Die Volksrepublik China ist bemerkenswert transparent mit Blick auf ihr Ziel, die internationale Ordnung zu reformieren. In diesem Bestreben betrachtet Peking Drittstaaten, insbesondere Entwicklungsländer, als seine wichtigsten Verbündeten und die Gesundheitsdiplomatie als ein wesentliches Instrument zum Aufbau internationaler Koalitionen.
Dabei hat die COVID-19-Pandemie Chinas Fähigkeit offengelegt, global zu agieren. Peking bot sich vielen Entwicklungsländern als „Ersthelfer“ an und trotz ihrer relativ geringen Wirksamkeit spielten chinesische Impfstoffe eine wichtige Rolle dabei, die Welt zu immunisieren. Chinas Spendenpolitik war vor allem von geostrategischen Erwägungen geleitet, wobei seine Nachbarländer und seine wichtigsten Partner im Rahmen der Seidenstraßeninitiative (BRI) den Löwenanteil erhielten. Die Pandemie zeigte auch, dass der Parteistaat in der Lage ist, über digitale Kanäle eine einheitliche globale Erzählung zu verbreiten. China hat eine parallele COVID-Informationsblase geschaffen, die auf Entwicklungsländer abzielt. In dieser Realität ist China die verantwortungsvolle Großmacht und der Westen befindet sich im Niedergang.
China hat eine parallele COVID-Informationsblase geschaffen, die auf Entwicklungsländer abzielt.
Dabei hat sich Pekings Gesundheitsdiplomatie nicht über Nacht entwickelt. Seit Jahrzehnten pflegen chinesische Provinzen enge Beziehungen in verschiedene Länder, in die sie etwa medizinisches Personal entsenden. Die Volksrepublik nutzte die Zusammenarbeit im Gesundheitswesen schon im Jahr 1971 als diplomatisches Mittel, als sie unter den ehemaligen Kolonien um Unterstützung für ihre Annerkennung als einzig legitime Vertreterin Chinas in den Vereinten Nationen warb. Nach dem Ausbruch von SARS im Jahr 2002, der Chinas wirtschaftliche und politische Stabilität herausforderte, verstärkte das Land seine Bemühungen um internationale Zusammenarbeit im Gesundheitswesen. Auf bilateraler Ebene weitete Peking bestehende Kooperationsprogramme aus. SARS war zudem der Auslöser für die Institutionalisierung der regionalen Gesundheitskooperation mit südostasiatischen und afrikanischen Staaten. Und auf multilateraler Ebene verstärkte die Volksrepublik ihr Engagement bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Die 2015 ins Leben gerufene Health Silk Road (HSR) – eine Unterinitiative der BRI – markierte den Beginn einer strategischen, zentralisierten und einheitlichen Gesundheitsdiplomatie. Erklärtes Ziel der HSR ist es, „Soft Power und Einfluss im Bereich der regionalen und globalen Gesundheitspolitik“ zu gewinnen und Chinas Status als „verantwortungsbewusste internationale Großmacht“ zu stärken. Sie umfasst folgende Bereiche: Ausbau bilateraler und multilateraler Kooperationsmechanismen im Gesundheitswesen, Prävention und Bekämpfung von Infektionskrankheiten, Kapazitätsaufbau- und Förderprogramme, medizinische Katastrophenhilfe, traditionelle chinesische Medizin, Reform des Gesundheitssystems und Koordinierung der Gesundheitspolitik, Entwicklungshilfe im Gesundheitswesen (z.B. kostenlose Augen- und Herzoperationen) sowie Förderung der (chinesischen) Gesundheitsindustrie.
Peking versucht auf regionaler Ebene, COVID-Hilfe mit dem BRI-Versprechen von Entwicklung und Wohlstand zu verknüpfen.
Die COVID-Pandemie beschleunigte Pekings regionale HSR-Anstrengungen. Bis 2019 hatte die Volksrepublik die Zusammenarbeit im Gesundheitswesen im Rahmen des Forums für die China-Afrika-Kooperation (FOCAC) und regionale Kooperationsmechanismen mit den Staaten des Verbands Südostasiatischer Nationen (ASEAN), den mittel- und osteuropäischen Staaten (bis 2019: 16+1; seit 2022: 14+1) und der Arabischen Liga aufgebaut und erweitert. COVID war dann der Auslöser für die Ausweitung derartiger regionaler Kooperationsmechanismen auf Lateinamerika und den Südpazifik. Peking versucht auf regionaler Ebene, COVID-Hilfe mit dem BRI-Versprechen von Entwicklung und Wohlstand zu verknüpfen. Aufgrund politischer Spannungen verlor die Gesundheitskooperation im Rahmen des 16+1-Formats an Bedeutung – ein Beispiel dafür, dass Dialogformate kein Garant für sinnvolle Zusammenarbeit sind.
