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Nur wer die Kräfte, die die Welt formen, begreift, kann auch etwas verändern. Das Datenzeitalter erschüttert unsere Volkswirtschaften und untergräbt die Fundamente der liberalen Demokratie. Diese Herausforderungen unserer Zeit zu durchschauen ist daher eine zentrale Aufgabe für progressive Parteien und Politiker. Damit sie etwas verändern können, müssen sie sich mit drei Kernproblemen auseinandersetzen – und Lösungen dafür finden.
Das erste Problem ist, dass der öffentliche Diskurs zunehmend von Wut bestimmt wird. Politik sei der Kultur nachgeordnet, erklärte der ultrarechte Propagandist Steve Bannon bekanntlich (und völlig zutreffend) in Anlehnung an Antonio Gramsci. Wer die Themen festlegt, hat echte Macht. Um das Argument einen Schritt weiter zu entwickeln: Heute ist Politik eher der Technologie nachgeordnet.
Die „sozialen Medien“ sind für heftige Emotionen gemacht und fördern und verstärken Inhalte, die bestens zu Verschwörungstheorien und Hass gegen Minderheiten passen und generell Angst und Wut schüren. Über diese Mechanismen der Wutmaschine in den „sozialen Medien“ wird zwar ausgiebig berichtet, ihre politischen Folgen aber werden unterschätzt.
Für den Guardian beschreibt Autor Suketu Mehta den künstlich erzeugten Hass auf Einwanderer, der die europäische Politik antreibt und bestimmt. Es fehlt indes der Hinweis darauf, dass Panikmache in diesem Ausmaß und Tempo ohne die wutmaximierenden Algorithmen der „sozialen Medien“ ungleich schwieriger, wenn nicht gar unmöglich wäre. Die ihr zugrundeliegenden Mechanismen werden detailliert in der jüngsten Reportage der New York Times über die Wirkung von YouTube auf die brasilianische Politik dargelegt.
Die verstärkende Wirkung der „sozialen Medien“ auf die Politik ist echt und viel folgenschwerer als wahrgenommen.
Der Einwand dagegen lautet oft, dass solcherlei Intoleranz in Europa nichts Neues sei und es auch andere starke Kräfte gebe, die die Politik beeinflussten, etwa Ungleichheit und der Widerstand gegen die Globalisierung. Nicht die „sozialen Medien“ brächten den Rassismus oder Rechtspopulismus hervor, der in Wahlen wie in Brasilien aus dem Nichts Triumphe gefeiert habe.
Allerdings leitet sich, wie Cas Mudde und andere darlegen, der Erfolg der extremen Rechten nicht so sehr aus einer erhöhten Nachfrage nach bestimmten politischen Ideen ab, sondern vielmehr daraus, dass Parteien und andere Organisationen sie der Wählerschaft anbieten, und zwar in einem Umfeld, in dem solche Themen (etwa „Einwanderung“) stärker herausstechen, während der Wettbewerb um andere Themen (wie etwa die Einkommensverteilung) in den Hintergrund rückt. Und ein von Angst und Hass erfüllter öffentlicher Diskurs bringt der Politik der radikalen Rechten mehr Einfluss. Ja, er verleitet andere Parteien, deren Politik und Deutungsmuster zu kopieren, wie es einige Mitte-Rechts-Parteien – und sogar Mitte-Links-Parteien – bereits getan haben.
Die verstärkende Wirkung der „sozialen Medien“ auf die Politik ist echt und viel folgenschwerer als wahrgenommen. Alle – von links bis rechts –, die Menschen für etwas anderes mobilisieren wollen als für Angst und Hass, sollten dieses Thema ernstnehmen.
Das zweite Problem liegt darin, dass die Monopolisierung Innovation und Demokratie bedroht. Nur wenige Politiker sind sich dessen bewusst, dass nicht nur einige wenige Konzerne den Informationsraum kontrollieren, sondern dass diese Konzerne – aufgrund ihrer schieren Größe – Wettbewerb verhindern und Innovationen in wichtigen Teilen der Wirtschaft verdrängen.
Die Digitalwirtschaft funktioniert anders als konventionelle Märkte. Extreme Skalenerträge, starke Netzeffekte und die Rolle der Daten verschaffen den Platzhirschen enorme Vorteile. Durch diese Faktoren, verbunden mit schwacher Regulierung und mangelnder Durchsetzung in den Vereinigten Staaten, wo die Konzerne groß wurden, ist ein Umfeld entstanden, in dem die größten und mächtigsten Unternehmen der Menschheitsgeschichte weiter wachsen.
