Die Bundesregierung verhandelt derzeit ein Versöhnungsabkommen mit Namibia, wo die deutsche Schutztruppe zwischen 1904 und 1908 während der 30-jährigen deutschen Kolonialherrschaft einen Genozid an den Herero und Nama verübte. Der nun stattfindende Versöhnungsprozess wird die Verbrechen nicht ungeschehen machen – und dennoch ist es wichtig, dass wir uns unserer Verantwortung stellen und unsere koloniale Schuld anerkennen. Nur so kann die Grundlage für eine dringend notwendige Neuausrichtung der Nord-Süd-Politik geschaffen werden.
Willy Brandt forderte bereits in den 1970er Jahren einen anderen, respektvollen Umgang mit dem Globalen Süden und verstärkte den Dialog mit Parteien und Regierungen weltweit. Die Beschlüsse, die er mit seiner 18-köpfigen Nord-Süd-Kommission vorgelegt hat, lesen sich auch aus heutiger Sicht visionär. Sie sind eine Handlungsanleitung für das gemeinsame Überleben in einer globalisierten Welt. Der Bericht forderte etwa eine stärkere Integration der ärmeren Länder in die Weltwirtschaft oder auch Reformen der internationalen Organisationen. Er warnte zudem vor den Auswirkungen globaler Herausforderungen wie der Klimakrise, Fluchtbewegungen, Armut, Hunger und Ungleichheit. Viele dieser Krisen haben sich heute verschärft und viele seiner wichtigsten Forderungen warten bis heute auf ihre Umsetzung. Statt Staaten in Afrika, Lateinamerika oder Asien von oben herab zu behandeln, sah er in ihnen wichtige Partner für die Lösung gemeinsamer Herausforderungen.
Moderne Entwicklungspolitik ist auch Friedenspolitik. Nur wenn wir als Partner im Globalen Süden respektiert werden, können wir auch Einfluss auf Krisen und Konflikte nehmen. Allerdings müssen wir konstatieren, dass die politischen und wirtschaftlichen Verheißungen des westlichen Entwicklungsmodells aus heutiger Sicht für viele Staaten des Globalen Südens nicht eingelöst werden konnten. Das, was viele von uns als Zeit des Wohlstands, des Friedens und der Sicherheit erlebt haben, war in großen Teilen des Globalen Südens oftmals eine Fortsetzung von Krisen. Dazu gehörten die wirtschaftlichen Strukturanpassungen genauso wie Militärinterventionen oder auch der Einsatz von Kleinwaffen, die nach dem Ende des Kalten Krieges auf einmal in großen Mengen verfügbar waren.
Eine neue Nord-Süd-Politik muss sich an die veränderten Zeiten anpassen. Wir leben längst nicht mehr in einem bipolaren, sondern in einem multipolaren Zeitalter, in dem sich die Welt in mehrere Zentren organisiert, die Bindungen, Abhängigkeiten und Kooperationen schaffen. Diese Weltordnung hat für viele Staaten große Vorteile, weil sie sich nicht mehr einem Block zuordnen müssen, sondern sich aussuchen können, bei welchen Themen sie mit wem zusammenarbeiten. Dadurch werden Verhandlungen zwischen Staaten noch wichtiger, aber genauso essenziell sind belastbare und vertrauensvolle Beziehungen.
Eine neue Nord-Süd-Politik muss sich an die veränderten Zeiten anpassen.
Für viele Menschen und Regierungen – vor allem in Ländern des Globalen Südens – ist die multipolare Welt sogar ein emanzipatorisches Versprechen. Initiativen wie die BRICS geben einigen Staaten des Globalen Südens eine Stimme in einer internationalen Ordnung, deren Institutionen weiterhin stark von den westlichen Industriestaaten dominiert werden. Chinesische Investitionen in Infrastruktur sind ein attraktives Angebot, das wir mit unserer Entwicklungszusammenarbeit zu lange nicht gemacht haben.
