Demokratien und Autoritarismus sind wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde – zwei Gesichter ein und desselben Regimes. Mit dieser Metapher veranschaulicht der Politologe Ivan Krastev gängige Selbstzweifel westlicher Demokratien. Die Wahlen dort sind von der Macht des Geldes manipuliert, von Polarisierung entstellt und durch den Mangel an politischen Alternativen entleert; in autoritären Staaten sind sie inszeniert. Demokratieprobleme in den Vereinigten Staaten, Polen, Ungarn oder Brasilien verwischen die Unterschiede zwischen Autoritarismus und westlichen Demokratien. Das autoritäre Russland gleicht einem Hohlspiegel, der die Selbstzweifel und die Ratlosigkeit Europas reflektiert. So zumindest scheint es.
Und in der Tat: Das Selbstbewusstsein westlicher Demokratien leidet. Dafür gibt es gute Gründe. Wenn der amerikanische Präsident Richter als „sogenannte Richter“ herabwürdigt oder die amerikanische Justiz als Witz bezeichnet, dann stellen sich grundlegende Fragen: Respektiert er die Unabhängigkeit der Gerichte und die Gewaltenteilung, zwei tragende Säulen der Demokratie? Ähnliche Fragen stellen sich, wenn er die Begriffe „Fake News“ und „Fake News Media“ zum Markenkern seiner Präsidentschaft macht, oder wenn er Oppositionsabgeordnete auffordert, das Land zu verlassen. Steht er zu einer freien Presse; respektiert er Minderheiten?
Auch in Europa gibt es Selbstzweifel und Orientierungslosigkeit und das nicht nur wegen der Justizreform in Polen oder der Situation in Ungarn und Rumänien. Extreme Parteien mit Überschneidungen ins extremistische Lager schneiden auch im übrigen Europa bei Wahlen gut ab. Fast über Nacht gewinnen sie viele Wählerinnen und Wähler. Gleichzeitig sind traditionelle Parteien in der Krise. Manche kämpfen um ihr Überleben. Hinzu kommt ein schriller, polarisierter Diskurs in den sozialen Medien, der aus der Anonymität heraus den politischen Gegner beleidigt und zum Feind erklärt. Youtube, Facebook und Twitter sind für viele zu Empörungs- und Radikalisierungsmaschinen geworden. Nichts erscheint mehr gewiss.
Dennoch ist das Bild „Demokratien und Autoritarismus sind wie Dr. Jekyll und Mr. Hide“ schief. Es verwischt die großen Unterschiede. In Russland sind zum Beispiel Wahlen eine ausgemachte Sache – es ist praktisch undenkbar, dass das Regierungslager eine Wahl verliert. Die Gewinner stehen bereits vor der Wahl fest. Das ist in jeder westlichen Demokratie anders, trotz der Probleme bei der Wahlkampffinanzierung. Die Opposition kann Wahlen gewinnen, die Regierung kann sie verlieren. In Russland dagegen sagten während der Präsidentschaftswahlen 2018 Putins Gegenkandidaten öffentlich, dass sie sich keine Chancen ausrechnen. Anders als in westlichen Demokratien sind Oppositionsparteien in Russland oft nur dem Namen nach solche. Gewaltenteilung existiert häufig nur auf dem Papier.
Das Bild von Dr. Jekyll und Mr. Hyde ist aber nicht nur schief, es verstärkt noch die Orientierungslosigkeit der westlichen Demokratiedebatte.
Das Bild von Dr. Jekyll und Mr. Hyde ist aber nicht nur schief, es verstärkt noch die Orientierungslosigkeit der westlichen Demokratiedebatte. Mit seinen groben Pinselstrichen übertüncht es den demokratischen Alltag in Verwaltung, Parlamenten, Gerichten und Zivilgesellschaft und verwischt die facettenreichen Entwicklungen. Werden die spezifischen Demokratieprobleme in den USA, Polen oder Ungarn herangezogen, um Demokratie insgesamt in der Krise zu sehen, dann entsteht ein Zerrbild, das sogar die Unterschiede zwischen Autoritarismus und Demokratie verwischt. Das führt zwangsläufig zu Orientierungslosigkeit und Selbstzweifeln.
Um aus dieser Orientierungslosigkeit herauszufinden, brauchen Demokratien einen Kompass. Damit Demokratien sich im Nebel der polarisierten Debatte zurechtfinden, muss der Kompass vor allem vier Dinge bieten. Erstens muss er helfen, Pluralismus zu verstehen – er muss helfen, unterschiedliche Meinungen auszuhalten und zu respektieren. Umgekehrt muss er zweitens erkennen, dass manche Positionen außerhalb des demokratischen Spektrums sind. Er muss drittens für präzise Begrifflichkeit in der Debatte sorgen. Und viertens muss er Trends in Demokratien aufzeigen.
