China
Die Wahlen im fernen Deutschland wurden in China sehr aufmerksam verfolgt. Das hat mit dem besonderen bilateralen Verhältnis zu tun, das lange Zeit von den Wirtschaftsbeziehungen dominiert wurde: Chinas Handel mit Deutschland umfasst knapp 40 Prozent des Volumens der gesamten EU. Die deutsche Industrie hat in China große Tochterunternehmen etabliert. Für den Automobilsektor sind die Umsätze in China inzwischen unverzichtbar.
Die einschlägigen chinesischen Think Tanks beobachten genau, wie sich die Einstellungen zu China weltweit entwickeln. Sie sehen eine stetige Verschlechterung des China-Bildes über die letzten Jahre, und das mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Das gilt besonders für die USA: Während früher über das Entstehen einer G-2 reflektiert wurde, dominiert nun offener Antagonismus die Beziehungen auf vielen Politikfeldern. Das lässt es aus chinesischer Sicht einerseits ratsam erscheinen, die Beziehungen zu den asiatischen Nachbarn zu stabilisieren, beispielsweise über die Mitgliedschaft im regionalen Freihandelsabkommen RCEP. Andererseits lenkt es den Blick auf das Verhältnis zu Europa, und das bedeutet institutionell: auf die EU. Die ungünstigste Entwicklung wäre aus chinesischer Perspektive, wenn die EU weitflächig den US-amerikanischen Führungslinien folgen würde. Das zu verhindern, ist ein wichtiges Politikziel.
Die ungünstigste Entwicklung wäre aus chinesischer Perspektive, wenn die EU weitflächig den US-amerikanischen Führungslinien folgen würde.
Nun ist in jüngster Zeit viel Porzellan zerbrochen: Die Sanktionen der EU gegen China haben tiefe Enttäuschung ausgelöst. Chinas starke Gegensanktionen haben wiederum die EU konsterniert, weil sie dort als unverhältnismäßig empfunden wurden, als Überspringen mehrerer möglicher Eskalationsstufen. Während beide Seiten noch versuchen, die Strategie der anderen Seite zu verstehen, besteht jedenfalls Einigkeit in der Einschätzung, dass die Beziehungen stark abgekühlt sind und Tauwetter derzeit nicht absehbar ist. Das macht die Beziehungen zu Deutschland in zwei Dimensionen wichtig: zum einen als bilaterales Partnerland, und zum anderen, weil Deutschland als Führungskraft in der EU gesehen wird – in Peking wird das vermutlich stärker so empfunden als in Berlin.
Die bilaterale Dimension reicht von den Wirtschaftsbeziehungen bis zur Zusammenarbeit bei Umwelt- und Klimafragen. Deutschland (die wörtliche Übersetzung im Chinesischen ist „Land der Tugend“) hat ein gutes Image, auch weil es nicht mit der kolonialen Vergangenheit anderer europäischer Nationen belastet ist. Das wilhelminische Abenteuer in Qingdao war von kurzer Dauer – nur etwa die Hälfte der Bauzeit des BER – und hat doch bleibende Entwicklungsimpulse hinterlassen, wie etwa die Brauerei Tsingtao, die bis heute als Sinnbild deutscher Tugenden gilt. Man hat aber auch wahrgenommen, dass die Klassifizierung der internationalen Beziehungen zu China – also der Dreiklang Partner, Konkurrent, systemischer Rivale – zuerst in einem Strategiepapier des Industrieverbands BDI formuliert wurde, Monate, bevor es fast wortgleich die Positionierung der Europäischen Kommission beschrieb. Dass gerade die deutsche Industrie mit ihrer engen Einbindung in den chinesischen Markt diesen Schwenk vollzog, akzentuiert die Veränderung der bilateralen Beziehungen.
Deutschlands Einfluss auf die EU wird hoch bewertet.
Deutschlands Einfluss auf die EU wird hoch bewertet. Der Abschluss des „Umfassenden Investitionsabkommens“ CAI ist ein gutes Beispiel. Es wurde über sieben Jahre zäh verhandelt. Gegen Ende 2020 konnten verfestigte Widerstände plötzlich schnell überwunden und das Abkommen unterzeichnet werden. Es scheint, dass Chinas Verhandlungsführung davon motiviert war, zum Abschluss zu kommen, solange die amtierende Bundesregierung noch in der Lage war, den Abschluss innerhalb der EU zu befördern.
Viel wichtiger erscheint aus der Sicht Pekings, wie sich die EU im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik positionieren wird. Wird ihre Indopazifik-Strategie konkrete Wirksamkeit entwickeln – oder ein Papiertiger bleiben? China weiß, dass EU-Strategiepapiere vor ihrer Veröffentlichung sorgfältig formuliert und abgestimmt werden – hat aber auch die Erfahrung gemacht, dass die Umsetzung nicht immer exakt dem Wortlaut folgt. Das macht die Einschätzung des realen Handelns der EU so schwierig, und das gerade im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik. Da die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik institutionell noch ausbaufähig ist, vermutet Peking, dass die Festlegungen in diesen Fragen durch direkte Abstimmung unter den größeren Mitgliedstaaten entstehen. Allerdings: Das Vereinigte Königreich ist aus der EU ausgeschieden. Frankreich, der wichtigste verbliebene militärische Akteur, ist in Afrika gebunden und vor kurzem durch die Stornierung seines U-Boot-Geschäfts mit Australien schwer verprellt worden und sucht nun den EU-Schulterschluss. Deutschland wird als grundsätzlich moderierender Faktor eingeschätzt. Man weiß um die geschichtsbedingte Zurückhaltung in militärischen Operationen. Es wird auch wahrgenommen, dass nach dem Rückzug aus Afghanistan die europäischen Verbündeten zunächst eine längere Reflexionsphase benötigen, um untereinander zu klären, unter welchen Bedingungen und mit welchen Mitteln sie bereit sind, künftige Einsätze weit außerhalb der europäischen Umgebung zu unternehmen.
Das Wahlergebnis wird danach bewertet, ob die künftige deutsche Regierung die bestehenden Spannungen verstärken oder tendenziell abbauen wird.
Das ist das Fernrohr, mit dem China die deutschen Wahlen betrachtet. Das Wahlergebnis wird danach bewertet, ob die künftige deutsche Regierung – bilateral und über die EU-Schiene – die bestehenden Spannungen voraussichtlich verstärken oder tendenziell abbauen wird. In jüngerer Vergangenheit wurde eine Differenz zwischen den professionellen Regierungskontakten – die allein durch die Reisebeschränkungen im Zuge von Covid-19 an Intensität eingebüßt haben – und einer „public diplomacy“ wahrgenommen, die vor allem auf das inländische Publikum gerichtet ist.
Gern würde China wissen, wer in der nächsten deutschen Regierung die Richtlinienkompetenz übernimmt und die China-bezogenen Politikbereiche koordiniert. Nun werden die Positionen der Parteien analysiert, deren Regierungsbeteiligung möglich oder wahrscheinlich ist. Einige Parteien, die in Frage kommen, haben bereits erklärt, dass sie mehr offene Konfrontation für geboten halten. In Peking hofft man darauf, dass im Spannungsverhältnis „Partner-Konkurrent-systemischer Rivale“ eine Form des politischen Umgangs gefunden werden kann, in dem die politischen Instrumente rational eingesetzt werden, sodass win-win-Situationen, wo immer sie bestehen, nicht aus prinzipiellen Gründen ungenutzt bleiben, und letztendlich ein lose-lose entsteht. China erwartet das eher von den größeren Parteien. Um einen früheren Wahlkampfslogan aufzunehmen: „Auf den Kanzler kommt es an!“
Südafrika
Die südafrikanischen Medien sind in diesen Tagen voll von Berichterstattung über Wahlen, allerdings nicht den deutschen. Vielmehr starten in Südafrika die Kampagnen für die richtungsweisenden Kommunalwahlen am 1. November. Die Ergebnisse aus Berlin sind bestenfalls Randnotiz.
Der nahende Abschied von Angela Merkel erzeugte vorab jedoch einiges Interesse. Sie erfährt in Südafrika große Wertschätzung, speziell auch seitens der Regierung. Kein anderes Land in Subsahara-Afrika hat sie in ihrer Amtszeit häufiger besucht. Noch im August war Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa für einen Kurzbesuch in Berlin: offiziell für das Treffen der gemeinsam getragenen G20-Initiative Compact with Africa – aber vor allem wohl auch, um sich noch einmal persönlich von Merkel verabschieden zu können. Doch auch mit Olaf Scholz existiert eine ausgezeichnete Zusammenarbeit. So forderten Finanzminister Scholz und sein damaliger südafrikanischer Counterpart Tito Mboweni mit drei weiteren Kollegen in einem gemeinsamen offenen Brief die G20-Staaten zur Einführung einer Mindeststeuer für Unternehmen auf – mit Erfolg.
Die wechselseitigen Besuche und gemeinsamen Initiativen sind Ausdruck solider bilateraler Beziehungen, die vor allem auch auf wirtschaftlichen Interessen beruhen. Beide Länder sind füreinander die wichtigsten Handelspartner auf ihren Kontinenten. Hinzu kommt eine vertiefte bilaterale Zusammenarbeit, zuletzt auch zugunsten des Aufbaus von Impfstoff-Produktionskapazitäten in Südafrika. Südafrika wird von Deutschland als politischer Stabilisator in der Region sehr geschätzt und ist einer von acht sogenannten globalen Partnern der Bundesrepublik. Man blickt hier wohl auch deshalb so gelassen auf die deutschen Wahlen, weil kaum jemand erwartet, dass sich an diesen Beziehungen unter einer neuen Regierung grundlegend etwas ändert.
In einigen progressiven Zirkeln gibt es zumindest zarte Hoffnungen darauf, dass die beiden gewichtigen Demokratien zukünftig noch stärker gemeinsam an globalen Fragen arbeiten. In der genannten Initiative von Scholz und Mboweni ist dies gelungen, die globale Mindeststeuer ist beschlossen. Mit der Initiative zur zeitweisen Aussetzung des Patentschutzes für Technologien zur Covid-Bekämpfung fand Südafrika in Deutschland hingegen keine Unterstützung. Mehr als zwei Drittel der Südafrikanerinnen glauben dennoch, die Pandemie habe die Welt enger zusammenrücken lassen. In Deutschland sind das nur etwas über die Hälfte. Die Zahlen des jüngsten Global Census der FES New York zeigen auch, dass die Unterstützung für den Multilateralismus und die Vereinten Nationen (VN) in Südafrika wesentlich höher ist als in Deutschland. Das ist eine gute Basis für mehr strategischen Dialog: zur Demokratisierung, zur Stärkung globaler Governance und der VN, zur Reduzierung globaler Ungleichheit und zur Bewältigung der Klimakrise. Dieser Austausch muss auch verstärkt unterhalb der Regierungsebene stattfinden, zwischen Progressiven in Parteien, Parlament und Gewerkschaften.
Doch genauso wie im deutschen Wahlkampf internationale Themen kaum eine Rolle spielten, überwiegt auch in Südafrika derzeit leider die Nabelschau. Viel Energie geht in die von Präsident Ramaphosa forcierte Aufarbeitung der Korruption und der state capture, die in der Amtszeit von Präsident Jacob Zuma zwischen 2009 und 2018 eskalierte. Verbunden ist diese mit einem erbitterten Machtkampf innerhalb des African National Congress (ANC). Dieser steckt zudem in finanziellen Schwierigkeiten und liegt angesichts ausgebliebener Lohnzahlungen im Clinch mit seinen hauptamtlichen Mitarbeiterinnen. Während der ANC mit sich selbst beschäftigt ist, vertieft sich die soziale Krise im Land. Die Arbeitslosigkeit stieg auf 35 Prozent. Gerade in den ärmeren Stadtteilen gibt es immer wieder Engpässe in der Versorgung mit Wasser und Strom. Derart angezählt geht der ANC nun in den Kommunalwahlkampf. Erwartet wird ein Ergebnis von landesweit unter 50 Prozent. In noch mehr Gemeinden und Provinzen als jetzt schon wird es wohl Koalitionsregierungen geben müssen. Und es spricht einiges dafür, dass dies irgendwann auch erstmals auf nationaler Ebene nötig werden könnte.
