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Wir leben in einer Zeit der Auflösung vertrauter Strukturen der Kommunikation, der institutionellen Entscheidungsfindung, der politischen Formationen. Die beiden großen politischen Lager, das konservative und das progressive, in manchen Staaten als Christ- und Sozialdemokratie figuriert, verlieren ihre Integrationskraft und zeigen Auflösungserscheinungen. Diese Entwicklung ist nicht neu.

In den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war die Parteienordnung in den meisten westlichen Staaten sehr stabil. Die kulturellen Veränderungen der 1960er und 1970er Jahre führten zu einer Ausdifferenzierung, zunächst allerdings nur im progressiven politischen Lager. Die an den Interessen der Arbeitnehmer orientierten sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien in Westeuropa wurden zum Hoffnungsträger einer politisierten Generation, deren soziale Herkunft ganz überwiegend bürgerlich und akademisch war.

Das übte nicht nur programmatisch, sondern auch kulturell einen gewaltigen Veränderungsdruck auf die traditionellen Arbeitnehmerparteien aus, der teilweise zu einer Marginalisierung der Vertreter aus den Gewerkschaften und aus der Facharbeiterschaft führte. Diese fühlten sich sich nicht mehr hinreichend repräsentiert, wanderten zu konservativen Parteien ab oder stellten ihr politisches Engagement ein. In manchen Ländern kam es zu einer Abspaltung des ökosozialistischen Flügels und zur Gründung ökologischer Parteien.

 

In den Zeiten der ideologischen Dominanz des Neo-Liberalismus und Markt-Radikalismus hatten jedoch paradoxerweise sozialdemokratische Parteien in Europa und die Demokraten in den USA Wahlerfolge, die die Politik des sogenannten Dritten Weges von Bill Clinton in den USA, Tony Blair in Großbritannien und Gerhard Schröder in Deutschland einleiteten. Am Ende begründete dies trotz all ihrer ökonomischen Erfolge eine zweite Phase der Erosion des progressiven Lagers. In Deutschland trug sie zur Entstehung einer Partei links von der SPD bei, in Großbritannien und den USA zu einer deutlichen Linksverschiebung von Labour und Demokratischer Partei.

Das konservative Lager mit seiner traditionell unscharfen Programmatik schien von dieser Erosion in Europa lange verschont zu bleiben. Das hat sich in den letzten Jahren dramatisch verändert. In Frankreich wurde die neo-gaullistische republikanische Partei ebenso wie die Sozialisten von der neuen liberalen Kraft En Marche von Emmanuel Macron marginalisiert und von der Rechten Le Pens dezimiert. In den USA erodierte die programmatische Einheit der Republikaner zunächst durch die Tea-Party-Bewegung und endgültig durch den rücksichtslosen Durchmarsch Donald Trumps. Dessen Rhetorik nutzt rassistische und chauvinistische Botschaften. Er gibt programmatische Gewissheiten der amerikanischen Konservativen wie Freihandel und Weltoffenheit auf, während anti-demokratische Ressentiments an die Stelle der überkommenen republikanischen Tugenden treten.

In Deutschland scheint die Modernisierung des Konservatismus unter der Führung Angela Merkels zu einer anhaltenden programmatischen Spaltung der CDU geführt zu haben, mit Rechtsauslegern, wie der Werte-Union, die zahlreiche inhaltliche Positionen mit der AfD teilt. Diese wandelt sich wiederum von einer national-liberalen Partei mit einem hohen Anteil von Wirtschaftsprofessoren zunehmend zu einer anti-demokratischen Rechtspartei mit oft faschistischer Rhetorik.

 

In Italien wurde die Christdemokratie schon in den 1990er Jahren zerrieben, nachdem die democrazia cristiana dem Verfolgungsdruck der Staatsanwaltschaften wegen Korruption und Misswirtschaft nicht standhalten konnte. Seitdem gab es kein konservatives Lager mehr, sondern einen Rechtslibertarismus von Silvio Berlusconi und eine neue, am amerikanischen Vorbild orientierte demokratische Partei, mit einigen christdemokratischen und liberalen Splitterparteien in der Mitte.  Auch hier zeigte sich Italien als europäische Avantgarde, wie in früheren Zeiten der Kultur- und Politikgeschichte (Futurismus, Faschismus, nach dem Zweiten Weltkrieg Konsumismus und Modernismus).

