Offensichtlich braucht es immer wieder erst eine Katastrophe, um uns ins Bewusstsein zu rufen, was wir eigentlich wissen und doch gern verdrängen: unsere Kleidung wird häufig unter unwürdigen Bedingungen produziert. Die Zustände entlang der Wertschöpfungsketten im Textilsektor sind miserabel. Sie sind charakterisiert durch viel zu lange Arbeitszeiten bei unzureichender Bezahlung, sexualisierte Gewalt, Beschränkungen von Gewerkschaftsrechten und nicht zuletzt mangelhafte Feuer- und Gebäudesicherheit in den Produktionsstätten.
Ein tragisches Beispiel ist die Textilfabrik Ali Enterprise in Pakistan. Dort brach am 11. September 2012 ein Brand aus, bei dem 259 Menschen zu Tode kamen und etwa 50 Arbeiterinnen und Arbeiter schwer verletzt wurden. Fluchtversuche der zum Unglückszeitpunkt in der Fabrik Beschäftigten scheiterten – Fluchtwege waren versperrt, Fenster vergittert und die Feuerlöscher funktionsuntüchtig. Dabei war die Fabrik nur drei Wochen vor der Katastrophe mit dem internationalen Gütesiegel des italienischen Prüfdienstleisters RINA zertifiziert worden. Der Textildiscounter KiK („Kunde ist König“), mit Sitz in Bönen bei Dortmund, war Hauptabnehmer der hergestellten Ware. KiK kaufte über 70% der Produktion aus der Fabrik – teilweise war die Fabrik zu 100% mit Aufträgen von KiK ausgelastet. Das deutsche Unternehmen war somit nicht nur Hauptkunde der Fabrik, sondern die Fabrik existierte nicht zuletzt, weil der Textildiscounter dort produzieren ließ.
Nach dem Brand organisierten sich die Betroffenen und Hinterbliebenen. Sie reichten 2015 mit Unterstützung der deutschen Organisationen European Center on Constitutional and Human Rights (ECCHR) und medico international Klage gegen KiK am Landgericht Dortmund ein – dort, wo auch der Hauptsitz des Textilunternehmens ist. Bei der Klage am Landgericht Dortmund ging es den Klägern neben der Forderung von 30.000 Euro Schmerzensgeld pro Kläger insbesondere um die Klärung der rechtlichen Verantwortung für das Unglück und um die grundsätzliche Verpflichtung eines global agierenden Unternehmens, Verantwortung für seine gesamte Lieferkette zu übernehmen. KIK hatte zwar Soforthilfen und Entschädigungszahlungen zugesagt – jedoch alles auf freiwilliger Basis.
Welchen Wert haben ein freiwilliger Code of Conduct oder eine unverbindliche Corporate Social Responsibility-Erklärung? Welche Verantwortung tragen Audit- und Zertifizierungsunternehmen?
Auch wenn das Landgericht Dortmund der Klage stattgegeben hat, stand das Gericht vor großen Herausforderungen. So musste das Gericht die Zivilklage nach pakistanischem Recht verhandeln, da die sogenannte ROM-III EU-Verordnung festschreibt, dass nach dem Recht des Landes verhandelt werden muss, wo die Menschenrechtsverletzung geschah. Da es keine klare gesetzliche Regulierung für internationale Haftungsfragen gibt, zogen die Anwältinnen und Anwälte der Klägerseite den selbst auferlegten Code of Conduct des Unternehmens KiK heran. Dort wurden soziale und ökologische Mindeststandards von Auftraggebern und Zulieferern vereinbart.
KiK berief sich dagegen darauf, dass der Vorfall nach pakistanischem Recht verjährt sei und stützte die Argumentation auf ein britisches Gutachten. Das Gericht ist in seinem Urteil am 10.1.2019 der Argumentation KiKs gefolgt. Die Klage wurde als verjährt eingestuft und abgewiesen. Das deutsche Recht aber sieht bei Menschenrechtsverletzungen keine Verjährung vor.
Viele Hoffnungen und vor allem Rechtsfragen waren mit dem Prozess verbunden: Trägt der Auftraggeber, also KiK, eine Mitverantwortung für den Brand und die vielen Opfer in der Fabrik in Pakistan? Ist KiK verantwortlich für den fehlenden Feuerschutz? Darüber hinaus drängen sich Fragen zur grundsätzlichen unternehmerischen Verantwortung auf: Welchen Wert haben ein freiwilliger Code of Conduct oder eine unverbindliche Corporate Social Responsibility-Erklärung für Geschädigte in den Lieferketten und auch für Verbraucherinnen und Verbraucher? Welche Rolle und Verantwortung haben in diesem Zusammenhang Audit- und Zertifizierungsunternehmen, die bei der Zertifizierung der Ali Enterprise Fabrik offensichtlich versagt haben? Diese Fragen bleiben auch nach dem Urteil unbeantwortet. Ob die Klägerinnen und Kläger in Berufung gehen, um diese Frage auf höherer Ebene zu klären, steht noch nicht fest.
Seit der Brandkatastrophe in Pakistan im Herbst 2012 oder auch dem Einsturz des Fabrikgebäudes Rana Plaza in Bangladesch im Frühjahr 2013, bei dem 1.100 Menschen gestorben sind, werden die Zustände in der Wertschöpfungsketten und Zulieferern in der Textilbranche verstärkt in Gesellschaft und Politik diskutiert. Ein Beispiel ist das Bündnis für nachhaltige Textilien. Der Dortmunder Prozess ist nur ein kleiner – wenn auch wichtiger – Baustein in der Debatte, welche Verantwortung deutsche Konzerne für ihre globalen Produktionsnetzwerke haben und inwieweit diese gesetzlich vorgeschrieben werden oder weiterhin auf Freiwilligkeit beruhen sollten.
KiK forderte nach dem Urteil den Gesetzgeber auf, endlich tätig zu werden, damit auch für deutsche Unternehmen Rechtssicherheit geschaffen wird.
Schaut man sich die internationale Gemengelage an, so spricht das politische Momentum für verbindliche Regeln. In Frankreich trat im Jahr 2017 das sogenannte „loi de vigilance“ in Kraft. Das Gesetz schreibt eine umfassende menschenrechtliche Sorgfaltsprüfung für die größten 100 bis 150 Unternehmen vor. Unter bestimmten Umständen können somit die Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen in Produktionsländern haftbar gemacht werden. Ähnliche gesetzliche Initiativen gibt es in der Schweiz, in Österreich oder auch in England. Auch KiK forderte nach dem Urteil den Gesetzgeber auf, endlich tätig zu werden, damit auch für deutsche Unternehmen Rechtssicherheit geschaffen wird.
Zudem läuft auf Ebene der Vereinten Nationen der sogenannte UN Treaty Prozess auf Initiative der Regierungen Ecuadors und Südafrikas, in dessen Rahmen verbindliche Regeln für transnationale Aktivitäten diskutiert werden. Bislang beteiligen sich die Europäische Union, die USA und einige andere starke Wirtschaftsnationen nicht, so dass unklar ist, welche Wirksamkeit der Vertrag haben kann.
Die Unfälle in Pakistan und Bangladesch sind nur die Spitze des Eisbergs. Unzählige Unfälle in Fabriken und Minen, in denen häufig für westliche Konsumenten produziert wird, erreichen nicht die globale öffentliche Wahrnehmung. Klar ist: Die Zeit für Freiwilligkeit ist vorbei – und Deutschland sollte mit gutem Beispiel vorangehen. Die SPD hat in der aktuellen Regierungskonstellation eine verantwortungsvolle Rolle. Die Partei hat bereits in ihrem Wahlprogramm deutlich und vorausschauend formuliert, dass sie sich für verbindliche Sorgfaltspflichten von international agierenden Unternehmen einsetzt und sich für den UN Treaty Prozess auf UN Ebene stark machen wird.
Ohne die SPD wären diese Themen nicht im Koalitionsvertrag adressiert worden. Es gilt nun, die programmatischen Absichten auch umzusetzen. Das ist man nicht nur den Klägerinnen und Klägern gegen KiK schuldig, die bei der Produktion für deutsche Textilien ihre Angehörigen und fast ihr eigenes Leben verloren haben. Auch den Verbrauchern hier in Deutschland gegenüber ist die Regierung in der Verantwortung.
Eine ausführliche Version des Artikels ist in der spw erschienen.