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Julian Assange, der kürzlich zu einer Gefängnisstrafe verurteilte WikiLeaks-Gründer, ist für den journalistischen Mainstream weniger ein Held als vielmehr ein Problem. Sicher, er trug dazu bei, dass einige der sensationellsten und folgenreichsten journalistischen Enthüllungen der letzten Jahre ans Licht kamen. Dennoch ist er eine zwiespältige Figur und fällt für manche – so die Schlagzeile auf der Website der Columbia Journalism Review – unter die Rubrik der „selbstgerechten Drecksäcke“, denen man in Prozessen um die Pressefreiheit oft begegnet, während ihn andere, etwa die Kolumnistin Kathleen Parker, einfach nur für ein „komplettes Arschloch“ halten.
Im Kern steht die Frage, ob Assange dermaßen leichtsinnig, uneinsichtig, gewissenlos und moralisch verkommen ist, dass man seine Arbeit nicht mehr anerkennen darf, die Tatsache also, dass er enorm wichtige Informationen an die Öffentlichkeit brachte, und zwar genau über die Medien, denen er heute so zuwider ist.
Viele Journalisten bezweifeln, dass in seinem Fall der Erste Zusatzartikel zur US-Verfassung, also die Pressefreiheit, greift, da diese in erster Linie Journalisten zusteht, zu denen sie Assange nicht zählen. Und tatsächlich ist er ja recht offensichtlich kein Reporter, denn er verrät Informationen, die andere ausgegraben haben, und er ist auch kein Herausgeber, denn er geht häufig über andere Nachrichtenmedien an die Öffentlichkeit.
Also ist er eigentlich keiner von uns. Schlimmer noch, er ist ein Schuft, hat er doch 2016 auch noch den Russen geholfen, Hillary Clinton zu besiegen. Bis zum 11. April, als seine Gastgeber in der ecuadorianischen Botschaft die Londoner Polizei einließen, um ihn mitzunehmen und hinter Gitter zu bringen, hatte er fast sieben Jahre in der winzigen Vertretung zugebracht, um seiner Auslieferung nach Stockholm zu entgehen. Die Schweden wollten ihn wegen sexueller Vergehen vor Gericht stellen. Nun betonen die Leitartikler der Washington Post im Nachhinein, er sei kein „Held der Pressefreiheit“, und in der Überschrift zu einem anderen Artikel fragt der Auslandskolumnist der Post David Ignacios, ob er nicht einfach nur einer sei, dem „Diebstahl“ vorgeworfen wird.
Meiner Ansicht nach ist er viel mehr. Die Nachrichtenmedien sind in Gefahr, und die Nachrichtenmedien, das sind keine Personen, sondern das sind Arbeitsabläufe, die dringend schutzbedürftig sind. Am stärksten gefährdet ist hier die Quelle, und Julian Assange zählt, ungeachtet seiner tatsächlichen und mutmaßlichen Vergehen, zu den ungewöhnlichsten Quellen des neuen Jahrtausends.
Die Nachrichtenmedien sind in Gefahr, und die Nachrichtenmedien, das sind keine Personen, sondern das sind Arbeitsabläufe, die dringend schutzbedürftig sind.
WikiLeaks ermöglichte die spektakuläre Enthüllung von Amtsgeheimnissen, seien es Kriegsverbrechen, Folter und Gräueltaten an Zivilisten im Irak und in Afghanistan oder Korruption in Kenia und Tunesien, deren Enthüllung im letzteren Fall den Arabischen Frühling auslöste. Assanges Inhaftierung ist nur der jüngste Vorfall in der zehnjährigen Geschichte brutaler Repressalien gegen die digitale Offenlegung von Missständen. Gegen einen Geheimnisverrat also, der meines Wissens nie unzutreffende oder unwichtige Informationen zutage gefördert hat. Für die Menschen, die den Amtsapparat zwingen wollten, die Wahrheit zu sagen, brachte er jedoch Unglück, Verbannung oder Inhaftierung mit sich.
Es sind also ungemütliche Zeiten für Whistleblower. Das digitale Zeitalter verzeiht zwar die Verbreitung von Lügen und Rassismus, doch die Behörden reagieren extrem unwirsch, wenn die Informationen zutreffend, wichtig und unangenehm sind. Nun befindet sich also Assange in den Händen der Briten und steht vor der Ausweisung nach Schweden oder in die USA, wo man ihn angeklagt hat, einer seiner Quellen, Chelsea Manning, beigebracht zu haben, wie man unerkannt an Regierungsgeheimnisse gelangt. Die Zeit ist daher günstig, sich einmal anzuschauen, was er getan hat, was man ihm vorwirft und was das über den bedrängten Zustand des Journalismus aussagt.
Rekapitulieren wir einige wichtige Fakten. Im Jahr 2010 – als das Vergehen, dessentwegen Assange verhaftet wurde, mutmaßlich stattfand – versorgte WikiLeaks einige der angesehensten Nachrichtenorgane der Welt mit zutreffenden Informationen größter öffentlicher Bedeutung, aus denen empörende, ja mörderische Verbrechen hervorgingen. Assange überließ es dem Ermessen der Redaktionen – vielleicht ungeschickt, aber so war es jedenfalls –, wie viele dieser Informationen in welcher Form veröffentlicht werden sollten. Ein großes Konvolut betraf den US-Krieg im Iran und in Afghanistan und bewies, dass viel mehr Zivilisten umgekommen waren, als es die US-Regierung eingestanden hatte. Ein weiterer Posten enthielt unzählige Depeschen von US-Diplomaten über Korruption und Betrug ausländischer Regierungen.