Die programmatische Unschärfe und die Unwilligkeit, Politik theoretisch abzusichern, war seit den Zeiten Edmund Burkes eine Stärke des Konservativen. In der aktuellen Krise wendet sich diese Stärke in ihr Gegenteil: Die Konservativen können dem doppelten Druck von Rechts, dem neuen Populismus, aber auch den alt-rechten Ideologien programmatisch nichts entgegenstellen. Ihr liberaler und sozialer Flügel nutzt die politische Rhetorik liberaler und sozialdemokratischer Provenienz, um ihre Politik zu begründen, und riskiert damit den Eindruck zunehmender Beliebigkeit und Substanzlosigkeit.

Ihr rechter Flügel biedert sich rhetorisch, teilsweise auch in der politischen Praxis bei rechten Anti-Demokraten an. Manchen charismatischen Führungspersönlichkeiten gelingt es, das so entstandene Vakuum zu füllen. Beispiele sind Silvio Berlusconi in Italien, Sebastian Kurz in Österreich oder Donald Trump in den USA. Zugleich tragen sie damit zum Niedergang des Konservatismus bei: Es bleibt die Loyalität zu einer Führungsfigur, die sich programmatisch alle Optionen frei hält und damit die Erosion des Konservatismus beschleunigt.

 

Für die Zukunft sehe ich zwei mögliche Szenarien: Das erste geht von einer weiteren Erosion der beiden großen politischen Lager aus, mit einer weiteren Zersplitterung der politischen Landschaft und einem Erstarken anti-demokratischer Kräfte rechts und links. Das zweite Szenario vermutet, dass der Höhepunkt des anti-demokratischen Ressentiments bald überschritten sein und einer Sehnsucht nach politischer Stabilität Platz machen wird. Indizien gibt es für beide Szenarien. Die repolitisierte jüngere Generation begeistert sich für altlinke Politik-Modelle, wie den demokratischen Sozialismus Bernie Sanders' oder Jeremy Corbyns. Die Unzufriedenen rechts von der Mitte, meist der älteren Generation, suchen nach Halt in den politischen Rezepturen des traditionellen Konservatismus – die starke  Zustimmung zu Positionen eines Friedrich Merz in der CDU belegt das.

Auch sozialdemokratische Parteien können in Europa Wahlen gewinnen, wenn sie einen linken Realismus praktizieren, ökonomische Kompetenz mit sozialer Sicherheit verbinden und die Ängste der Bevölkerung vor unkontrollierter Migration ernstnehmen, wie in Dänemark oder dem Burgenland. Eine Rückkehr zum Bipolarismus und damit einhergehend eine Stabilisierung sowohl des sozialdemokratischen wie des christdemokratischen, des progressiven wie des konservativen demokratischen Lagers, halte ich nicht für undenkbar.

Voraussetzung dafür ist, dass die rechtsstaatlich verfasste, parlamentarische Demokratie, die liberale Freiheitsrechte garantiert und sozialen Schutz organisiert, dem aktuellen Ansturm des Populismus standhält. Das setzt voraus, dass sie ihre eigene, heute gefährdete Rationalität versteht: Demokratie bedarf eines Fundamentes in der Zivilkultur sowie der Bereitschaft zur Kooperation über unterschiedliche kulturelle und religiöse Gemeinschaften hinweg. Demokratie ist im Kern Kooperation zur politischen Gestaltung eines florierenden Gemeinwesens. Demokratie ist nicht nur eine Staats-, sondern auch eine Lebensform. Das Konzept sozialdemokratischer oder christdemokratischer, progressiver oder konservativer Volksparteien entspricht diesem Verständnis von Demokratie. Ich hoffe, dass es wieder erstarkt.