In Zeiten von Corona wundert man sich über fast nichts mehr. Denn wenn wir etwas gelernt haben in den vergangenen Monaten, dann doch dies: dass am Ende sowieso alles anders kommt. Ich wundere mich trotzdem. Und zwar darüber, dass die mahnenden Stimmen, die vor den Schäden der Corona-Maßnahmen für die kommende Generation warnen, kaum in der Öffentlichkeit Gehör finden. Vor lauter Angst vor der Pandemie ist der Blick auf die Gegenwart gerichtet. Für die Zukunft scheint da kein Platz zu sein.
Bildungsgewerkschaften bemängeln das Abrutschen leistungsschwacher Schülerinnen und Schüler in Zeiten häuslicher Beschulung. Kinder- und Jugendärzte warnen vor Depressionen bei Jugendlichen. Kinderschutzbünde kritisieren die soziale Isolation von Kindern durch Kontaktverbote. Elternverbände warnen vor dem Verlust des für die Entwicklung notwendigen realen Erfahrungsraums durch zu frühe Digitalisierung und Dominanz der virtuellen Welt in Schulen und Kitas. Und Wirtschaftsverbände prognostizieren bereits jetzt die immensen Einbußen, die durch ausbleibenden Schulunterricht im späteren Erwerbsleben eintreten werden – mit entsprechenden volkswirtschaftlichen Folgen.
Für Koalitionspolitiker, Virologinnen und Intensivmediziner ist das jedoch ganz weit weg. Für sie gilt im Krisenmodus nur das Hier und Jetzt. Unter dem Schlagwort der Solidarität mit Minderheiten und Schwachen werden massiv Grundrechte eingeschränkt und eine ganze Volkswirtschaft vor riesige Herausforderungen gestellt. Die Schulden, die heute angehäuft werden, werden unsere Kinder und Kindeskinder noch abtragen, wenn die aktuelle Pandemie nur noch eine blasse Erinnerung der dann verrenteten Generation ist.
Dabei geht es gar nicht um wirkliche Minderheiten, sondern um beachtliche Bevölkerungsteile, die als Stammwählerschaft der Großen Koalition ihre Regierungsgewalt sichern. Bei der nächsten Bundestagswahl wird der Anteil der über 60-Jährigen bei über 30 Prozent liegen – wie bereits schon 2017. Da die Wahlbeteiligung in der Altersgruppe überdurchschnittlich hoch ist, lag ihr Anteil an der Wählerschaft damals sogar bei 37,1 Prozent. Knapp drei von acht Wahlstimmen kommt von Menschen, die den Großteil ihrer Lebenszeit längst hinter sich hat.
Kinderschutzbünde kritisieren die soziale Isolation von Kindern durch Kontaktverbote.
Dass es sich bei der undifferenzierten Vorgehensweise der Regierungen in Bund und Ländern zum sogenannten Schutz der Risikogruppen um ein höchst irrationales Vorgehen handelt, zeigt die Hysterie, mit der Vorschläge zum differenzierten Schutz einzelner Bevölkerungsteile reflexartig weggebissen werden. Da hört man sofort – noch bevor eine Idee ausgesprochen wurde –, man könne ja nicht einzelne Bevölkerungsgruppen wegsperren und, überhaupt, man müsse ja immer alle Menschen gleichbehandeln.
Gleichbehandeln schön und gut. Aber in diesem Falle macht ja das Virus den Unterschied und nicht der Mensch. Und außerdem, was ist besser: einzelne Bevölkerungsgruppen oder die gesamte Bevölkerung „wegsperren“? Wie wäre es aber damit, gar nicht erst in „Wegsperren“ oder „Nicht-Wegsperren“ zu denken, sondern Maßnahmen zu erwägen, wie Risikogruppen gezielt geschützt werden können, indem man ihnen eigene Freiräume gibt – beispielsweise durch eigene Einkaufszeiten in Supermärkten, die diesen Personen vorbehalten sind?