Alles in allem ziemlich gutes Material. Dennoch äußern die Medien wenig Sympathie für die Annahme, eine Inhaftierung Assanges könnte nach dem Ersten Verfassungszusatz gegen die Pressefreiheit verstoßen, wohingegen große Einigkeit darüber herrscht, dass es völlig undenkbar wäre, die Medienorgane, die das von ihm gelieferte Material veröffentlichten, strafrechtlich zu verfolgen. Gestützt wird das von der Rechtsprechung zum Ersten Verfassungszusatz, die der kurzsichtigen Einschätzung Vorschub leistet, die freie Meinungsäußerung in den Medien sei ausschließlich professionellen Journalisten vorbehalten. Das entbehrt schon auf den ersten Blick moralisch jeder Logik: Wenn der Verrat von Geheimnissen strafrechtlich verfolgt werden kann, warum sollte dann die Veröffentlichung derselben Geheimnisse geschützt sein?
Das berühmte Urteil im Prozess um die Pentagon Papers vor dem Supreme Court verhinderte 1971, dass die Regierung die Veröffentlichung unterband; es verbot aber nicht, die Herausgeber der Zeitungen anschließend strafrechtlich zu verfolgen. Das geschah jedoch nie. Und die Informanten? Daniel Ellsberg und Anthony Russo wurden aufgrund der Herausgabe von Insiderinformationen wegen Spionage angeklagt; das Verfahren wurde erst nach zwei Jahren eingestellt. Von den Medien, die sich im Eigenlob über ihren Mut suhlten, erhielten sie wenig Unterstützung.
Warum sperrt man Whistleblower ein, während Reporter, die die geheimen Leaks veröffentlichen, mit Preisen überschüttet werden? Spiegelt sich in der Zurückhaltung des Staates wirklich nur die Zurückhaltung der Politiker wider, die sich mit dem digitalen Äquivalent der mächtigen Zeitungsherausgeber nicht anlegen wollen?
Mag sein, auch wenn auf diesem Weg die Unabhängigkeit der Presse gewahrt wird, Amtsträger für ihr Handeln zur Verantwortung zu ziehen. Aber sollten Quellen als für die Medien unverzichtbare Akteure nicht auch diesen unabhängigen Status und den Schutz durch die Verfassung genießen? Gibt es eine freie Presse ohne Quellen? Braucht man für das Nachrichtengeschäft neben dem Können und der Beharrlichkeit von Reportern nicht auch Informanten, die bereit sind, sich unter bisweilen großem Risiko aus der Deckung zu wagen und ihr Wissen preiszugeben?
Sollten Quellen als für die Medien unverzichtbare Akteure nicht auch einen unabhängigen Status und den Schutz durch die Verfassung genießen?
Chelsea Manning, die als Bradley Manning Nachrichtenanalyst bei der US-Armee und Assanges Informant für die Enthüllungen 2010 war und wegen der Preisgabe von Geheimnissen an WikiLeaks schon fast sieben Jahre wegen Spionage im Gefängnis verbrachte, sitzt nun wieder hinter Gittern, weil sie sich weigert, Assange in dem verzwickten Verfahren zu belasten, das die Regierung derzeit gegen ihn vorbereitet. Der ehemalige Mitarbeiter der National Security Agency Edward Snowden, der seit 2013 unter Anklage steht, sitzt im russischen Exil fest, weil er Überwachungsprojekte in den USA enthüllte, die er für widerrechtlich hielt, was Bundesgerichte später bestätigten. Ganz zu schweigen von Thomas Drake, Shamai Leibowitz, John Kiriakou, Stephen Kim, Jeffrey Sterling und in jüngster Zeit Reality Winner. Sie alle verkauften nicht etwa Geheimnisse an Staatsfeinde, sondern gaben Informationen über Vorgänge an die Öffentlichkeit, über die wir ihrer Meinung nach Bescheid wissen sollten. Alle wurden strafrechtlich verfolgt, fast alle inhaftiert. Die Missstände, die sie enthüllten, waren alles andere als trivial.
Ob eine Verletzung der Geheimhaltung zulässig ist, sollte letztendlich davon abhängen, ob durch die Leaks etwas besser oder schlimmer wird. Der in einigen Ländern zulässige Verweis auf das öffentliche Interesse für die Verteidigung von Whistleblowern ist in den USA nicht vorgesehen. Das sollte sich ändern. Wenn sich Informanten auf das öffentliche Wohl berufen können, so kann es natürlich passieren, dass sich Menschen zu Dummheiten hinreißen lassen, weil sie der irrigen Hoffnung anhängen, dass eine ihnen unbekannte künftige Wirkung des Verrats sie retten wird. Aber diese Möglichkeit birgt auch eine enorme Chance: Letztendlich kann objektiv geprüft werden, ob die Enthüllung, auch wenn sie widerrechtlich geschah, gerechtfertigt war, und zwar von einem Gericht, das tut, was Gerichte eben tun: ein Urteil fällen. War die Geheimhaltung berechtigt? Wurde ein Rechtsverstoß aufgedeckt? Hat die Enthüllung der Öffentlichkeit genützt?
Die faktische Immunität der Medien vor Strafverfolgung ist historisch ein großer Fortschritt, und Einschränkungen sind nicht akzeptabel. Nachrichtenorgane kommen im Gegenzug für die Freiheit, die sie dadurch erhalten, seit jeher ihrer Sorgfaltspflicht nach, die der hier beschriebenen Logik folgt: mögliche Schäden erkennen und minimieren und gleichzeitig dem Recht der Öffentlichkeit auf Information über wichtige Vorgänge gerecht werden. Haben die unverzichtbaren Helferinnen und Helfer der Medien, ihre Quellen, etwa kein Anrecht auf denselben Respekt?
Aus dem Englischen von Anne Emmert.
(c) The New York Times, 2019