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Stellen wir uns vor, ein Kind wird geboren in einer Stadt, in der 40 Prozent der Beschäftigten mit Maschinen und Handarbeit Dinge fertigen. Die vorherrschende soziale Beziehung ist die Lohnbeziehung. Es gibt einen starken Sozialvertrag mittels Besteuerung. Die meisten Dienstleistungen werden vom Staat bereitgestellt.

60 Jahre später wird in dieser Stadt wieder ein Kind geboren. Nun arbeiten nur noch zehn Prozent der Bevölkerung in der Industrie – und von ihnen ist die Hälfte mit wissenschafts- oder IT-nahen Aufgaben befasst. Die Ausbeutung durch das Kapital erfolgt in erster Linie über Finanzgeschäfte, und die Lohnbeziehung tritt hinter die Wertgewinnung aus Zinsen, Preismonopolen, unterbezahlter Arbeit und der Nutzung verhaltensbezogener Daten zurück. Die meisten Dienstleistungen werden vom Markt bereitgestellt.

Betrachtet man die gesamten 250 Jahre Industriekapitalismus, so hat sich in diesen letzten 60 Jahren besonders viel verändert. Triebkräfte der Veränderungen waren technologischer Fortschritt, Globalisierung und menschliche Entwicklung. Und die sozialen Auswirkungen liegen offen zutage.

In den 1960er Jahren herrschte in die Straßen der Stadt tagsüber Ruhe und sonntags Friedhofsstille. Arbeit und Freizeit waren klar voneinander getrennt. Heute sind die Straßencafés der Stadt gut besucht, auf den Gehwegen plaudert man mit anderen oder beschäftigt sich im Gehen mit seinem mobilen Gerät.

In den 1960er war es noch nicht lange her, dass ein bekannter Wissenschaftler der Stadt wegen seiner Homosexualität verfolgt wurde. Heute schmückt sein Gesicht einen 50-Pfund-Schein, und ein ganzer Stadtbezirk ist von der Schwulenkultur geprägt.

In den nächsten 60 Jahren müsste es möglich sein, die Industrie vollständig zu automatisieren, sodass die Belegschaft in den meisten Fabriken nur noch Aufsichtsfunktionen übernimmt. 

Bei dieser Stadt handelt sich um Manchester, in deren Umland ich 1960 zur Welt kam. Die aktuelle Entwicklung der Arbeit in der Stadt, die als Ausgangspunkt der industriellen Revolution gilt, ist wirklich erstaunlich. In der arbeitsfähigen Bevölkerung von 1 760 000 Menschen sind 24 Prozent in Finanzdienstleistungen und freiberuflichen Tätigkeiten beschäftigt, 20 Prozent in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Sozialfürsorge und nur zehn Prozent in der Industrie.

Die Frage lautet: Wie wird Manchester in 60 Jahren aussehen? Ich möchte meine Essay-Reihe abschließen, indem ich für die Wiege der Industrie das denkbar günstigste Ergebnis einer Wende zu einer Ära zeichne, die Kohlendioxid und Kapitalismus hinter sich lässt.

In den nächsten 60 Jahren müsste es möglich sein, die Industrie vollständig zu automatisieren, sodass die Belegschaft in den meisten Fabriken nur noch Aufsichtsfunktionen übernimmt. Bis dahin dürften nicht nur menschliche Abläufe automatisiert sein (wie die Roboter in der Autoindustrie, die punktschweißen wie ein riesenhafter Mensch, nur viel schneller), sondern die Abläufe selbst sollten sich grundsätzlich nicht mehr am Menschen orientieren. Vielleicht wird man Metallobjekte „züchten“ oder drucken können, so, wie die Schaufeln eines Mantelstromtriebwerks heute unter Laborbedingungen aus einem einzigen Metallkristall gefertigt werden.

Die meisten Menschen „arbeiten“ nur zwei oder drei Tage pro Woche, und wie heute ist Arbeit eine Mischung aus Arbeit und Freizeit. 

Wohl über 95 Prozent der Beschäftigten arbeiten somit in Dienstleistungen, viele von ihnen von Mensch zu Mensch. Weil Finanzspekulationen eliminiert und zahlreiche Abläufe automatisiert wurden – Firmenkundengeschäft, Wirtschaftsrecht, Buchhaltung, Terminhandel und anderes mehr –, sind im Finanzsektor nur wenige Menschen tätig. In den Bereichen Gesundheit, Kultur, Sport und Bildung ist die Zahl der Beschäftigten deutlich größer und stellt die Unternehmensdienstleistungen ebenso in den Schatten wie heute schon die Industrie.

