Der Begriff „Globaler Süden“ löst viele Vorstellungen und ebenso viele Reaktionen aus. Für die einen steht er für ein im Werden begriffenes Projekt, das von den armen und ehemals kolonialisierten Nationen initiiert wurde und sich auf die Forderung nach globaler Gerechtigkeit, Solidarität und Gleichheit gründet. Andere sehen wegen der großen Diversität und divergierenden Interessen in der „sich entwickelnden Welt“ das Potenzial zum kollektiven Handeln eher kritisch. Für wieder andere ist der „Globale Süden“ ein problematisches staatszentriertes Konstrukt, das die transnationale Solidarität ethnischer Minderheiten weltweit – auch in den Wohlstandsgesellschaften – außer Acht lässt.

Das Konstrukt Globaler Süden ist trotzdem wichtig und hilfreich – nur eben nicht in der Weise, in der Kritiker und Anhänger den Globalen Süden sehen. Wer nach einem umfassenden Solidaritätsprojekt oder einer einzelnen Führungsfigur Ausschau hält, geht den falschen Fragen nach. Der heutige Globale Süden lässt sich am besten nicht als geordnetes Kollektiv beschreiben, sondern als Analyserahmen, der vor allem auf geopolitischen Überlegungen basiert.

Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass auch andere Sichtweisen wichtige Wahrheiten zutage fördern. Der lange Schatten des Kolonialismus ist die Ursache für viele aktuelle Bruchlinien und Konflikte. Die meisten „Entwicklungsländer“, die ohnehin schon mit den Missständen der neoliberalen Ära und den Nachwirkungen von Covid zu kämpfen haben, leiden unter wirtschaftlicher Marginalisierung und Verschuldung. Auch die großen Unterschiede zwischen diesen Staaten dürfen in keiner Analyse unberücksichtigt bleiben.

Weitaus relevanter und sinnvoller ist es allerdings, den Globalen Süden als „geopolitisches Faktum“ zu begreifen. Geopolitisch betrachtet, liegen zahlreiche Staaten in Lateinamerika, Afrika, Südasien, Südostasien und im Pazifik außerhalb des Kernbereichs der Großmachtordnung, der die drei Großmächte – USA, China und Russland – und ihre wichtigsten Verbündeten angehören. Die Staaten im Zentrum dieses Großmachtgefüges – insbesondere diejenigen mit nuklearem Schutzschirm – genießen ein hohes Maß an Sicherheit, Status und wirtschaftlichen Möglichkeiten. Der Globale Süden hingegen muss sich in einem internationalen System behaupten, in dem er keine beherrschende Rolle spielt und dessen Regeln er in den meisten Fällen nicht selbst aufgestellt hat.

Wenn wir den Globalen Süden als „geopolitisches Faktum“ begreifen, können wir besser verstehen, was diese Staaten wollen. Natürlich hat jeder Staat spezifische Bedürfnisse, die auf seine heimischen Gegebenheiten zugeschnitten sind. Dennoch lassen sich zwei übergeordnete Interessen ausmachen.

Die Staaten des Globalen Südens wollen im internationalen Gefüge nach oben kommen.

Erstens gibt es den dringlichen Wunsch, mit dem Zentrum gleichzuziehen. Die Staaten des Globalen Südens wollen im internationalen Gefüge nach oben kommen, wobei es nicht nur um wirtschaftlichen Aufstieg geht, sondern auch um Statusaufwertung. So wünschen sich die Staaten mit mittlerem Einkommen, die besser als andere dastehen, entschieden mehr Mitbestimmung. Sie wollen zum Beispiel die Regeln der sich verändernden Weltordnung mitgestalten, sich gegen Wirtschaftssanktionen absichern und ihre Souveränität wahren. Gerade Letzteres ist umso wichtiger, als in vielen postkolonialen Staaten das Projekt der Nationen- und Staatsbildung nicht abgeschlossen ist.

Zweitens beteiligen sich nahezu alle Staaten des Globalen Südens grundsätzlich nicht am „Wettbewerb der Großmächte“. Sie haben kaum eine Rolle dabei gespielt, diesen zu entfachen. Die meisten wollen in diesen Wettbewerb auch nicht hineingezogen werden und sind entschlossen, sich weder für die eine noch für die andere Seite zu entscheiden. Das schließt zwar nicht die Möglichkeit strategischer Bündnisse aus, aber diese bleiben in der Regel auf einen bestimmten Umfang begrenzt, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie in formelle Allianzen münden, ist gering. Die gängigste Strategie in unserem Zeitalter der abnehmenden Unipolarität ist Absicherung.

Bedeutet dieses realistischere Verständnis des Globalen Südens, das auf die nationalen Interessen abhebt, dass idealistische Visionen sich erledigt haben? Nicht ganz. Die Zeit der kollektiven Großanstrengungen zur Schaffung einer neuen Welt des Friedens und der Gleichheit ist womöglich vorbei. Koordinierungsbemühungen in kleinerem Maßstab, die auf praktische Ergebnisse abzielen, gibt es jedoch weiterhin.

Ein Beispiel ist das BRICS-Bündnis (Akronym aus den Initialen der ersten fünf Mitgliedstaaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika). Auch wenn die BRICS-Gruppe oft als Zusammenschluss des Globalen Südens bezeichnet wird, handelt es sich in Wirklichkeit um eine Koalition aus dem Globalen Süden sowie aus China und Russland, die ich den „Globalen Osten“ nenne. Beide Gruppierungen innerhalb des BRICS-Verbunds verfolgen ihre je eigenen Interessen. Dass der Globale Süden im BRICS-Bündnis einen Nutzen für sich sieht, hat mit dem multiplen Versagen der US-geführten Weltordnung zu tun. Weitere Beispiele sind das gemeinsame Vorgehen der G77 beim Klimaschutz im Rahmen der Weltklimakonferenzen und die breite Beteiligung des Globalen Südens an internationalen rechtlichen Schritten mit Blick auf Gaza. In einer von nationalen Interessen bestimmten Welt wird es immer Raum für gemeinsame Bemühungen geben, auch wenn dieser Raum begrenzt ist.

Die meisten Staaten des Globalen Südens sind nicht daran interessiert, die bestehende Ordnung grundsätzlich zu kippen. Auch sehen sie Washington nicht als ihren Gegenspieler. Lieber kämen sie mit den Vereinigten Staaten weiterhin bestens aus – allerdings in einer Welt ohne amerikanische Vorherrschaft. Ihre zunehmende Entfremdung von der US-geführten Ordnung erklärt sich aus den systemischen Zwängen, die sie an ihrem Aufstieg hindern, sowie aus den politischen Verfehlungen und der Doppelmoral Washingtons.

Ein konkretes Beispiel für diese Zwänge ist das internationale Sanktionsregime. Dieses Regime hat sich dermaßen ausgeweitet, dass gegenwärtig mehr als ein Viertel der Länder und fast ein Drittel der Weltwirtschaft von Sanktionen betroffen sind.

Sich vom Dollar zu lösen, ist leichter gesagt als getan.

Das größte Problem sind hierbei die Sekundärsanktionen – für Washington inzwischen bevorzugtes Instrument im „Wettbewerb der Großmächte“. Die Vereinigten Staaten behaupten zwar immer wieder, diese Sanktionen – die von den meisten Völkerrechtlern als illegal eingestuft werden – seien nicht gegen den Globalen Süden gerichtet, doch die betroffenen Staaten sehen das anders. Das Regime der Sekundärsanktionen basiert seinerseits auf der globalen Hegemonie des US-Dollars. Das macht die Entdollarisierung zu einem wichtigen gemeinsamen Interesse der meisten Länder des Globalen Südens.

Sich vom Dollar zu lösen, ist jedoch leichter gesagt als getan. Das BRICS-Bündnis hat die Entdollarisierung ins Zentrum seiner Rhetorik gerückt. Wenn es dabei Fortschritte geben soll, müssten die Zentralbanken der Mitgliedstaaten ein gewisses Maß an Souveränität aufgeben – ein schwieriges Unterfangen. Da China die weitaus größte Handelsmacht in der BRICS-Gruppe ist, befürchtet Indien, Peking könnte in einer von den BRICS initiierten alternativen Währungsordnung die Vorherrschaft übernehmen.

Auch außerhalb der BRICS-Staaten laufen Bemühungen um die Entdollarisierung, allerdings mit durchwachsenem Erfolg. Der Push-Faktor der einschneidenden westlichen Sanktionen gegen Russland nach der rechtswidrigen Invasion in der Ukraine hat zu einer massiven Annäherung Moskaus an Peking geführt. Dies wiederum hatte zur Folge, dass der Yuan den US-Dollar als Leitwährung im bilateralen Handel abgelöst hat. Die indischen Exporte nach Russland boomen, weil der bilaterale Handel zunehmend in Rupien abgewickelt wird.

Südostasien und die ASEAN-Staaten drängen ebenfalls darauf, bei regionalen Transaktionen lokale Währungen zu stärken. 2023 unterzeichneten fünf ASEAN-Länder, darunter Indonesien und Singapur, ein Abkommen zur Einführung eines regionalen grenzüberschreitenden Zahlungssystems, bei dem die Verbraucher Zahlungen künftig mit einem QR-Code vornehmen und so den Devisenmarkt umgehen können. Auch mit China, Indien, Japan und Südkorea hat Indonesien Übereinkünfte für den Handel in Landeswährungen erzielt.

Doch nehmen die Großmächte die Forderungen und Strategien des Globalen Südens überhaupt ernst? Leider nur bedingt. Peking, Moskau und Washington betrachten den „Rest“ der Welt im Wettbewerb der Supermächtigen tendenziell vor allem als Kampfarenen oder als bloße Opfer. Der Globale Süden dagegen stellt Ansprüche und will vor allem etwas erreichen. Er sucht keine Retter und will auch nicht als Retter auftreten. Er will einfach, dass diejenigen, die seinen Aufstieg blockieren, ihm aus dem Weg gehen.

Hinzu kommt, dass die Weltmächte sich dagegen sträuben, die internationale Ordnung so zu reformieren, dass sie der wachsenden Autonomie und Macht des Globalen Südens stärker Rechnung trägt. Das größte Hindernis für die dringend benötigte Reform des UN-Sicherheitsrats dürfte Peking sein. Die Stimmrechtsanteile im Internationalen Währungsfonds (IWF) und in der Weltbank sind nach wie vor deutlich zugunsten der wohlhabenden westlichen Staaten verschoben. Bei der internationalen Klimafinanzierung lässt es Washington im Wesentlichen bei Lippenbekenntnissen bewenden. Zudem scheint man in Washington, Moskau und Peking nicht gewillt, aus dem stetigen Marsch in Richtung eines militarisierten Großmachtwettlaufs auszusteigen. Die Großmächte sind unfähig, die neuen Realitäten der großen Mitte zu erkennen – und das liegt vor allem daran, dass ihnen der Globale Süden ein Rätsel bleibt und dass sie so konditioniert sind, dass sie dieses Rätsel nicht verstehen können.

Aus dem Englischen von Christine Hardung