Der sogenannte Globale Süden ist eine überaus heterogene Gruppe von Staaten, verbunden durch ihre postkoloniale Identität und ihre unterschiedlichen Grade an institutioneller Schwäche, Abhängigkeiten und Entwicklungsproblemen. Er umfasst neue, aufstrebende Mächte und kleinere Länder, die vom Klimawandel bedroht sind. All diese Länder verfügen über verschiedene Regierungsformen. Die Staaten dieser Gruppe sind weder eine Neuauflage der „Blockfreien“ noch eine antikapitalistische Front, doch sie streben eine Reform des internationalen Systems an. Ihre größten Mitglieder kooperieren und konkurrieren gleichermaßen und bilden flexible Allianzen. All diesen Ländern ist eine kritische Haltung gegenüber der sogenannten regelbasierten Ordnung des Westens gemein. Sie betrachten diese Ordnung als einseitig und glauben, dass sie vor allem den Interessen der Großmächte dient, insbesondere der USA. Der Aufstieg des Globalen Südens und die Forderungen seiner Mitglieder nach einer Reform des internationalen Systems verleihen diesen Staaten ein durchaus bedeutendes Gewicht in Fragen wie Klimawandel, Ernährungssicherheit und Konfliktlösung. Brasilien sticht dabei besonders durch seine zentrale Rolle in der internationalen Konfliktvermittlung hervor.

Angesichts der Kriege in der Ukraine und in Gaza, mit Fronten im Westjordanland und im Libanon, haben sich diverse Regierungen aus Afrika, Asien und Lateinamerika geweigert, sich gemeinsam mit den USA und Europa ausdrücklich gegen Russland beziehungsweise auf die Seite Israels zu stellen. Sie kritisierten, dass die Sanktionen und Vorwürfe im UN-Sicherheitsrat gegen Russland aufgrund seiner Invasion der Ukraine nicht vergleichbar seien mit dem Vorgehen gegen Israel für dessen Zerstörung des Gazastreifens und die Tötung von inzwischen mehr als 40 000 Palästinensern.

Im Globalen Süden hat sich in den vergangenen Jahren vor allem Brasilien mit seinem Engagement in Bezug auf die Ukraine, Palästina sowie im politischen Konflikt in Venezuela nach den dortigen Wahlen im Juli profiliert. Mit Blick auf die Ukraine und Israel zeigten sich die USA meist nicht einverstanden mit Präsident Lula da Silvas Positionen. Doch Washington baute auf Brasilien und Kolumbien, die versuchen sollten, die Maduro-Regierung davon zu überzeugen, politischen Wandel und Machtteilung in Venezuela zuzulassen. Die Initiative scheiterte letztlich und zeigte die Grenzen der amerikanischen Diplomatie sowie die Einsicht Washingtons, dass es in Zukunft mit Partnern im Süden zusammenarbeiten muss.

Seit Beginn seiner Präsidentschaft im Januar 2023 verfolgt Lula eine ambitionierte Außenpolitik.

Seit Beginn seiner Präsidentschaft im Januar 2023 verfolgt Lula eine ambitionierte Außenpolitik, die auf vielschichtigen Beziehungen zu den USA, zu China, zur EU und zu Russland basiert. Darüber hinaus setzt er sich für regionale Einheit und Einigkeit in Lateinamerika ein, stellte die vor allem auf Entwicklungshilfe basierenden Beziehungen zu ehemaligen portugiesischen Kolonien in Afrika wieder her und bietet seine Vermittlungsarbeit auf der Grundlage von Allianzen mit anderen Ländern an. Aus Sicht von Lula und Celso Amorim, seinem außenpolitischen Chefberater, ist Brasilien eine aufstrebende Weltmacht in einer multipolaren Welt, in der die USA an Bedeutung verlieren und China aufsteigt. Daher müsse Brasilien neue und flexible internationale Allianzen anstreben. Folglich ist das Land Mitglied der BRICS und des IBSA-Dialogforums (eines Koordinierungsmechanismus der drei Schwellenländer Indien, Brasilien und Südafrika), hat den Vorsitz der sogenannten Neuen Entwicklungsbank der BRICS inne und ist Teil der Organisation Amerikanischer Staaten sowie der Gemeinschaft der Portugiesischsprachigen Länder.

