Anders als in Nord- und Südamerika ist „Populismus“ in Europa ein politisches Schimpfwort – so gut wie niemand bezeichnet sich selber als populistisch. Und doch kommt immer wieder die Meinung hoch, sogar der Rechtspopulismus könne eine für die Demokratie insgesamt nützliche Funktion erfüllen. Irgendwie, so heißt es dann, würden die Populisten die Bürger vielleicht wieder näher an die demokratischen Institutionen heranführen. Manch sozialdemokratische Intellektuelle und Politiker gehen noch einen Schritt weiter: Die Linke müsse selbst populistisch werden, um dem Rechtspopulismus erfolgreich entgegenzutreten. Doch dies sind Irrwege, welche nicht nur normativ, sondern auch empirisch wiederlegbar sind.
Populisten behaupten stets, sie und nur sie verträten was bei Populisten oft als „das wahre Volk“ oder „die schweigende Mehrheit“ bezeichnet wird. Mitbewerber um die Macht werden im Zweifelsfalle als korrupt oder gar gleich als „Volksverräter“ diskreditiert. Und, weniger offensichtlich: Wer der letztlich symbolischen Konstruktion des vermeintlich „wahren Volkes“ seitens der Populisten nicht zustimmt (und deswegen die Populisten logischerweise politisch nicht unterstützt), wird mindestens symbolisch auch aus dem Volk ganz ausgeschlossen. Somit ist nicht das Anti-Elitäre das entscheidende Kennzeichen des Populismus – im Gegenteil, Kritik an den Mächtigen kann ein Zeichen genuinen demokratischen Engagements sein. Hauptmerkmal des Populismus ist Anti-Pluralismus im Namen des Volkes.
Sicherlich stimmt es, dass Populisten häufig Volksabstimmungen fordern. Aber das bedeutet nicht, dass sie grundsätzlich Anwälte der direkten Demokratie sind. Sie kennen die richtige Antwort auf jede politische Frage immer schon vorher, denn die Antwort leitet sich für sie aus der symbolischen Konstruktion des wahren Volkes ab. Ein Referendum dient Populisten nicht dazu, einen ergebnisoffenen Diskussionsprozess unter den Bürgern anzustoßen – nein, die Rolle des Volkes ist allein, bei der Abstimmung schnell mal das zu bestätigen, was die Populisten schon immer als den einzig authentischen Volkswillen identifiziert haben.
Es haftet nichts besonders Populistisches an einem Begriff wie „Heimat“ – denn Populismus ist keine Frage von Inhalten, sondern von einem moralischen Alleinvertretungsanspruch gegenüber dem Volk.
Als Antwort hierauf fallen nicht-populistische Politiker bisweilen von einem Extrem ins andere. Erst heißt es, die Populisten seien alle Demagogen, man glaube ihnen kein Wort. Aber dann wird langfristig erfolgreichen populistischen Parteien plötzlich eine Art soziologisches Monopol zugesprochen; nur sie verstünden angeblich die „wahren Sorgen und Nöte“ der Bürger und das, was sich im Innersten der Gesellschaft abspiele. Hier zeigt sich ein grundsätzliches Missverständnis der Funktionsweise von demokratischer Repräsentation. Letztere ist keine mechanische Übersetzung von immer schon objektiv vorhandenen Identitäten, Interessen und Ideen der Bürger ins politische System. Sie ist vielmehr ein dynamischer Prozess, in dem sich die Selbstwahrnehmungen der Bürger – wer bin ich und was will ich? – bilden, nicht zuletzt aufgrund von attraktiven Repräsentationsangeboten seitens der Parteien, aber auch der Zivilgesellschaft, von Freunde und Familie.
Damit soll nicht gesagt sein, dass sich diese Selbstwahrnehmungen beliebig ändern lassen. Aber ich will davor warnen, dass gerade sozialdemokratische Politiker hinter verschlossenen Türen anfangen zu sagen: „Die Arbeiter mögen halt leider keine Ausländer. Der Erfolg der Rechtspopulisten beweist es objektiv“, oder dass sich beispielsweise die US-Demokraten nun auf die Suche nach dem „moderaten Trump-Wähler“ begeben. Anders als es die scheinbar neutrale Rede von der „Repräsentationslücke“ suggeriert, hat man es hier nicht mit festgefügten Interessen und Identitäten zu tun. Wer es richtig anstellt, kann Wähler auch wieder für ganz andere Programme gewinnen.
Aber bietet sich dann nicht der Linkspopulismus gerade dafür an? Bei vielen Vertretern dieser Option bleibt unklar, was hier eigentlich genau gemeint ist. Dass man den Wählern die ja angeblich so ungeheuer komplex gewordenen Welt wieder in einfacheren Worten erklärt und sich ganz generell volksnaher gibt? Diese Vorstellung ist recht trivial – und wer sie hegt, sollte sie vielleicht auch eher für sich behalten, denn gerade im Mund von Sozialdemokraten klingt die Rede von den „kleinen“ und „einfachen“ Leuten, die ja eigentlich nichts richtig verstehen, doch recht paternalistisch (man fühlt sich an die Wahlkampfmanager von Hillary Clinton erinnert, welche sich bemühten, die Kandidatin „menschlicher“ erscheinen zu lassen – und dies dann auch noch offiziell ankündigten, was das Vorhaben natürlich im Nu zunichtemachte).
Oder geht es um mehr Leidenschaft oder vielleicht auch um ganz bestimmte, eher emotional besetzte Inhalte? Auch dies erscheint eher trivial: Gute Politiker wissen, wie sie die Stimmungen und Gefühle der Bürger ansprechen; das hat nichts spezifisch Populistisches – auch wenn während der Merkel-Ära diese Binsenweisheit vielleicht ein wenig in Vergessenheit geraten ist. Es haftet zudem nichts besonders Populistisches an einem Begriff wie „Heimat“ – denn Populismus ist keine Frage von Inhalten, sondern von einem moralischen Alleinvertretungsanspruch gegenüber dem Volk.
Und wenn man es dann wirklich ernst damit meint? Ist es nicht das Erfolgsgeheimnis einer Partei wie Podemos, dass sie den Hauptkonflikt in der spanischen Gesellschaft ganz bewusst von „links gegen rechts“ auf „abajo contra arriba,“ das Volk gegen die Eliten, umgestellt hat? Ist „Volksbildung“ im doppelten Sinne nicht Aufgabe jeder Partei, welche sich nicht den herrschenden (neoliberalen) Diskursen anpassen, sondern eine politische Kultur als Ganze prägen will?
Gerade im Mund von Sozialdemokraten klingt die Rede von den „kleinen“ und „einfachen“ Leuten, die ja eigentlich nichts richtig verstehen, doch recht paternalistisch.
Wie schon gesagt: Kritik an Eliten ist nicht per se populistisch. Gefährlich wird es, wenn man alle Mitwettbewerber um die Macht als illegitim oder gar gleich als Volksverräter abstempelt – so wie dies Beppe Grillo, Anführer der Fünf-Sterne-Bewegung in Italien, zu tun pflegt und bisweilen auch Podemos-Vertreter, wenn sie gegen ihre Konkurrenten punkten wollen. Es ist aber auch eine empirische Frage, ob diese „Volksanrufungen“ Erfolg versprechen. Podemos hat schmerzhaft erfahren müssen, dass sich eine „national-populäre“ Strategie nicht so ohne weiteres von Lateinamerika auf Südeuropa übertragen lässt, nicht zuletzt, weil das Thema „Nation“ in Spanien nicht gerade unproblematisch ist. Der französische Politiker Jean-Luc Mélenchon hat seine Wahlkampfrhetorik zwischen 2012 und 2017 drastisch verändert: weniger universalistisch, mehr volkszentriert. Er hat bekanntlich bei den Präsidentschaftswahlen sehr gut abgeschnitten, aber vor allem deshalb, weil er Wähler der Sozialistischen Partei zu sich herüberziehen konnte. Anders als mancher Theoretiker des Linkspopulismus erwartet hatte, gelang es kaum, Anhänger des Front National für Mélenchons 2016 gegründete Partei France Insoumise zu gewinnen.
Es ist eine grundsätzlich falsche Wahrnehmung, dass linke Erfolgsstories der vergangenen Jahre – Bernie Sanders oder Jeremy Corbyn oder auch Podemos – etwas mit Populismus zu tun haben. Die ersten beiden sind überhaupt keine Populisten, sondern in mehr als einem Sinne alte Sozialdemokraten; der Aufstieg von Podemos verdankt sich nicht der „national-populären Strategie“, welche auch Podemos-Vordenker inzwischen für gescheitert erklären, sondern der Tatsache, dass man ein konsequent linkes Programm anbietet – sowie das glaubhafte Versprechen, anders als die großen etablierten Parteien nicht bestechlich zu sein. Linkspopulismus ist ein Irrweg, einen „guten Populismus“ gibt es nicht. Je schneller Sozialdemokraten das begreifen, desto besser. Denn dann könnten sie sich auf die Formulierung überzeugender Inhalte konzentrieren.