Das eigentliche ethische Problem liegt aber darin, dass wir es trotz hoch entwickelter Medizin und ungeheuren moralischen Ansprüchen immer noch nicht geschafft haben, ein gesellschaftlich reifes und reflektiertes Verhältnis zu Krankheit und Sterben an sich zu entwickeln. Denken wir die Sache noch einmal vom Grundsätzlichen her: Leben und Sterben gehören unweigerlich zusammen. Die Medizin hat es nun im Laufe der letzten Jahrzehnte geschafft, das Sterben sehr weit hinauszuzögern und sich zur Beherrscherin über fast alle bekannten Krankheiten zu machen. Die Probleme, die dadurch entstehen, dass die Medizin für das Sterben bislang keine Verantwortung übernommen hat, liegen seit Jahren offen, wie die Diskussionen um Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten zeigen. Zu oft erscheint der Tod immer noch als Medizinversagen.
Dabei liegt die Hauptursache für die mangelnde Verantwortungsbereitschaft nicht unbedingt bei der Medizin selbst, sondern im gesellschaftlichen Druck, der auf sie ausgeübt wird. Denn sobald die Medizin versucht, ihren Entscheidungsspielraum auch auf das Sterben auszudehnen, wird ihr rigoros Zynismus vorgeworfen. Das zeigte sich jüngst an der Diskussion, dass Triage-System auf die Belegung der Intensivbetten durch Corona-Patientinnen und -Patienten anzuwenden, also die Patienten in drei Kategorien nach der Höhe der Überlebenschancen einzuteilen und denjenigen mit den höheren Chancen einen Vorrang in der Behandlung einzuräumen. Die Medizin mache sich damit zur Herrin über Leben und Tod, heißt es dann vorwurfsvoll. Das ist richtig und das muss sie auch tun, um ihrer Rolle gerecht zu werden. Denn die Verantwortung für das Sterben nicht zu übernehmen ist eben – verantwortungslos.
Das Ansinnen der Politik ist berechtigt, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Aber dazu ist die Fixierung auf die Infektionszahlen falsch.
Anknüpfend an die seit Jahren geführten Debatten über Patientenverfügungen bleibt schließlich daran zu erinnern, dass es in den Pflegeheimen durchaus nicht wenige Seniorinnen und Senioren gibt, die innerlich zum Sterben bereit sind, da sie mit dem Leben für sich abgeschlossen haben. Warum sollte es nun zynisch sein, jedem Heimbewohner eine Willensentscheidung vorzulegen, bei der jeder selbst entscheiden kann, ob er oder sie intensivmedizinisch behandelt werden oder nur eine palliativmedizinische Behandlung erhalten möchte? Ist es wirklich allen Senioren, die in den Intensivstationen behandelt werden, recht, dass zur Verlängerung ihres Lebens um ein paar Monate oder Jahre die Zukunftschancen einer ganzen Generation aufs Spiel gesetzt werden? Sollte man nicht lieber fragen, bevor man die ganze Gesellschaft in Sippenhaft nimmt?
Das Ansinnen der Politik ist berechtigt, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Aber dazu ist die Fixierung auf die Infektionszahlen falsch. Denn der Großteil der Infizierten erlebt nur einen milden oder mäßigen Verlauf. Allein die Belegung der Intensivbetten zeigt eine Überlastung des Gesundheitssystems an und genau hier und nur hier muss die Frage ansetzen, wie diese Zahl beherrschbar bleibt. Und dazu gehört an allererster Stelle die Frage, wer mit welchen Überlebenschancen welche Therapie erhält.
Wer behauptet, ich fordere ja geradezu die Entsolidarisierung unserer Gesellschaft, der irrt sich: Das Gegenteil ist der Fall. Ich fordere endlich die Solidarisierung mit den Ärmsten und Schwächsten unserer Gesellschaft, die am längsten an den Folgen dieser Krise leiden werden, und mit denjenigen, denen diese als Schutzbefohlene anvertraut sind: mit den Kindern und ihren Eltern.