Diese Entwicklung macht die aktuelle deutsche Regierungsfindung für Südafrika dann doch wieder relevant. Denn es interessiert durchaus, wie in Berlin jetzt aus dem Wahlergebnis Mehrheiten gebildet werden und wie Koalitionsverhandlungen und -verträge gelingen. Und so wird die hiesige Aufmerksamkeit vermutlich steigen, sobald in Berlin tatsächlich eine neue Regierung steht. Wie diese aussehen wird, so das leicht enttäuscht vorgetragene Fazit in den Morgennachrichten des Radiosenders 702 am 27. September, sei ja nun leider noch „ziemlich unklar“.
Russland
In der Regel sind Wahlen in Europa kein Thema, welches große Aufmerksamkeit in den russischen Medien erhält. Dass in den letzten Wochen dennoch verhältnismäßig viel über Angela Merkel und ihre 16-jährige Amtszeit gesprochen wurde, zeigt die besondere Bedeutung der Deutschen für die russische Politik. Die deutsche Kanzlerin genießt aufgrund ihrer langen Regentschaft und gradlinigen Art einen gewissen Respekt in Russland. Und so schwang auch in der ein oder anderen Analyse etwas Sorge mit, wie sich Deutschland in Zukunft zu Russland stellen wird, welche Rolle das Land noch einnehmen wird in den internationalen Beziehungen.
Von keiner Konstellation erwartet man sich eine deutliche Verbesserung der Beziehungen.
Allerdings kommen die Wahlen auch zu einer Zeit, in der auf Regierungsebene bereits deutliche Ernüchterung über die deutsch-russischen Beziehungen eingetreten ist. Der Wendepunkt war hier die klare Positionierung Angela Merkels im Fall Nawalny. Diese – aus russischer Sicht – deutliche Einmischung in die inneren Angelegenheiten Russlands wurde als Tabubruch aufgefasst. Die deutliche Abkühlung ist auch in symbolischen Akten sichtbar wie dem ausführlichen Treffen des russischen Außenministers mit Vertretern der AfD-Fraktion. Aus Sicht des Kremls war dies eine willkommene Gelegenheit zur Retourkutsche. Es sprach kein wirkliches Interesse an der deutschen Rechtspartei daraus. Auch beim letzten Besuch der Kanzlerin, beim dem ihr mit Glanz und Gloria Respekt gezollt wurde, machte man in der Pressekonferenz zugleich sehr deutlich, dass man die Kritik der Kanzlerin an der Menschenrechtslage im Land nicht mehr ernst nehme. Ausgehend von dieser sehr ernüchterten Einschätzung der deutschen Politik sind die Erwartungen an die neue Bundesregierung nicht sonderlich hoch. Von keiner Konstellation erwartet man sich eine deutliche Verbesserung der Beziehungen. Man ist davon überzeugt, dass eine anti-russische Stimmung in Europa dominiert, dass man weiter versuchen wird, Russland einzuhegen, und dass Deutschland sich gegen diesen Trend weder stemmen kann noch will.
Ein Standing wie das der Kanzlerin muss man sich aus Sicht des Kremls erst erarbeiten.
Die Gefahr einer deutlichen Verschlechterung sieht man nur bei einer starken Rolle der Grünen in der Bundesregierung. Im Vorfeld der Wahlen wurden die Grünen insbesondere in konservativeren Kreisen zu einem Schreckgespenst der deutsch-russischen Beziehungen hochstilisiert. Dieses Bild basiert zum Teil auf ihrer scharfen Kritik an der Menschenrechtslage, ihrer deutlichen Position zu LGBTQI+ und ihrer klaren Ablehnung von Nord Stream 2. Gerade die Frage der Energiebeziehungen trifft in breiten Kreisen der Regierung einen Nerv. Auch die Aussage von Robert Habeck zu Waffenlieferungen anlässlich seines Besuchs in der Ukraine wurde kritisch aufgenommen.
Und dennoch wird in Russland in der Außenpolitik vor allem pragmatisch gedacht. Auch mit einer potentiellen grünen Außenministerin wird man sich arrangieren. Der jetzt anstehenden Regierungsbildung blickt man daher entspannt entgegen. Die neue Regierung wird man testen. Ein Standing wie das der Kanzlerin muss man sich aus Sicht des Kremls erst erarbeiten.