Die brasilianische Führung ist überzeugt, dass Länder, die nicht direkt in Konflikte verwickelt sind – wie eben Brasilien – eine konstruktive Rolle bei der Dialogförderung spielen können. So setzte sich Lula für die Bildung einer Ländergruppe ein, die Russland und die Ukraine bei ihren Verhandlungen unterstützen sollte. Dabei stellte sich Brasilia auch gegen die Verhängung von Sanktionen und gegen eine Isolation Russlands. Während Brasilia Waffenlieferungen an die Ukraine ablehnte, verurteilte es jedoch Russlands Invasion und territoriale Verletzung eines souveränen Staates und regte Verhandlungen an, um die territoriale Integrität der Ukraine wiederherzustellen, Sicherheitsgarantien für die Ukraine und Russland zu geben und die strategische Stabilität in Europa zu verbessern.

Als die UN-Generalversammlung im Februar 2023 eine Resolution verabschiedete, in der ein sofortiges Ende des Krieges in der Ukraine gefordert wurde, stimmte Brasilien als einziger BRICS-Mitgliedstaat dafür. Nur einen Monat zuvor hatte die brasilianische Regierung Forderungen der USA und Deutschlands abgelehnt, der Ukraine Waffen und Munition zur Verfügung zu stellen. Im Oktober 2023, als der Krieg in Gaza begann, verurteilte Brasilien umgehend den Terrorangriff der Hamas. Doch als Israel seinen Feldzug in Gaza startete, kritisierte Brasilia die Regierung Benjamin Netanjahus scharf. Dies führte zu einer diplomatischen Krise und hatte auch Auswirkungen auf die brasilianische Innenpolitik: Die Partido dos Trabalhadores (Arbeiterpartei) und die Linke unterstützen Palästina, während die Rechte, ein Teil des Privatsektors und die rund 30 Millionen brasilianischen Evangelikalen auf der Seite Israels stehen. Zugleich wird in diplomatischen Kreisen Brasiliens darüber diskutiert, ob das Land eine Außenpolitik verfolgen sollte, die den eigenen wirtschaftlichen und politischen Interessen des Staates entspricht, oder eher eine ideologische Linie, die allerdings zu Konfrontationen mit wichtigen Wirtschaftspartnern wie Israel führen könnte.

Angesichts der harschen Kritik an Israels Regierung dürfte Brasilien beim aktuellen Krieg in Nahost wohl keine allzu große Vermittlerrolle spielen.

Angesichts der harschen Kritik an Israels Regierung dürfte Brasilien beim aktuellen Krieg in Nahost wohl keine allzu große Vermittlerrolle spielen. Die Verhandlungen im israelisch-palästinensischen Konflikt weisen jedoch zwei Merkmale auf, die für den Globalen Süden Chancen bieten könnten. Erstens wurden derartige Verhandlungen bisher immer unter der Führung der USA verfolgt. Doch der Gaza-Krieg zeigt die Grenzen der Fähigkeit Washingtons auf, sowohl eine Partei zu sein, die Israel mit Waffen und Diplomatie unterstützt, als auch ein neutraler Vermittler. An Verhandlungen über eine Freilassung der israelischen Geiseln und einen Waffenstillstand waren nun Katar und Ägypten beteiligt. Die Vereinigten Staaten können nicht auf eigene Faust handeln. Zweitens basieren die Verhandlungen in Nahost seit fast 50 Jahren auf der Erreichung einer „Zweistaatenlösung“. Durch die zum Teil weitreichende israelische Kolonisierung des Westjordanlandes sowie die tiefgehende gegenseitige Abneigung von Israelis und Palästinensern ist diese Lösung gegenwärtig aber nicht mehr tragfähig. Daher müssen Alternativen und andere Verhandlungsparadigmen in Betracht gezogen werden.

Allein oder gemeinsam mit anderen Staaten und nichtstaatlichen Akteuren stehen Brasilien langfristig mehrere Möglichkeiten offen, sich in der Mediation globaler Konflikte zu profilieren. Brasilia kann Track-II-Initiativen für den inner- und zwischenparteilichen Dialog fördern, eine Rolle in Friedens- und Sicherheitsprozessen spielen (wenn es einen nichtständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat hat), Süd-Süd-Entwicklungszusammenarbeit (im Dreieck mit Ländern des Nordens) als Anreiz für Verhandlungen mit Friedens- und Staatsaufbauprojekten verknüpfen und humanitäre Hilfe unterstützen.

Aus dem Englischen von Tim Steins