Denn wem nützt es, wenn zwar tausende von mehrfach vorerkrankten Senioren noch ein paar Monate länger leben können, gleichzeitig aber ganze Kohorten von Kindern aus bildungsschwachen Familien dramatisch und unaufholbar in ihren schulischen Leistungen absinken? Wenn Kleinkinder in ihrer psychosozialen Entwicklung behindert werden, unzählige Familien in häuslicher Gewalt versinken, Teenager Suizid begehen, Familien, deren Einkommen beispielsweise von der Kultur oder der Gastronomie abhängt, die Existenzgrundlage entzogen wird und Ausbildungsabsolventen sowie Studienabgängerinnen der Einstieg ins Berufsleben verwehrt wird?
Die Maßnahmen, die hier nützen, schaden dort. Und sie sind wie so häufig das Ergebnis von Prioritätensetzungen und Wahrnehmungen.
Wer hier einwendet, ich beschwöre einen Generationenkonflikt, der verkennt, dass ich lediglich Tatsachen in Relation setze, die die Kehrseite der gleichen Medaille sind. Die Maßnahmen, die hier nützen, schaden dort. Und sie sind wie so häufig das Ergebnis von Prioritätensetzungen und Wahrnehmungen. Dazu gehört, dass die Gegenwart leichter greifbar ist als die Zukunft und dass Infektions- und Sterbezahlen auf den ersten Blick leichter zu erfassen sind als Zukunftschancen, Armut und Gewalt.
So, wie die ethischen Prämissen in der Medizin und in unserer Gesellschaft zurzeit gesetzt sind, sind manche Schutzmaßnahmen natürlich alternativlos und ich werde niemanden dazu auffordern, das Abstandsgebot zu missachten oder an den gebotenen Stellen keine Maske zu tragen. Auch die Schließung der Kindergärten und Schulen ist unter den gegenwärtigen ethischen Prämissen nahezu unumgänglich. Allein, die ethischen Prämissen erweisen sich spätestens in dieser Krise jedoch als falsch und bedürfen einer grundlegenden Neuausrichtung. Wir müssen als Gesellschaft wieder lernen, dass Krankheit und Sterben Teile unseres Lebens sind, und Verantwortung auch dafür tragen. Ansonsten wird das Leiden nur auf die nächste Generation übertragen und in anderer Form fortgesetzt.
In die richtige Richtung geht die aktuelle Diskussion im Bundestag um die grundrechtliche Verankerung von Kinderrechten. Das würde beispielsweise das Recht auf Bildung und das Recht auf Schule stärken. So müssten die Rechte von Kindern beispielsweise von Gerichten höher bewertet werden, wenn es um die Überprüfung von Grundrechtsbeschränkungen durch Corona-Verordnungen geht. Darauf aufbauend wäre zu erwägen, dass Eltern die Stimme ihrer Kinder bis zum Erreichen deren aktiven Wahlrechts (das auch im Bund spätestens bei 16 Jahren liegen sollte) stellvertretend wahrnehmen.
Eine Krise im Wortsinne ist eine Situation, in der eine „Trennung“ oder eine „Entscheidung“ herbeigeführt wird. Am Umgang mit dieser Krise zeigt sich, ob wir bereit sind, unsere Gesellschaft zukunftsfähig zu machen, oder ob wir bestehende Ungleichheiten des Wohlstands und der Teilhabe zulasten der jüngeren Generation fortführen, zementieren und verstärken. Angesichts der dramatischen Folgen, auf die wir kopflos zusteuern, ist ein Umdenken dringend geboten, das vor allem die ethische Herausforderung neu beantwortet und zugleich weniger Besitzstandswahrung als Zukunftsorientierung ins Zentrum stellt.