Die meisten Menschen „arbeiten“ nur zwei oder drei Tage pro Woche, und wie heute ist Arbeit eine Mischung aus Arbeit und Freizeit. Karl Marx‘ berühmte Zurechtweisung Charles Fouriers – „Arbeit kann nicht Spiel werden“, sondern nur zeitlich reduziert werden –, ist mittlerweile widerlegt. Aber am Ende könnten sie beide Recht haben, denn die Automatisierung hat die Arbeitszeit verkürzt und die Übergänge verwischt.

Es gibt keine Tech-Monopole mehr, sondern einen Mix aus innovativen kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), die traditionell auf Gewinn aus sind, sowie öffentlichen Informationsversorgern, die lediglich die Kosten für Produktion und Verwaltung berechnen.

Ganzheitliche Medizin (auch in den Bereichen seelische Gesundheit, Physiotherapie und Zahnmedizin), Bildung bis zum Hochschulabschluss und der öffentliche Nahverkehr sind kostenlos. Die durchschnittliche Miete liegt bei etwa 5 Prozent des Durchschnittseinkommens (wie im Roten Wien der 1920er Jahre), dasselbe gilt für den Zinssatz für Immobiliendarlehen.

Im Jahr 2080 hat die Stadt das Ziel der Netto-Null-Emissionen schon lange erreicht, und die progressive Stadtverwaltung arbeitet daran, das CO2 mittels innovativer Techniken aus der Atmosphäre zu holen und dem Rest der Welt eine CO2-Entschädigung zu entrichten.

Die Jahre 2020 bis 2030 standen ganz im Zeichen des kulturellen und politischen Kampfes um einen neuen Kapitalismus.

Die Jahre 2020 bis 2030 standen ganz im Zeichen des kulturellen und politischen Kampfes um einen neuen Kapitalismus. Es bildeten sich Regierungen, die Finanzspekulation bekämpften, eine Million klimafreundlicher Sozialwohnungen bauten und mit dem energetischen Umbau des gesamten restlichen Wohnungsbestandes begannen. Sie subventionierten die Entwicklung neuer städtischer Nahverkehrssysteme und die Beseitigung sämtlicher Benzin- und Diesel-PKWs und -Lkws von den Straßen. Sie zerschlugen oder verstaatlichten die Tech-Monopole und überführten die erfassten Daten in öffentliches Eigentum. Sie förderten gezielt die Entstehung eines großen und vielfältigen gemeinnützigen Sektors, der auch Banken, Einzelhandelsgeschäfte, Gesundheits- und Sozialfürsorgeanbieter sowie Kulturzentren einschloss. Und sie befreiten das Sozialsystem von allem Zwang und überführten Rente und Sozialhilfeleistungen in ein bescheidenes Grundeinkommen, das als Grundrecht in der Verfassung verankert wurde.

2030 hatten wir immer noch den Kapitalismus. Doch die Regierung hatte gelernt, ihn anders zu messen, indem sie nicht nur die Bruttowertschöpfung erfasste, sondern auch materielle Produktionsleistung, Arbeitsstunden und Produktivität berücksichtigte. Kam der „wirtschaftliche Gesamtnutzen“ im Jahr 2020 zu 40 Prozent vom Staat, zu 59 Prozent vom Markt und zu einem Prozent von gemeinnützigen Unternehmen, so holten 2030 schon etwa zehn Prozent der Wirtschaft nur die Kosten herein. Das nominelle Bruttoinlandsprodukt hatte sich stabilisiert und begann zu schrumpfen.

In der Folge begannen die Finanzmärkte den Druck auf Spekulationsgeschäfte und das nahende Ende der Kapitalakkumulation einzupreisen. Anders ausgedrückt: Da die Märkte angesichts einer emissionsarmen postkapitalistischen Welt in Panik gerieten, waren Staat und Zentralbank gezwungen, die Finanzinfrastruktur zu retten, zu stabilisieren und zu verstaatlichen; den Bankrott des Spekulationskapitals ließen sie zu. Die Rettung wurde finanziert, indem die Zentralbank Geld druckte und die Staatsschulden aufkaufte.

Das globale Wirtschaftssystem, das bereits 2020 in Auflösung begriffen war, konnte die Entwicklung eines ökologischen Postkapitalismus durch linksliberale und sozialdemokratische Parteien nicht überleben.

Die 2020er Jahre waren beherrscht vom Kampf zwischen einer profitorientierten und einer mensch-und-umwelt-orientierten Wirtschaft. Die radikal sozialdemokratische Regierung, die die Gefahren von allzu schnellen und massiven staatlichen Eingriffen erkannte, förderte bewusst den Aufbau einer Privatwirtschaft aus kleinen und mittleren Unternehmen, die sie mittels staatlicher Eingriffe und Subventionen dazu drängte, nicht auf billige Massenware, sondern auf technologische und soziale Innovation zu setzen.

