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Vor sechs Monaten habe ich eine Kolumne zur Rolle der Modernen Geldtheorie bei der Bewältigung der Corona-Krise veröffentlicht. Es ist eher unwahrscheinlich, dass die Ökonomen der amerikanischen Regierung und der Notenbank Federal Reserve den Text gelesen haben. Aber sie sind anscheinend auf denselben Gedanken gekommen. Zumindest stimmt die Geld- und Fiskalpolitik, die die Vereinigten Staaten in den vergangenen sechs Monaten betrieben hat, perfekt mit den Rezepten der Modern Monetary Theory (MMT) überein.

Beginnen wir mit der Fiskalpolitik. Im zweiten Quartal 2020 betrug das staatliche Haushaltssaldo der Vereinigten Staaten auf Bundesebene -30,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Dieser Wert liegt deutlich höher als das bisherige vierteljährliche Rekorddefizit von 11,6 Prozent im zweiten Quartal 2010. Was hat die amerikanische Regierung mit diesem Geld gemacht? Ein großer Teil floss in Form von Transferleistungen an private Haushalte. Im März verabschiedete der Kongress ein Gesetz über Nothilfen (The Coronavirus Aid, Relief, and Economic Security (CARES) Act). Damit erhielten die Arbeitslosen zusätzliche Leistungen in Höhe von 600 Dollar pro Woche. Diese Zusatzleistung hat eine entscheidende Rolle dabei gespielt, extreme Notlagen zu lindern. Die Armut könnte dadurch sogar zurückgegangen sein.

Und wie sieht es mit der Geldpolitik aus? Ebenfalls in Übereinstimmung mit der MMT begann die „Fed“ bereits im ersten Quartal, große Mengen Schatzpapiere zu kaufen. Langfristig betrachtet übertraf der Umfang dieser Transaktionen jeden historischen Präzedenzfall bei weitem. In der Phase der „quantitativen Lockerung“ im ersten Quartal 2011 hatte die Federal Reserve die bis dahin maximale Menge an Staatsanleihen in Höhe von 8,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gekauft. Im ersten Quartal 2020 betrug das Volumen 18,9 Prozent und im zweiten Quartal 21,2 Prozent des BIP.

Die Arbeitslosen erhielten zusätzliche Leistungen in Höhe von 600 Dollar pro Woche. Diese Zusatzleistung hat eine entscheidende Rolle dabei gespielt, extreme Notlagen zu lindern. Die Armut könnte dadurch sogar zurückgegangen sein.

Die Modern Monetary Theory sieht eigentlich vor, dass die jeweilige Zentralbank einem Staat direkt Geld leiht. Die Fed hingegen kauft Anleihen in der Regel von Primärhändlern auf dem Sekundärmarkt, also von großen, weltweit agierenden Banken. Wenn die Banken jedoch wissen, dass die Notenbank bereit ist, praktisch unbegrenzt Staatsanleihen zu kaufen, macht dieses Vorgehen ökonomisch betrachtet keinen Unterschied.

Welche wirtschaftlichen Effekte resultierten nun aus dieser Strategie? Sie hatte zunächst einmal unmittelbare Auswirkungen auf die verfügbaren Privateinkommen – auch hier in beispielloser Weise. Die Nettotransfers (nach Steuern) betrugen fast ein Fünftel des BIP; während der Großen Rezession im ersten Quartal des Jahres 2010 hatte der bisherige Maximalwert 7,5 Prozent betragen. So kompensierten die Transferleistungen nicht nur den Rückgang der Lohneinkommen, sondern ließen die verfügbaren Einkommen der amerikanischen Haushalte auf ein Rekordhoch ansteigen.

Was haben die Haushalte mit diesem Geld angefangen? Aufgrund der Corona-bedingten Einschränkungen im zweiten Quartal ging der Konsum deutlich zurück. Das verfügbare Einkommen der Amerikanerinnen und Amerikaner lag im zweiten Quartal auf das Jahr hochgerechnet um 1,6 Billionen Dollar höher als im vierten Quartal 2019. Zugleich gingen ihre Konsumausgaben um 1,8 Billionen Dollar zurück. Infolgedessen stieg auch die Sparquote auf das Rekordhoch von 25,8 Prozent an. Der vorherige Höchstwert im Mai 1975 hatte 17,3 Prozent betragen. Auf diese Weise wuchs die Geldmenge stark an, sie nahm vom vierten Quartal 2019 bis zum zweiten Quartal 2020 um 27 Prozent zu. Insgesamt lässt sich angesichts dieser extremen Veränderungen wichtiger makroökonomischer Variablen definitiv sagen, dass die Pandemie „eine Krise wie keine andere“ ist, wie die Ökonomin Gita Gopinath es ausdrückte.

