Die chinesisch-europäischen Beziehungen sind derzeit in aller Munde. Ein heißes Thema ist, dass Europa, um die eigene Sicherheit nicht zu gefährden, wirtschaftlich nicht von China abhängig sein sollte. „Lege nicht alle Eier in einen Korb“ ist eine allgemeine Weisheit jedes Geschäftsmannes. Dass aber nun plötzlich aus einem Antiviruskampf eine Welle der Anti-Abhängigkeit entstanden ist, gibt Anlass zum Nachdenken.

Ist unsere heutige Welt nicht gerade geprägt davon, dass wir von Land zu Land miteinander verbunden sind und durch das gemeinsame Schicksal aufgrund des Klimawandels voneinander abhängig sind? Tatsache ist, dass wir alle auf demselben Planeten leben, dass dieser Planet nun langsam an die Grenze seiner Tragfähigkeit gelangt und dadurch Naturkatastrophen sowie Epidemien immer häufiger die Menschheit heimsuchen werden.  

Dagegen braucht die Welt gemeinsame Lösungen unter Einschließung aller Länder. All das verlangt eine enge Zusammenarbeit und ein globales Engagement. Die Vorstellung, dass beispielsweise mit einem Exportstopp von Masken andere Länder abhängig gemacht werden könnten und die momentane Krise für den Ausbau geopolitischer Interessen oder zur Ablenkung vom eigenen verfehlten Krisenmanagement ausgenutzt werden kann, ist weder politisch verantwortlich noch wirtschaftlich vernünftig oder aus humanitärer Sicht vertretbar.

Erstens ist wirtschaftliche Abhängigkeit keine Eigenheit Europas. Alle Länder in der globalisierten Welt sind davon betroffen, auch China und die USA. Der Versuch mancher Politiker, die Abhängigkeit der westlichen Länder als eine von China ausgehende Gefahr zu konstruieren und diese Schuld China zuzuschreiben, zeigt jedoch nichts anderes als Ignoranz gegenüber der historischen Realität.

Schon im 18. Jahrhundert forderte Immanuel Kant die Menschen auf, sich aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien und den eigenen Verstand zu entfalten. Vernunft heißt es besonders in der Krise zu bewahren. Für Europa gilt, dass eine wirtschaftliche Abhängigkeit niemals aufgezwungen, sondern eine selbst verursachte Entwicklung ist. Tatsächlich entwickeln sich alle Länder hin zu mehr globaler Abhängigkeit – ein Prozess, der sich ursprünglich von Europa aus, dank der Industrialisierung, in die ganze Welt verbreitet hat.

Je stärker ein Land in der Weltwirtschaft mitwirkt und davon profitiert, desto fester ist es an globale Produktions- bzw. Handelsketten gebunden und daher auch abhängiger von der Welt als „Netzwerk“.

Zweitens sollte man nicht Arbeitsteilung und Abhängigkeit miteinander verwechseln. Blickt man auf die Menschheitsgeschichte, findet Warenhandel zwischen verschiedenen Orten schon seit geraumer Zeit statt. Dieser wird nun immer mehr von interregionaler Produktionsteilung begleitet, die durch die Industrialisierung massiv institutionalisiert worden ist. Dies wurde mit Hilfe von Adam Smith als kanonische Grundlage der Narrative für wirtschaftliche Modernisierung zum allgemeinen Grundwissen gemacht. Die Freiheit der Menschen geht mit der Handelsfreiheit Hand in Hand.

Zu diesem Grundwissen gehört auch, dass die interregionale und internationale Arbeitsteilung eine Interdependenz bedeutet; beide Erscheinungen sind voneinander so untrennbar wie das Wasser von Wasserstoff und Sauerstoff. Man kann nicht das eine haben und das andere ausschließen. Klar ist auch: Je stärker ein Land in der Weltwirtschaft mitwirkt und davon profitiert, desto fester ist es an globale Produktions- bzw. Handelsketten gebunden und daher auch abhängiger von der Welt als „Netzwerk“.

Drittens teilt die globale Arbeitsteilung die Welt in der Tat in die eine „aktive“ Welt als Initiator, Erfinder, Investor, High-End-Produzent und Hauptprofiteur der Globalisierung, die andere „reaktive“, „passive“ Welt als Rohstofflieferant, Absatzmarkt, Low-End-Produzent und oft als Hauptverlierer der Globalisierung ein. China gehört zu den Ländern, die sich in den letzten Jahrzehnten im Rahmen bestehender Ordnungen von einem passiven Teilnehmer der Weltarbeitsteilung allmählich zum aktiven Mitgestalter entwickelt haben.  

Indem die Industriestaaten von der chinesischen „Werkstatt der Welt“ profitieren, kommt auch ihnen die gegenseitige Abhängigkeit zugute. China verdankt sein Wachstum der Wechselbeziehung mit der Welt. Gleichzeitig kann das globale Wirtschaftswachstum in den letzten Jahren zu 30 Prozent auf China zurückgeführt werden. Diese gemeinsam von allen Beteiligten gewollte und gutgeheißene Abhängigkeit schafft Reichtum und Wohlstand, im Großen und Ganzen zum Wohl aller – bis die Coronavirus-Krise kam.

Es wird seither viel Alarm geschlagen, dass beispielsweise Europa in der Bekämpfung des Coronavirus von chinesischen Schutzmaterialien gefährlich abhängig sei, was strategisch geändert werden müsste. Strategische Produktion <link regionen europa artikel detail kommando-zurueck-4258>zurück nach Europa, also „nach Hause“, zu holen, ist zweifellos weise und auch möglich. Aber dies lässt sich langfristig schwer durchsetzen, wenn es Sektoren betrifft, in denen die Rohstoffe von anderen Kontinenten kommen. Personalkosten, Produktionskosten und Marktentwicklungen sowie andere Faktoren werden nach wie vor eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen.

Will man sich in Hinsicht auf Arbeitsteilung wirklich ins vorindustrialisierte Zeitalter zurückversetzen?

Das einzelne Land kann sich nicht wirklich von anderen Ländern unabhängig machen. Altbundespräsident Roman Herzog wies bereits in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts auf die interdependente Globalität der Welt hin. Will man sich in Hinsicht auf Arbeitsteilung wirklich ins vorindustrialisierte Zeitalter zurückversetzen? Kann man das überhaupt? Was wichtig ist, gerade in Krisenzeiten, ist bessere Kommunikation und Koordination zwischen Ländern, losgelöst von allen Vorurteilen, Missverständnissen und Schuldzuweisungen. Vor allem das Wir-handeln-gemeinsam-Gefühl ist ausschlaggebend für die Bekämpfung des Virus – des gemeinsamen Feindes der Menschheit.

Nicht China ist das Problem, sondern die Pandemie, die alle Länder der Welt betrifft und nur gemeinsam von allen Ländern bekämpft werden kann. Ein Gespenst an die Wand zu malen, gleicht dahingegen einer Selbsttäuschung und dient oft auch einer politischen Ablenkung vom eigenen Missmanagement wie im Fall des US-Präsidenten Donald Trump. Logisch wäre es einzusehen, dass die Corona-Pandemie die Welt so massiv betroffen hat, dass kein Land vorgewarnt und ausreichend vorbereitet sein konnte.

Der deutsche Virologe Christian Drosten stellte schon früh fest, dass man viel improvisieren müsse, um das Virus einzudämmen, da noch zu wenig Wissen vorliege. Es ist deswegen nicht vermeidbar, dass es in der Begegnung mit der Jahrhundertkrise des Coronavirus hier und da etwas chaotisch zugeht. Es ist ein für alle Länder nie dagewesener Lernprozess, der Transparenz verlangt. Deswegen ist es in der Politik keine Schande zuzugeben, Fehler gemacht zu haben. „Fehler sind menschlich“ lautet eine gängige deutsche Weisheit. Die Coronavirus-Pandemie ist ein Lernprozess, an dem wir alle beteiligt sind.

In der Krise sollte man auch positiv und anders denken können, vor allem in der Politik: Wäre es nicht doch ein Glück, wenn Materialien aus dem Ausland geliefert werden könnten? Könnte so eine Abhängigkeit nicht eine Rettung sein, ganz gleich aus welchem Land sie käme? Auch China war vor allem zu Beginn stark abhängig von Materialien aus dem Ausland. Viele Länder haben geholfen. Man ist dankbar.

Auch in China hört man nationalistische Stimmen, aber nicht jede Stimme aus China ist eine Stimme Chinas.

Viertens ist die Coronavirus-Pandemie eine akute Gefahr für alle Länder. Gemeinsame Kraftanstrengungen sind das Gebot der Stunde, um  das Virus einzudämmen und das soziale sowie wirtschaftliche Leben wieder zu beleben. Es geht um Leben und Tod für die Menschheit. Die Länder mit mehr Ressourcen und Erfahrungen tragen besondere Verantwortung, gemeinsam gegen das Virus vorzugehen und den struktur- und ressourcenschwachen Ländern bei der Virusbekämpfung und Wirtschaftsstabilisierung zu helfen.

Hier sind China und Europa besonders verpflichtet, natürlich auch die USA, die leider ihre internationale Verantwortung im Kampf gegen die Pandemie bis dato nicht wahrnehmen wollen. Die Welt braucht jetzt mehr Solidarität. Stattdessen aber aus der Krise einen destruktiven Systemwettbewerb oder ein Schwarzer-Peter-Spiel zu machen, ist verantwortungslos, auch wenn es laut dem politischen Realismus logisch klingt.

In dem Moment, wo tausende Menschen wegen des Virus sterben, noch von eigener Systemüberlegenheit zu sprechen, ist zynisch. Vor der globalen Gefahr durch das Virus sollten sich der überzogene Nationalstolz und die Systemarroganz schämen. Auch in China hört man nationalistische Stimmen, aber nicht jede Stimme aus China ist eine Stimme Chinas. Ich sehe viele Bürger in meiner Stadt Shanghai Schlange stehen, um Pakete mit Masken an Adressen im Ausland zu schicken. Viele Bürger und Unternehmen hier organisieren Spenden für andere vom Coronavirus schwer betroffene Länder, einschließlich europäischer Länder. Der seit Jahrzehnten angesammelte Wohlstand hat die Menschen hier in die Lage versetzt, internationale Solidarität durch Spenden zum Ausdruck zu bringen. Nie waren Chinesen individuell so global engagiert.

Die Behauptung, dass China die sogenannte „<link regionen global artikel detail maskendiplomatie-4277>Maskendiplomatie“ ausnutze, um politische Interessen auszubauen, ist eine unwürdige Unwahrheit, insbesondere gegenüber den engagierten Bürgern in diesem Land. Es ist auch naiv zu glauben, mit Masken internationale Politik betreiben zu können. In Zeiten des Coronavirus gilt als höchstes Ziel der Politik in China und Europa, gemeinsam Menschen vor der Gefahr der Pandemie zu schützen – vor allem in Afrika,  wo eine katastrophale Verbreitung des Virus vorhergesagt wurde – und der Weltwirtschaft wieder auf die Beine zu helfen. Die Krise ist so ernst, dass sie Europa und China zur Zusammenarbeit verdammt.

Hierzu gibt es auch eine Sicht aus Deutschland.