Auf multilateraler Ebene bleiben Chinas Bemühungen trotz COVID begrenzt. Im Jahr 2017 unterzeichnete Peking ein BRI-Kooperationsabkommen mit der Weltgesundheitsorganisation, um Synergien mit der HSR zu erkunden. Außerdem bewirbt China auf dem UN-Parkett die Position, dass kollektive Menschenrechte (einschließlich des „Rechts auf Gesundheit“) wichtiger seien als individuelle Menschenrechte. Während der Pandemie nutzte China die Vereinten Nationen als Plattform, um die COVID-Politik der US-Regierung zu kritisieren. Sie verzichtete aber darauf, ihre (vergleichsweise niedrigen) freiwilligen Beiträge zur WHO merklich zu erhöhen.
Auf dem UN-Parkett bewirbt China die Position, dass kollektive Menschenrechte wichtiger seien als individuelle Menschenrechte.
Ist China mit seiner COVID-Diplomatie erfolgreich? Umfragen des Pew-Research-Centers deuten darauf hin, dass sie bei den westlichen Staaten keine positivere Haltung gegenüber der Volksrepublik bewirkt hat. Eine Umfrage des Yusof Isak-Instituts aus Singapur ergab, dass die Menschen in den ASEAN-Staaten China einerseits als den größten COVID-Hilfsgeber wahrnehmen. Andererseits sehen sie den Einfluss Pekings in der Region weiterhin kritisch. Im Nahen Osten und in Afrika wird die Volksrepublik im Allgemeinen positiv gesehen, und die Zustimmungsraten sind seit der Pandemie (leicht) gestiegen.
Die Mehrheit der Drittstaaten (d.h. die politische Elite) begrüßte indes die Zusammenarbeit mit Peking im Gesundheitsbereich. In vielen Fällen unterstützten diese Länder wichtige Positionen Chinas auf regionaler und multilateraler Ebene, beispielsweise in Bezug auf die Autonome Region Xinjiang und auf die Sonderverwaltungszone Hongkong.
Trotz Pekings quixotischer Zero Covid-Strategie sollten Entscheidungsträger die langfristigen Auswirkungen der chinesischen Hilfe für die Entwicklungsländer ernst nehmen. Hierfür ist eine Reihe von Empfehlungen zu berücksichtigen. So ist es zum Beispiel wichtig, den Blick zu weiten und Analogien zu ziehen. Die Gesundheitsdiplomatie der Volksrepublik veranschaulicht die Funktionsweise der BRI und die Art und Weise, wie China Außenpolitik betreibt. Die BRI wird nicht verschwinden. Als eine umfassende Vision für den Aufbau von china-zentrierten Netzwerken in einer Vielzahl von Politikbereichen wird sie weiterhin den Ton in der chinesischen Außenpolitik angeben, einschließlich der Gesundheitspolitik.
Zudem sollten sich Entscheidungsträgerinnen des Ausmaßes der chinesischen Ambitionen bewusst sein, Drittstaaten für sich zu gewinnen. Es wäre falsch, die Fähigkeit der Volksrepublik zu unterschätzen, aus ihren Fehlern zu lernen und ihre Gesundheitsdiplomatie zu verbessern. Peking ist sich bewusst, dass die Unterstützung von Drittstaaten für die Aufrechterhaltung und Reform der internationalen Ordnung von entscheidender Bedeutung ist. Aus diesem Grund wendet sich China gezielt an Drittländer und bietet sich als natürlicher Partner der Entwicklungsländer an.
Viele Entwicklungsländer erkennen Chinas Leistung an, vom Hilfsempfänger zum globalen Hilfsgeber aufgestiegen zu sein.