Für Monetaristen ist der massive Anstieg der Geldmenge definitiv besorgniserregend. Aber bis auf weiteres wird die amerikanische Wirtschaft eine große negative „Produktionslücke“ aufweisen, was darauf hindeutet, dass es Spielraum für nichtinflationäres Wachstum gibt.

Die entscheidende Frage lautet, ob die MMT-„Bazooka“ (so hat der deutsche Finanzminister Olaf Scholz sein erstes Hilfspaket zur Stimulierung der Nachfrage genannt) in den Vereinigten Staaten erfolgreich war. Da die gesamte Wirtschaft wegen der Pandemievorschriften in einem künstlichen Koma lag, insbesondere im April und im Mai, ist es nicht verwunderlich, dass ein Rückgang des BIP um 9,1 Prozent (nicht annualisiert) unvermeidbar war und die Arbeitslosigkeit im April auf 14,7 Prozent anstieg.

Dennoch fällt die Bewertung aus heutiger Sicht gar nicht so schlecht aus. Zunächst einmal haben der Umfrage „Payroll Survey“ zufolge von den 22 Millionen Menschen, die im März und April ihren Job verloren hatten, rund 11 Millionen heute wieder einen Arbeitsplatz. Auf einer Pressekonferenz am 16. September sagte der Vorsitzende der Federal Reserve, Jerome Powell dazu: „Ich denke, ich sollte zunächst sagen, dass die erste Reaktion der Finanzbehörden schnell kam. Sie war kraftvoll und ziemlich effektiv. Und heute sehen wir die Ergebnisse – in den Daten zu Einkommen und Haushaltsausgaben, in den Arbeitsmarktdaten, in den Daten zur Bautätigkeit, in den Daten zu Unternehmensinvestitionen. Und wir sehen, dass die Firmen weiterhin Geschäfte machen, und, wissen Sie, die Geschwindigkeit, mit der Unternehmen in Zahlungsverzug geraten und so weiter hat sich wirklich verlangsamt. Es gab also einen wirklich positiven Effekt.“

Wie steht es um die Inflationsrisiken der MMT? Monetaristen glauben, Inflation werde durch eine höhere Geldmenge verursacht, während Keynesianer sie mit einem Verteilungskonflikt in Verbindung bringen. Für Monetaristen ist der massive Anstieg der Geldmenge definitiv besorgniserregend. Aber bis auf weiteres wird die amerikanische Wirtschaft eine große negative „Produktionslücke“ aufweisen, was darauf hindeutet, dass es Spielraum für nichtinflationäres Wachstum gibt. Wenn die privaten Haushalte ihre ungewöhnlich hohen Bankguthaben schrittweise reduzieren, dürfte dies nicht zu Inflationsdruck führen.

Die vom Finanzsystem – und damit der Zentralbank – finanzierte Staatsverschuldung generiert private Ersparnisse.

Es ist noch zu früh für eine umfassende Bewertung der MMT-Strategie, die die amerikanische Regierung und die Fed in den vergangenen sechs Monaten angewendet haben. Es ist jedoch überraschend, dass berühmte amerikanische Ökonomen, die der MMT stets ablehnend gegenüber standen - etwa Larry Summers („Rezept für ein Desaster“), Paul Krugman oder Kenneth Rogoff („Modern Monetary Nonsense“) – die aktuelle Fiskal- und Geldpolitik bisher nicht kritisiert haben. Paul Krugman lobte den CARES-act sogar und forderte seine Verlängerung.

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs soll der britische Premierminister Winston Churchill gesagt haben: „Vergeude niemals eine gute Krise!“ Für Ökonomen sind die extremen Schwankungen der wichtigsten makroökonomischen Variablen in der Coronavirus-Krise, und die Versuche, darauf zu reagieren, ein faszinierendes Analyseobjekt und bieten die Möglichkeit, neue Erkenntnisse über makroökonomische Prozesse zu gewinnen.

Beispielsweise sind prominente Ökonomen der Auffassung, Staatsverschuldung werde durch die Ersparnisse der privaten Haushalte finanziert. Daraus folgt implizit, dass es skandalös wäre, wenn Regierungen weitere Schulden aufnehmen würden. Die Krise zeigt jedoch deutlich, dass es sich in Wahrheit genau umgekehrt verhält: Die vom Finanzsystem – und damit der Zentralbank – finanzierte Staatsverschuldung generiert private Ersparnisse.

Aus dem Englischen von Michael Miebach.

Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal