Während die Infektionszahlen in Indien und anderen Teilen der Welt in die Höhe schnellen, hört man vonseiten der EU und der USA immer wieder, dass die Covid-19-Katastrophe und die daraus resultierenden Wirtschaftskrisen nur ein Ende finden könnten, wenn die Menschen überall geimpft würden.
Trotzdem blockierten diese beiden Schwergewichte in der Welthandelsorganisation (WTO) bisher eine mittlerweile von 100 Nationen unterstützte Initiative, mit der sich die Verfügbarkeit von Covid-19-Impfstoffen, Therapien und diagnostischen Tests weltweit verbessern ließe. Am Mittwoch haben die USA nun überraschend ihre Meinung geändert und unterstützen jetzt die Aussetzung des Patentschutzes für Corona-Impfstoffe. Auch die EU ist nun offen für Gespräche über eine Freigabe.
Es geht um die vorübergehende Aussetzung der Regelungen nach dem Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS) für Geschmacksmuster, Geschäftsgeheimnisse, Markenrechte und Patente, soweit diese die „Verhinderung, Eindämmung oder Behandlung von Covid-19“ vereiteln. Das TRIPS-Abkommen verpflichtet die WTO-Mitgliedstaaten, Pharmakonzernen weitreichende Monopole zuzugestehen.
Die Pharmakonzerne kontrollieren, ob, in welchem Umfang und wo Impfstoffe hergestellt, Tests und Therapien durchgeführt und wo und zu welchem Preis sie angeboten werden. Wenn man bedenkt, dass die Staaten für die Entwicklung von Covid-19-Impfstoffen mehr Steuergelder investiert haben als die Pharmakonzerne eigenes Kapital – einer Schätzung zufolge haben die Unternehmen mehr als 112 Milliarden US-Dollar erhalten –, scheint es nur fair zu sein, die Kontrolle der Konzerne vorübergehend auszusetzen.
Arme Nationen werden, wenn überhaupt, erst 2024 durch Impfung eine Herdenimmunität erreichen können.
Und ganz sicher ist es notwendig. Die von TRIPS festgelegten Monopolrechte sind ein Haupthindernis für die weltweite Verfügbarkeit von Formeln und Technologien, die notwendig wäre, um mehr Impfstoffe und Medikamente herzustellen. Nach derzeitigen Prognosen werden im Jahr 2021 nur wenige Menschen in Entwicklungsländern eine Impfung erhalten. Arme Nationen werden, wenn überhaupt, erst 2024 durch Impfung eine Herdenimmunität erreichen können.
Die Pandemie wird daher auch weiterhin durch einen großen Teil der Weltbevölkerung fegen und Hunderttausende vermeidbare Todesfälle mit sich bringen. Auch das Risiko, dass eine impfstoffresistente Variante die Welt erneut in den Shutdown zwingen könnte, nimmt zu.
Um mehr Impfstoff in die Entwicklungsländer zu bringen, haben die Weltgesundheitsorganisation, die Global Vaccines Alliance und die Coalition for Epidemic Preparedness Innovations die COVAX-Initiative ins Leben gerufen. Obwohl die Regierung Biden zwei Milliarden US-Dollar beigesteuert und zwei weitere versprochen hat, laufen die Beschaffung und Verteilung von Impfstoffen nicht sonderlich erfolgreich.
COVAX hat bislang 40,2 Millionen Dosen bereitgestellt, das sind nur 21 Prozent der 187 Millionen, die bis Mai 2021 geliefert werden sollten. Einige größere Entwicklungsländer, darunter Pakistan und Mexiko, haben noch überhaupt keine COVAX-Dosen erhalten.
Die COVAX-Planung sieht darüber hinaus vor, nur die 20 Prozent der besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen zu versorgen, etwa Mitarbeiter im Gesundheitswesen und Menschen über 65. Selbst wenn das Ziel, im Jahr 2021 1,3 Milliarden Dosen zu liefern, erreicht wird, ginge die überwiegende Mehrheit der Menschen leer aus und eine Herdenimmunität käme nicht zustande. Für eine globale Herdenimmunität werden 10 bis 15 Milliarden Dosen benötigt.
Für eine globale Herdenimmunität werden 10 bis 15 Milliarden Dosen benötigt.
Der kritische Punkt ist nicht die Produktionskapazität oder das nötige Wissen, sondern die Kontrolle: Die Pharmaindustrie verfügt über ein Monopol auf Wissens- und Technologieplattformen, die in reichen und armen Ländern über Leben und Tod von Millionen von Menschen und das Schicksal der Weltwirtschaft entscheiden werden. Die Konzerne werden viel Geld damit verdienen, und sie haben nicht die globale Versorgung, sondern profitable Märkte im Blick.
Pfizer und Moderna haben kürzlich den erwarteten Umsatz mit Covid-19-Impfstoffen allein für 2021 auf 15 Milliarden US-Dollar bzw. 18,4 Milliarden US-Dollar beziffert. Mitte März 2021 umriss der Senior Vice President for Investor Relations der Firma Pfizer Pläne des Konzerns, Preise und Gewinn 2022 kräftig zu erhöhen, indem er seine Impfstoffe Jahr für Jahr an zahlungskräftige Länder liefert.
Um den Bedarf an Covid-19-Impfstoffen zu decken, muss die Produktionskapazität zwingend erhöht werden. Ein Teil der Produktion muss im globalen Süden angesiedelt sein, unter anderem, weil man dann schneller auf regionale impfstoffresistente, tödlichere oder infektiösere Varianten reagieren kann, ehe sie sich weltweit ausbreiten.
Der Mangel erklärt sich in erster Linie aus der Weigerung der Impfstoffentwickler, mit qualifizierten Herstellern in Afrika, Lateinamerika und Asien zusammenzuarbeiten, damit weltweit mehr Impfstoff hergestellt werden kann. Die Inhaber des Impfstoffmonopols haben die Forderung nach einer Aussetzung ihrer Privilegien durch mehr als 100 Länder überhaupt erst angeheizt, indem sie die Produktion für Märkte, an deren Belieferung sie nicht interessiert sind, praktisch verhindern.
Um das zu erkennen, muss man allerdings schon genau hinsehen, denn die Pharmalobbyisten in Washington, Brüssel und Genf fahren eine Strategie der „großen Lüge“: Sie behaupten, dass nicht der Monopolschutz für geistiges Eigentum aufseiten der Pharmakonzerne, sondern ein Mangel an Produktionskapazitäten eine Ausweitung der Produktion von Impfstoffen und Therapien gegen Covid-19 vereitele.
In Wahrheit gibt es in jeder Region der Welt mehrere Hersteller, die maßgeblich zur globalen Impfstoffversorgung beitragen könnten.
Ein ähnliches Argument mit deutlich rassistischen Untertönen lautet, dass die Herstellung von Covid-19-Impfstoffen für Produzenten in Entwicklungsländern zu kompliziert sei. In Wahrheit gibt es in jeder Region der Welt mehrere Hersteller, die maßgeblich zur globalen Impfstoffversorgung beitragen könnten, wenn sie Zugriff auf Technologie und Know-how hätten.
Allein in Afrika könnten „Biovac und Aspen in Südafrika, das Institute Pasteur im Senegal und Vacsera in Ägypten ihre Fabriken zügig umrüsten, um mRNA-Impfstoffe herzustellen“, schreiben Experten für Medizinproduktion in einem kürzlich erschienenen Foreign-Policy-Artikel. Das indische Serum Institute stellt bereits den Johnson & Johnson-Impfstoff her, kann aber allein nicht genug produzieren, um die Verbreitung der Krankheit in Indien aufzuhalten.
Unterdessen hat Moderna eine Partnerschaft mit dem qualifizierten Impfstoffhersteller Incepta in Bangladesch abgelehnt, weil die eigenen Ingenieurinnen und Ingenieure angeblich zu beschäftigt seien, um außerhalb der US- und EU-Produktion aktiv zu werden; Pfizer hat nie auf Anfragen von Incepta reagiert. Auch der große pakistanische Impfstoffhersteller Getz hat keine Antwort auf seine Anfragen erhalten. In Lateinamerika haben bestehende Anlagen in Ländern wie Chile und Kolumbien Interesse an der Impfstoffproduktion bekundet, aber wie qualifizierte Hersteller in anderen Ländern blieb auch dort eine Rückmeldung der Impfstoffentwickler aus.
Bestehende und geplante Produktionsverträge belegen, dass die Fabriken in Entwicklungsländern durchaus in der Lage sind, Covid-19-Impfstoffe herzustellen. So wurde einer der wenigen Vertragshersteller, die südafrikanische Firma Aspen, von ihrem Auftraggeber Johnson & Johnson monatelang angewiesen, 91 Prozent der produzierten Impfstoffe für den Verkauf nach Europa auszuliefern. Nur neun Prozent konnten in Südafrika eingesetzt werden.
Im globalen Süden und in den Industrieländern müssen mehr Produktionskapazitäten geschaffen werden. Eine Aussetzung von TRIPS brächte einen Produktionszuwachs und eine bessere Verfügbarkeit von Therapien und diagnostischen Tests. Und sie würde gleich in mehrfacher Hinsicht zu einer besseren Impfstoffversorgung beitragen.
Schon jetzt verfügen die Produzenten in Entwicklungsländern aller Regionen über ungenutzte Kapazitäten für die Impfstoffherstellung.
So hätten die Staaten auf Anhieb mehr Einfluss auf die Impfstoffentwickler, die sich bislang weigern, ihre Impfstofftechnologie offenzulegen, die dann aber die Produktion nicht mehr blockieren könnten.
Die Unternehmen hätten zwei Möglichkeiten, die beide die Versorgung verbessern würden. Sie könnten die Produktion steigern, indem sie rasch in Verhandlungen mit Staaten, alternativen Lieferanten und globalen Initiativen wie dem Covid-19 Technology Pool einsteigen, der im Mai 2020 von der Weltgesundheitsorganisation gemeinsam mit Costa Rica und 40 weiteren Mitgliedstaaten ins Leben gerufen wurde.
Ansonsten laufen sie Gefahr, dass die Staaten sie einfach umgehen und den Technologietransfer erzwingen. In vielen Ländern haben die Regulierungsbehörden, die den Einsatz im Inland genehmigt haben, und/oder die Patentämter wichtige Informationen über Herstellungsverfahren und Testdaten, die sie qualifizierten Teams aus staatlichen Behörden, Universitäten und pharmazeutischen Produktionsfirmen übermitteln könnten – sofern sie von den WTO-Verpflichtungen zum Schutz der Monopole befreit werden.
Außerdem erhalten Staaten und Investoren in Entwicklungsländern durch den Verzicht auf den Schutz geistigen Eigentums Rechtssicherheit, wenn sie damit beginnen, bestehende pharmazeutische Produktionskapazitäten umzustellen und neue Fabriken zu errichten. Schon jetzt verfügen die Produzenten in Entwicklungsländern aller Regionen über ungenutzte Kapazitäten für die Impfstoffherstellung.
Und die neue Produktion, insbesondere von mRNA-Impfstoffen, könnte relativ schnell anlaufen. Einem früheren Chemie-Chef der Firma Moderna zufolge dürfte mittels Technologietransfer und Know-how-Sharing jede moderne Fabrik in der Lage sein, die Produktion von mRNA-Impfstoffen in drei bis vier Monaten auf den Weg zu bringen.
Das Wunder der schnellen Entwicklung von Covid-19-Impfstoffen ist nicht etwa den Pharmaunternehmen zu verdanken, sondern den Steuerzahlern.
Auf die weltweit wachsende Nachfrage nach einer Aussetzung der TRIPS-Regeln reagiert die Pharmaindustrie mit den üblichen Argumenten. Erstens seien Monopolrechte und hohe Preise notwendig für Innovationen. Und zweitens könne man, wenn TRIPS ausgesetzt würde, für den nächsten globalen Gesundheitsnotstand die Versorgung mit den entsprechenden Medikamenten nicht garantieren.
Dabei haben alle führenden Covid-19-Impfstoffe, die bereits auf dem Markt sind oder die letzten klinischen Studien durchlaufen, im erheblichen Maße von staatlichen Investitionen profitiert. Das Wunder der schnellen Entwicklung von Covid-19-Impfstoffen ist nicht etwa den Pharmaunternehmen zu verdanken, weil sie die aus Monopolen erwirtschafteten Gewinne investiert hätten, sondern den Steuerzahlern, aus deren Geldern die Konzerne Milliarden für die Entwicklung und Testung der Covid-19-Impfstoffe und dann weitere Milliarden für Vorbestellungen erhalten haben. Und schon vor der Pandemie hatten in den USA die National Institutes of Health, das Militär und andere Behörden jahrzehntelang Geld in die Coronaforschung gesteckt.
Tatsächlich beweist die derzeitige Covid-19-Krise, dass das Gegenteil von dem gilt, was die Pharmakonzerne behaupten: Es ist nun das dritte Mal in 20 Jahren, dass ein Coronavirus den Sprung von Tieren auf Menschen geschafft hat: SARS-CoV-1 im Jahr 2002, MERS-CoV 2012 und SARS-CoV-2 Ende 2019. Doch der Patentschutz der Pharmaindustrie hat kaum Investitionen in die Pandemievorsorge nach sich gezogen.
Warum? „Weil es keinen echten Anreiz gibt, keinen finanziellen Anreiz“, räumte der wissenschaftliche Leiter der Firma Johnson & Johnson bereits im Januar ein. Konzerne, die ihre früheren Gewinne aus den Monopolen nicht eingesetzt hatten, um sich auf die nächste Pandemie vorzubereiten, erhielten Milliarden an öffentlichen Geldern, um Impfstoffe für diese Krise zu entwickeln. Doch unter dem Paradigma geistigen Eigentums behalten sie die absolute Kontrolle über Produktion und Vertrieb dieser Präparate, die buchstäblich darüber entscheiden, wer lebt und wer stirbt und wie sich die Weltwirtschaft entwickelt.
Nein, eine Aussetzung der TRIPS-Regeln wird die Pharmakonzerne nicht in den Ruin treiben. Der Markt für Covid-19-Impfstoffe ist weltumfassend. Unabhängig von einem Technologietransfer werden Firmen, die einen Covid-19-Impfstoff entwickelt haben, viel Geld damit verdienen. So wird ein vorübergehender Verzicht auf die WTO-Regelungen Staaten nicht daran hindern, Lizenzgebühren zu entrichten oder nach nationalem Recht auf anderem Wege Kosten für Forschung und Entwicklung, Datenrechte und Betriebsgeheimnisse zu erstatten.
Die TRIPS-Regelungen zeitweise außer Kraft zu setzen, ist der richtige Schritt. Und er wäre durchaus nicht nur altruistisch. Die Covid-19-Pandemie muss schnellstmöglich beendet werden, um auch die Gesundheit der Menschen in den USA und in Europa zu schützen und die Weltwirtschaft zu beleben, von der die Wirtschaft in den USA und der EU abhängig ist. In Washington hat man das bereits begriffen. Brüssel zieht hoffentlich bald nach.
Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Version eines Artikels der FES New York.
Aus dem Englischen von Anne Emmert