit einer Verwaltungsreform. Im gesamten UN-System verhindern Verwaltungsvorschriften, dass UN-Mitarbeiter vor Ort flexibel und kreativ agieren können. Nach eigener Aussage liegt Guterres besonders viel an der Abschaffung unsinniger Vorschriften, damit UN-Mitarbeiter etwa in den Friedensmissionen oder in der humanitären Hilfe den Bedürftigen auch wirklich helfen können.

Das sind also eher organisatorische, für Guterres aber unglaublich wichtige Reformen. Als Letztes gibt es noch ein kleineres, aber sehr vernünftiges Bündel aus Vorschlägen für die Neuausrichtung der Abteilungen, die von New York aus UN-Vermittlungsprojekte oder Missionen in der Friedenssicherung und Friedenskonsolidierung leiten. Die Abteilungen, die im UN-Hauptquartier mit Sicherheitsfragen befasst sind, haben sich etwas planlos entwickelt, und Guterres möchte eine maßvolle Rationalisierung vornehmen, um die strategische UN-Aufsicht über Missionen wie in Darfur oder über Vermittlungsprozesse wie in Syrien zu verbessern.

Die heiße Kartoffel einer Reform des Sicherheitsrates wird Guterres also nicht anfassen, was bedeutet, dass er die UN-Reformen womöglich erfolgreich durchführt, sie aber nicht das umfassen, was die meisten Menschen von einer UN-Reform erwarten würden?

Das vermute ich, ja. Aber es ist unübersehbar, dass die Diskussion über eine Reform des Sicherheitsrates tot ist, und in den vergangenen Jahren wurde recht deutlich, dass insbesondere China nicht bereit ist, eine Reform mitzutragen, durch die Japan in den Vereinten Nationen auch nur geringfügig mehr Einfluss erhielte. Das ist bei den Chinesen tief verwurzelt. Und vermutlich kann sich auch niemand vorstellen, dass sich die Regierung Trump mit einer Reform des Sicherheitsrates befassen wird. Die Regierung Obama hat mit dem Thema geliebäugelt, es aber nicht konsequent verfolgt. Wenn schon Obama keine Reform des Sicherheitsrates zuwege brachte, dann wird es Trump sicherlich auch nicht schaffen.

Zudem spüre ich bei den wichtigsten Reformverfechtern, auch Deutschland, einen deutlich nachlassenden Eifer. Sogar die Inder, die sich besonders entschieden für eine Reform ausgesprochen haben, um selbst ständiges Mitglied zu werden, aber auch Brasilien, Deutschland und Japan scheinen von dem Prozess enttäuscht zu sein.

Der Sicherheitsrat wird demnach seinen Weg wohl so weitergehen. Meiner Ansicht nach hat sich besonders Deutschland neue und auch kreativere Möglichkeiten der Einflussnahme eröffnet, als nur einen ständigen Sitz zu fordern. Guterres muss sich unterdessen mit den Problemen innerhalb seiner Organisation befassen, weil die Friedensmissionen und die humanitären Einsätze überlastet sind und die Entwicklungshilfe zu wenig leistet. Das sind die akuten und alltäglichen Probleme, die er anpacken muss.

Sie haben neue Einflussmöglichkeiten für Deutschland und andere europäische Länder erwähnt. Was würden Sie der nächsten deutschen Regierung raten, was sollten Europäer und besonders Deutsche – wohlmeinende multilaterale Verfechter der internationalen Ordnung – tun, um diese Ordnung zu verteidigen?

Beginnen wir mit der Betonung des Positiven. Meiner Auffassung nach haben sich das Profil und der substanzielle Beitrag Deutschlands zu den Vereinten Nationen vor allem in den letzten fünf Jahren sehr verbessert. Unter der letzten Regierung hat sich Deutschland stark für die politische UN-Agenda engagiert, und zwar nachhaltig und intensiv, was in der Vergangenheit nicht immer der Fall war. In New York wird durchaus wahrgenommen, dass Berlin, das in der UN-Diplomatie früher nach den Franzosen und den Briten stets die zweite Geige spielte, nun an Einfluss gewinnt.

Der Brexit wird in den Vereinten Nationen vieles verändern, weil die EU dann nicht mehr zwei ständige Mitglieder im Sicherheitsrat hat, sondern nur noch Frankreich. Doch Frankreich kann den Block der Europäer in den Vereinten Nationen nicht allein vertreten. Es trägt beispielsweise deutlich weniger zur Entwicklungshilfe bei als Deutschland. Auch bei Verhandlungen mit Russland ist Deutschland auf vielen Gebieten besser als Frankreich in der Lage, in Moskau gute Ergebnisse zu erzielen.

Ich vermute daher, dass Deutschland in den nächsten fünf bis zehn Jahren zwar kein ständiges Mitglied im Sicherheitsrat wird, dass jedoch in immer mehr Politikbereichen das P5+1-Modell wiederaufgelegt wird, nach dem Berlin ohne ständigen Sitz dennoch an vielen Entscheidungen des Sicherheitsrates beteiligt ist, wie es bereits im Falle des Iran geschah.

Damit das so weitergeht, muss Deutschland seinen spürbaren finanziellen Beitrag zum UN-System aufrechterhalten. Und es muss sich auch in Zukunft verstärkt in der Friedenssicherung engagieren. Und ja, ich glaube, dass die Macht Deutschlands in den Vereinten Nationen eine anerkannte Tatsache ist, und das ist durchaus gut so, besonders im Kontext des Brexit.

Deutschland als unentbehrliche Nation?

Ich würde eher sagen, dass Deutschland der Freund ist, den man heute braucht, um in den Vereinten Nationen eine Party in Gang zu bringen, und wenn es nur deshalb ist, weil die Deutschen die Getränke bezahlen können.

 

Die Fragen stellte Michael Bröning.