Das globale Wirtschaftssystem, das bereits 2020 in Auflösung begriffen war, konnte die Entwicklung eines ökologischen Postkapitalismus durch linksliberale und sozialdemokratische Parteien nicht überleben. Bis 2030 war es in regionale Blöcke aufgespalten, von denen Europa der erfolgreichste war; China hatte sich einen großen Teil Russlands einverleibt, und Zentralasien und Nordamerika bildeten gemeinsam einen relativ eigenständigen Markt.

Nach der Zerschlagung der Finanzglobalisierung fand nach 2030 jedoch eine neue Form der wirtschaftlichen Globalisierung in den Bereichen Reise, Informationsaustausch und Rohstoffhandel statt.

Zwischen 2030 und 2050 betrieb die Stadtverwaltung von Manchester offensiv die sozial gerechte Wende zu einer emissionsfreien Infrastruktur. Als Metropolregion verteilte sie größere Dienstleistungsorganisationen wie Universitäten, Institute für Forschung und Entwicklung und große Gesundheitseinrichtungen auf die stagnierenden ehemaligen Industriestädte im Umland.

Im Jahr 2040 war das Stadtzentrum von Manchester kraftfahrzeugfrei, der Verkehr bestand vorwiegend aus Fahrradfahrern, Straßenbahnen und Fußgängern.

Im Jahr 2040 war das Stadtzentrum von Manchester kraftfahrzeugfrei, der Verkehr bestand vorwiegend aus Fahrradfahrern, Straßenbahnen und Fußgängern. Die Kontingentierung des Flugverkehrs war noch in Kraft, doch angesichts vielversprechender Entwicklungen im Bereich der Brennstoffzelle für eine emissionsfreie Passagierluftfahrt beschloss die Stadt, den Flughafen Manchester zu erhalten, obwohl radikale Kräfte seine Renaturierung forderten.

An den Ufern des Irwell, der 2020 ebenso trübe war wie zu der Zeit, als Friedrich Engels auf der Ducie Bridge stand und in den Fluss blickte, tummeln sich mittlerweile Fischotter, und flussaufwärts zwischen Ramsbottom und Bacup haben sich Biber angesiedelt. Das soziale Leben in der Stadt ist anders als heute, wie es heute anders ist als in der Nachkriegszeit vom Ena Sharples und Stan Odgen (Figuren der in Salford angesiedelten Fernsehserie Coronation Street), aber wie, vermag ich nicht vorherzusagen.

Um die Kämpfe der 2020er Jahre zu bestehen, muss die Linke eine eigene Utopie entwickeln. Die derzeitigen Bemühungen politischer Entscheider, Wissenschaftler und Demonstranten um Klimaneutralität sind von einem eklatanten Mangel an Fantasie geprägt, wie denn die Wirtschaft, auf die man zusteuern müsste, eigentlich aussehen sollte.

Einerseits ist dieser Mangel an ökonomischer Fantasie verständlich. Die Wirtschaftswissenschaft als breite universitäre Disziplin hat sich erst in den letzten 60 Jahren etabliert, und ihre Kernaussage lautet seither, dass ein anderes System nicht funktioniert. Aber da die Welt nun gezwungen ist, sich einen Kapitalismus ohne Emissionen vorzustellen, kommt sie auch nicht umhin, sich eine Wirtschaft ohne zwingende Lohnarbeit vorzustellen.

Ziel muss es sein, emissionsfrei zu wirtschaften und in punkto Ressourcen eine Kreislaufwirtschaft herzustellen, Arbeitsstunden zu reduzieren, Gesundheit und Glück der Menschen messbar zu erhöhen. 

Ziel muss es sein, emissionsfrei zu wirtschaften und in punkto Ressourcen eine Kreislaufwirtschaft herzustellen, Arbeitsstunden zu reduzieren, Gesundheit und Glück der Menschen messbar zu erhöhen, den Rostgürtel der Vorstädte wieder an das Zentrum anzubinden und nachhaltige Lebensmittelquellen zu erschließen. Die Aufgabe, Modelle für die Wende zu entwickeln und zu testen, muss daher sehr ernst genommen werden.

Die Stadt ist für diese Wende die entscheidende Einheit: Sie ist groß genug, um mit dem, was sie tut, Einfluss zu nehmen, aber auch wiederum so klein, dass unterschiedliche Modelle in verschiedenen Städten ausprobiert und die Einwohner an der Entscheidungsfindung beteiligt werden können, sodass sie die Resultate unmittelbar erleben.

Als ich 1960 zur Welt kam, war Manchester eine Art elektrifizierte Version des 19. Jahrhunderts, es gab noch hohe Kamine, Kopfsteinpflaster und Kohleöfen. Heute hat man das Gefühl, dass eine Ära zu Ende gegangen ist. Bis zum Jahr 2080 muss sich eine qualitativ völlig andere Wende vollzogen haben. Die allerdings wird nur kommen, wenn wir die Fantasie dafür aufbringen.

Aus dem Englischen von Anne Emmert.

Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPS-Journal.