Die Gefahr, dass die Datenmonopole Produktivität und Innovation schmälern und so eine Wirtschaft entsteht, in der die Sieger alles absahnen und nur die Aktionäre der Tech-Giganten profitieren, ist real und nimmt weiter zu. Und wie ein Blick in die Geschichte zeigt – etwa in die frühere Phase der US-„Plutokratie“, in der die Politik mit Kartellgesetzen reagierte –, bedrohen Monopole und eine exzessive Konzernkonzentration am Ende die Demokratie.
Zu den wenigen in der europäischen Politik, die die politischen und wirtschaftlichen Folgen des wachsenden Monopols begriffen haben, zählt die dänische Wettbewerbskommissarin Margarethe Vestager. Ihre Wettbewerbspolitik war bahnbrechend, und das nicht nur wegen der hohen Strafen, die sie über Google und Apple verhängte.
Die Frage, wem die Daten gehören, ist entscheidend, nicht nur für das Überleben der Demokratie, sondern auch für den Wohlstand und die Souveränität Europas.
Wichtiger noch ist Vestagers Plädoyer dafür, das Verhältnis zwischen Unternehmen und Verbrauchern und die Organisation digitaler Märkte neu zu denken. Sie steht damit in der (im europäischen Sinne) liberalen politischen Tradition, nicht nur die Rechte von Unternehmen, sondern auch das Recht der Verbraucher auf freie Entscheidung zu berücksichtigen.
In den kommenden Jahren wird es darauf ankommen, dass Vestagers Argumentation Bestand hat und progressive Parteien und Politiker ihre Wettbewerbs- und Kartellpolitik stärken und weiterentwickeln.
Das dritte Problem: Im Datenbesitz liegt der Schlüssel für Umverteilung und Souveränität. Immer größere Werte werden in der heutigen Wirtschaft mittels Daten generiert. Ein erheblicher Teil dieser Daten (wenn auch nicht alle) wird aus menschlichen Aktivitäten gewonnen. Wer kontrolliert diese Ressourcen? Wem gehören sie? Wie sollte ihr Wert verteilt werden? Die Tech-Giganten haben die Spielregeln selbst gemacht und stecken sich daher den Reichtum in die eigene Tasche. Und auch wenn Vestager gute Arbeit leistet, reichen wettbewerbspolitische Maßnahmen und die Durchsetzung des Kartellrechts nicht aus, um der Aufgabe Herr zu werden.
Die Frage des Datenbesitzes sollte für Progressive ein zentraler Diskussionspunkt sein. Einige plädieren dafür, Daten als das Ergebnis von Arbeit zu betrachten. In diesem Fall sollte der damit geschaffene Wert zumindest teilweise zu seiner Quelle zurückgeführt werden.
Man kann Daten aber auch als öffentliche Infrastruktur sehen. Die Stadt Barcelona experimentiert mit dem Konzept des „Datengemeinguts“. Danach sind die von Menschen, Sensoren und Geräten generierten Daten eine gemeinsame Ressource, nicht beschränkt durch Eigentumsrechte, und können von allen für Innovationen genutzt werden.
Die Frage, wem die Daten gehören, ist entscheidend, nicht nur für das Überleben der Demokratie, sondern auch für den Wohlstand und die Souveränität Europas. Die erste Phase der Digitalisierung wurde fast ausschließlich von den USA und China beherrscht, die nun in den Bereichen Big Data und Künstliche Intelligenz eine starke Führungsrolle innehaben.
Dem früheren deutschen Außenminister Joschka Fischer zufolge ist das eines der wichtigsten Themen, mit denen sich die neue Europäische Kommission befassen muss. Die Europäer müssen entscheiden, wem die Daten, die für die digitale Souveränität notwendig sind, künftig gehören und welche Bedingungen für das Sammeln und Benutzen dieser Daten gelten sollen.
Die Organisation der Digitalmärkte wird darüber entscheiden, wie unsere Gesellschaften in den kommenden Jahrzehnten aussehen.
Auf die hier aufgeworfenen Fragen gibt es keine einfachen Antworten, und die Lösung der Probleme hängt unter anderem davon ab, welche Werte und Ideologien man vertritt. Erschreckend aber ist, dass diese wichtigen Themen heute politisch so gut wie nicht diskutiert werden.
Das ist eine Schande, denn das Datenzeitalter könnte der progressiven Linken die Chance bieten, die Bedingungen für Umverteilung und Innovation, Gleichheit und Emanzipation zu verbessern. Die Politik muss wieder zurück zur Technologie, um diese Bedingungen demokratisch zu entwickeln, statt das den Monopolisten zu überlassen.
Aus dem Englischen von Anne Emmert
Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.