China geht die Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich strategisch an und zielt darauf, seine Soft Power auszubauen. Auch Entscheidungsträger in Europa sollten die Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich stärker aus einer strategischen und geopolitischen Perspektive betrachten. Das bedeutet, in die Verbesserung der eigenen Sichtbarkeit zu investieren. Während Peking das Narrativ vom Niedergang des Westens propagiert, sollten europäische Entscheidungsträgerinnen das Narrativ von der Fähigkeit des Westens fördern, sich wieder zur Normalität zu impfen, und eine offene Einladung an Drittländer aussprechen. Es ist daher wichtig, mehr Ressourcen in die Öffentlichkeitsarbeit in den sozialen Medien der Empfängerländer zu stecken. So kann der chinesischen Deutungshoheit in Drittstaaten etwas entgegengesetzt werden. Die Europäische Kommission und die Botschaften in den Empfängerländern könnten Social-Media-Expertinnen mit Kenntnissen der nationalen digitalen Landschaft einstellen, um für die europäische Gesundheitshilfe zu werben und darüber zu informieren. Die Botschafter der EU-Mitgliedsstaaten könnten zudem gemeinsam Artikel in lokalen Zeitungen veröffentlichen, um auf die europäische Gesundheitshilfe im Empfängerland hinzuweisen.
Es ist außerdem wichtig, Empathie gegenüber den Drittstaaten zu zeigen. Viele Entwicklungsländer erkennen Chinas Leistung an, vom Hilfsempfänger zum globalen Hilfsgeber aufgestiegen zu sein. Westliche Demokratien werden nicht mit offenen Armen empfangen, wenn sie sich auf eine moralische Überlegenheit berufen. Brüssel und EU-Mitgliedsstaaten könnten Umfragen in den Empfängerländern in Auftrag geben, um die Bedürfnisse und Anforderungen abzuleiten, auf denen die Gesundheitskooperation dann maßgeschneidert aufbauen kann. Ein solcher Bottom-up-Ansatz könnte eine elegante Antwort auf den Top-down-Ansatz der Pekinger HSR sein. Dabei sollten die konkreten materiellen Interessen der Empfängerländer im Mittelpunkt stehen. Die Geberländer können es den Empfängerstaaten zwar ermöglichen, ihre nationalen Ziele zu erreichen, aber dies wird sie nicht dazu veranlassen, sich einem ideologischen Lager anzuschließen. Die Global Gateway-Initiative der EU könnte hier eine wichtige Rolle spielen, wenn man sie als Post-COVID-Maßnahme zur wirtschaftlichen Erholung konzipieren würde. Im Rahmen eines strategischeren Ansatzes für die Gesundheitsdiplomatie sollten die europäischen Entscheidungsträger zudem die Interessen der Empfängerstaaten genau kennen und erwägen, bestimmte (nicht lebensnotwendige) Aspekte der Gesundheitshilfe als politisches Gewicht einzusetzen.
Pekings Methode der strategischen Kontaktaufnahme basiert auf einem mehrstufigen Ansatz. Diesen sollten sich die europäischen Staaten zum Vorbild nehmen. Auf bilateraler Ebene sollte Europa Schwerpunktländer identifizieren, mit denen bereits eine Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich besteht oder die sowohl für Europa als auch für China von zentralem strategischem Interesse sind, zum Beispiel Nigeria, Ägypten, Indonesien oder Serbien. Eine weitere Handlungsmöglichkeit sind Kontaktaufnahmen im Rahmen von EU+X-Formaten mit Staaten aus dem indopazifischen Raum oder aus Afrika. Auf multilateraler Ebene muss Europa das zunehmende Engagement Chinas antizipieren und ihm entsprechen.
Darüber hinaus wird westlichen Entscheidungsträgern empfohlen, sowohl mit gleichgesinnten Staaten als auch mit Peking zusammenzuarbeiten. Die G7 könnten eine geeignete Plattform sein, um transatlantische Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich mit Drittstaaten anzustoßen. Trotz unterschiedlicher Wertvorstellungen könnte das Gesundheitswesen einen ertragreichen und gleichzeitig risikoarmen Kooperationsbereich mit China darstellen, zum Beispiel bei der Gesundheit von Frauen und Kindern oder dem Kampf gegen Malaria. Der Beginn der nächsten Pandemie ist nur eine Frage der Zeit.
Aus dem Englischen von Lucie Kretschmer