Wenn wir auf die Fakten schauen, müssen wir feststellen, dass die westliche Hegemonie lange vorbei ist. Zwar werden wir auch weiterhin wirtschaftlich und politisch einflussreich bleiben, aber es gibt keine globale Krise, die wir im Westen alleine lösen könnten. Um unsere Interessen weiterhin wahren zu können, brauchen wir neue Partnerschaften. Das erfordert ein Umdenken auf unserer Seite: Die Krisen, die wir priorisieren, haben nicht zwangsläufig auch Priorität für andere Staaten. Der indische Außenminister Subrahmanyam Jaishankar brachte die Erwartung des Globalen Südens an uns Europäer auf den Punkt: „Europa muss aus dem Denkmuster herauswachsen, dass Europas Probleme die Probleme der Welt sind, aber die Probleme der Welt nicht die Probleme Europas.“
Als Russlands völkerrechtswidriger Angriffskrieg auf die Ukraine losbrach, haben viele westliche Politiker die Länder des Globalen Südens aufgefordert, sich an den Sanktionen zu beteiligen. Die verheerenden wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen für diese Länder wollten sie zunächst nicht sehen. Der moralische Unterton, der dabei häufig mitschwang, hat oft für Verärgerung gesorgt. Die Mehrheit der Staaten im Globalen Süden verurteilt den russischen Angriffskrieg und den Bruch des Völkerrechts, ist aber nicht bereit, die Kosten für einen Krieg in Europa zu tragen.
Die noch kompliziertere Belastungsprobe erleben wir aktuell mit der Eskalation im Nahen Osten. Die brutalen Terrorakte der Hamas auf unschuldige Israelis haben weltweit für großes Entsetzen gesorgt. Nach diesen feigen Attacken haben wir richtigerweise unsere Solidarität mit dem Staat Israel und seinen Menschen zum Ausdruck gebracht. Es gibt keine Rechtfertigung für diese brutalen Morde. Das Vorgehen der israelischen Armee in Gaza hat jedoch gerade im Globalen Süden schnell für Empörung gesorgt und der Vorwurf westlicher Doppelstandards wurde laut. Unsere Partner fragen uns: Warum verurteilt der Westen die Zerstörung ziviler Infrastruktur in der Ukraine, nicht aber in Gaza? Warum rückt Deutschland nicht stärker von Israel ab, bei über 25 000 toten Zivilisten in Gaza, darunter viele Frauen und Kinder?
Für eine Lösung der Konflikte unserer Zeit müssen wir der Perspektive unserer Partner mit Respekt begegnen – nicht mit moralischer Überhöhung. In einer multipolaren Welt ist es wichtig, Unterschiedlichkeit zuzulassen und gleichzeitig in der Lage zu sein, gemeinsame Interessen zu identifizieren. Wir müssen uns folglich für eine Demokratisierung der internationalen Ordnung einsetzen, um eine neue Nord-Süd-Politik auch strukturell zu verankern. Wir können eine regelbasierte Ordnung nur verteidigen, wenn wir bereit sind, sie zu reformieren.
Die Verzichtsdebatte verringert die Akzeptanz für Klimapolitik.
Dafür brauchen wir einen langen Atem, denn Vertrauen können wir nicht von heute auf morgen aufbauen. Wir sind in der Verantwortung, faire Angebote zu machen, die zum beidseitigen Vorteil sind, denn anders als in der Vergangenheit, haben diese Länder längst Alternativen: Russland und China waren über viele Jahre präsent, als wir uns wenig für den Globalen Süden interessiert haben. Das können wir uns nicht länger leisten, wenn wir unsere Interessen und Werte in einer multipolaren Welt langfristig sichern wollen. Schließlich ist eine neue Nord-Süd-Politik auch für unseren Wohlstand und unsere Sicherheit von zentraler Bedeutung.
Wie könnte eine solche neue Politik aussehen? Unweigerlich müsste sie sich für eine globale sozial-ökologische Transformation und die Demokratisierung der internationalen Ordnung einsetzen. Für den Kampf gegen die Klimakrise kann es nur eine globale Antwort geben – aber es braucht eine Antwort, die für alle Seiten funktioniert. Viele Staaten des Globalen Südens empfinden die Debatte über Klimaschutz, die wir anstoßen, als Aufforderung, auf Wachstum und Wohlstand zu verzichten. Da weisen sie völlig zu Recht darauf hin, dass wir in Europa unseren Wohlstand mit Kolonialismus, Kohle, Öl und Gas aufgebaut haben, häufig durch Ausbeutung der Ressourcen im Globalen Süden.
Auch die Länder des Globalen Südens haben ein Interesse und auch ein Recht, Wohlstand und Wachstum anzustreben und die Lebensqualität ihrer Bürgerinnen und Bürger zu verbessern. Die Verzichtsdebatte verringert die Akzeptanz für Klimapolitik. Das haben wir auch bei uns in Deutschland erlebt. Wenn wir mit unserer Entwicklungszusammenarbeit also auf Klimaschutz drängen, dann müssen wir auch immer Strukturpolitik und sozialen Ausgleich mitdenken.
Ein weiterer Punkt ist die Wertschöpfung vor Ort. Wenn wir neue Klima- und Ressourcenpartnerschaften mit Staaten des Globalen Südes eingehen, fordern unsere Partner zu Recht, dass es auch Jobs und Wachstum bei ihnen gibt. Unsere Entwicklungszusammenarbeit wird in Zukunft stärker auf soziale und ökologische Entwicklungen vor Ort setzen müssen. Dazu gehört, dass wir beispielsweise nicht nur grünen Wasserstoff aus dem Globalen Süden importieren, sondern auch in die Herstellung der Anlagen vor Ort und damit in neue Jobs investieren. Das sind Ansätze, die wir in unserer bilateralen Zusammenarbeit als Deutschland, als Europäische Union oder mit weiteren Partnern effektiv angehen können. Solche Ansätze tragen auch dazu bei, die Ziele der Nachhaltigkeitsagenda 2030 der Vereinten Nationen zu erreichen, die für uns zentral bleiben.
Staaten des Globalen Südens haben berechtigterweise das Interesse, die globale Ordnung mitzugestalten.
Der zweite große Bereich, den wir angehen müssen, ist die Demokratisierung der globalen Ordnung. Deutschland profitiert wie kaum ein anderes Land von einer regelbasierten internationalen Ordnung. Jeder vierte Job hängt hierzulande vom Export ab und die Krisen der vergangenen Jahre haben gezeigt, welche Auswirkungen Krisen und Konflikte weltweit auf unser Leben haben. Staaten wie Russland greifen diese Ordnung an oder versuchen sie wie China, nach ihren Interessen auszurichten. Daher muss unser Fokus darauf liegen, die internationale Ordnung zu verteidigen, aber sie auch zu reformieren. Nur so können wir langfristig Frieden, Sicherheit und nachhaltiges Wachstum garantieren.
Ein Fokus liegt dabei auf den Vereinten Nationen. Diese spiegeln die Machtverhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg wider. Die Welt hat sich aber geändert. Staaten des Globalen Südens haben berechtigterweise das Interesse, die globale Ordnung mitzugestalten. Damit die Vereinten Nationen als Hüter einer regelbasierten internationalen Ordnung eine Zukunft haben, braucht es Reformen, welche die Machtverhältnisse einer multipolaren Welt von heute besser abbilden. Ein Fokus liegt hier auf der Reform des Sicherheitsrates. In der sogenannten G4-Initiative haben Deutschland, Brasilien, Indien und Japan bereits vor fast 20 Jahren erklärt, sich gegenseitig im Bemühen um einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat zu unterstützen. Auch sollten wir Initiativen unterstützen, die für eine bessere afrikanische Repräsentation sorgen.
Ein weiterer Fokus muss auf der Reform der internationalen Finanzinstitutionen liegen. So müssen zum Beispiel Investitionen in öffentliche Güter wie Bildung, Gesundheit, Infrastruktur, Klimaschutz oder Biodiversität die Arbeit der Weltbank und regionaler Entwicklungsbanken viel stärker prägen. Die infolge der Pandemie dramatisch gewachsene Staatsverschuldung verhindert in vielen Ländern Investitionen in die Zukunft. Für diese Schuldenkrisen brauchen wir eine nachhaltige Lösung innerhalb der internationalen Gemeinschaft. Dabei müssen wir sicherstellen, dass Programme des Internationalen Währungsfonds in Schuldenkrisen soziale Teilhabe schützen, Ungleichheit vorbeugen und wir Fehler der neoliberalen Strukturanpassungsprogramme der Vergangenheit nicht wiederholen.
Es wird der Moment kommen, in dem sich ein Fenster öffnet, diese Reformen anzugehen. Das eine wird schneller gehen, das andere wird länger dauern. Auch wenn wir unterschiedliche Perspektiven auf Konflikte und Krisen haben, gibt es immer Interessen und Werte, die uns zusammenbringen. Die Grundlage dafür ist eine neue Nord-Süd-Politik, die wir als deutsche Sozialdemokratie in den nächsten Jahren prägen wollen.
Auszüge der Rede Lars Klingbeils im Rahmen der Veranstaltung „Nord-Süd – Neu denken“ des Geschichtsforums der SPD in Berlin.