Für die erste Himmelsrichtung muss der Kompass erkennen, dass in einer Demokratie viele Meinungen zulässig sind, auch extreme. In einer Demokratie ist es möglich, für oder gegen Einwanderung zu sein. Unterschiedliche Positionen zu Abtreibung oder Klimaschutz sind legitim. Es ist möglich, für oder gegen den Brexit zu sein. In den aktuellen Debatten wird zu oft dem politischen Gegner unterstellt, er oder sie befänden sich außerhalb des demokratischen Spektrums. In dieser Himmelsrichtung erkennt der Kompass auch, dass in einer Demokratie Parteien verschwinden und neue entstehen, manchmal in kurzer Zeit. Das Ende einer Partei ist für die Partei selbst eine Katastrophe, aber nicht für die Demokratie.
Um aus ihrer Orientierungslosigkeit herauszufinden, brauchen Demokratien einen klaren Kompass.
Umgekehrt muss der Kompass in die entgegengesetzte Himmelsrichtung anzeigen, dass eine Demokratie für alle geltende Grundregeln hat - nicht jede Position ist zulässig. Extreme Positionen sind möglich, nicht aber extremistische. Es ist undemokratisch, gegen Minderheiten zu hetzen, die Gewaltenteilung mit Anwürfen gegen Gerichte zu untergraben oder die Presse als Lügenpresse oder Fake News Media zu diskreditieren. Es ist demokratisch problematisch, die DDR und die Bundesrepublik über einen Kamm zu scheren. Es ist ebenso problematisch, wenn in Polen die Unabhängigkeit der Gerichte untergraben oder wenn in Ungarn die Zivilgesellschaft bedrängt wird, etwa mit einem Gesetz, das den offiziellen Titel „Stop-Soros Gesetz“ trägt.
In der dritten Himmelsrichtung sorgt der Kompass dafür, dass die politische Debatte mit präzisen Begriffen geführt wird. Dies ist oft nicht der Fall. Die Begriffe „Demokratiekrise“, „Populismus“ oder „illiberale Demokratie“ sind Beispiele für eine verwirrende und politisch schädliche Terminologie. Der Begriff „Demokratiekrise“ ist nicht fassbar. Er suggeriert, dass Demokratie als solche Ursache der Krise ist. Er macht es in seiner Konturlosigkeit schwer, konkrete Probleme zu lösen. Ähnlich problematisch ist der Begriff „Populismus“. Er vermengt unterschiedliche politische Ansichten – je nach Definition sind Politiker von Trump bis Macron Populisten – und macht so Angriffe auf die Demokratie unsichtbar. Putin einen „illiberalen Demokraten“ zu nennen, gewährt ihm in unzutreffender Weise die Auszeichnung „Demokrat“. „Undemokratisch“, „autoritär“ oder „antipluralistisch“ sind fast immer die präziseren Begriffe und das treffendere Framing.
In der letzten Himmelsrichtung zeigt der Kompass große Demokratietrends auf. Er hilft zu verstehen, dass Demokratien sich fortlaufend ändern. Sie sind nicht statisch. Er zeigt auf, welche Trends problematisch sind und welche nicht. Manche Trends sind ein Problem in allen Demokratien – wie die zunehmend polarisierte und oft anonymisierte Debatte, die einen echten Dialog zwischen unterschiedlichen Ansichten erschwert. Andere sind positiv, wie etwa neue Formen der Bürgerbeteiligung oder neues zivilgesellschaftliches Engagement, beispielsweise bei Fridays for Future. In dieser Himmelsrichtung würde der Kompass auch zeigen, dass Demokratieprobleme in einem Land nicht automatisch ein allgemeines Problem der Demokratie darstellen.
Mit diesem Kompass können Demokratien und Autoritarismus gut unterschieden werden. Er hilft, andere Meinungen zu respektieren und sie in einer hitzigen Debatte auszuhalten, anstatt mimosenhaft und angefasst zu reagieren. Er sorgt dafür, Grenzen gegen undemokratische Positionen zu ziehen und die Debatte mit präzisen Begriffen zu führen. Er hilft, sich im Nebel der polarisierten Debatte zurechtzufinden. So wird aus Selbstzweifeln nicht Selbstverzweiflung, sondern mehr Selbstbewusstsein.