Friedenssicherung und die Durchsetzung universeller Menschenrechte sind zentrale Leitlinien der deutschen Außenpolitik. Im Ampel-Koalitionsvertrag stehen die beiden Ziele gleichrangig nebeneinander, wenngleich das Leitmotiv einer „menschenrechtsorientierten Außenpolitik“ darauf hindeutet, welches der beiden das Hauptanliegen der grünen Außenministerin Annalena Baerbock ist. Beide Ziele sind unverzichtbar: Krieg führt zu den schlimmsten Menschenrechtsverletzungen. Und dort, wo Menschenrechte massiv verletzt werden, ist auch der Frieden gefährdet.

Die aktuellen Debatten um den Ukrainekrieg, um unser Verhältnis zu China, zu Katar oder auch unsere Position zur Protestbewegung im Iran machen aber deutlich, dass zwischen diesen Zielen ein  Spannungsfeld besteht. Eine einseitige Orientierung an der globalen Durchsetzung von Menschenrechten fordert tendenziell eine Einschränkung des Prinzips der nationalstaatlichen Souveränität oder eine Unterordnung geostrategischer Interessen – und erhöht dadurch das Kriegsrisiko. Eine einseitig friedenspolitische Ausrichtung, die sich zwecks Konfliktvermeidung strikt an das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten hält, dient tendenziell der Erhaltung des jeweiligen Status quo und lässt dabei soziale Bewegungen, die dessen Veränderung anstreben, im Stich.

Den beiden Positionen liegen meist unterschiedliche Betrachtungsperspektiven auf internationale Konflikte zugrunde: Verfechter einer primär friedensorientierten Außenpolitik argumentieren gerne aus einer geopolitischen Perspektive. Sie stellen die Konfliktfelder in den Kontext eines Ringens um globale Vorherrschaft (USA gegen China) und um die Wahrung geostrategischer Interessen (NATO-Osterweiterung, Neue Seidenstraße). Demgegenüber nehmen Verfechterinnen einer primär menschenrechtsorientierten Außenpolitik einen bürgerrechtlichen Blickwinkel ein, dem es um das Ringen der Menschen um mehr Freiheit sowie gegen Diskriminierung und Unterdrückung geht. Für die einen stehen globale Friedensordnungen und Sicherheitsarchitekturen zwischen Nationen im Fokus der Betrachtung. Den anderen liegt die internationale Solidarität mit sozialen Bewegungen am Herzen.

Beide Perspektiven, die friedens- und die bürgerrechtspolitische, waren immer Kernelemente linker Politik. So ist es nicht verwunderlich, dass diese widerstreitenden Sichtweisen zu teilweise erbittert geführten Auseinandersetzungen innerhalb des linksliberalen Milieus (und nicht nur dort) führen. Beide Perspektiven sind relevant: Soziale und Bürgerrechtsbewegungen können kaum von extern unterstützt werden, ohne die Realität geopolitischer Interessenskonflikte zu berücksichtigen. Wir können außenpolitische Konfliktfelder nicht verstehen, ohne den Blick auf gesellschaftliche Dynamiken zu werfen.

Die unheiligen Allianzen zwischen Menschenrechtsverfechterinnen und transatlantischen US-Hegemonialstrategen oder zwischen Friedenspolitikerinnen und Autokraten müssen ersetzt werden durch eine Allianz zwischen Friedens- und Menschenrechtspolitik.

Auch das Drängen von Menschen in Richtung Veränderung – wie auch die Angst anderer Menschen vor Veränderungen – beeinflusst den Lauf der Weltgeschichte (wie 1989) und verursacht oft internationale Konflikte (Syrien, Hongkong). Die Frage, welche Sichtweise relevanter ist, erscheint müßig. Ist doch der Zusammenhang zwischen der Realität geopolitischer Interessen und jener von sozialen Bewegungen offensichtlich. Demokratische oder separatistische Bewegungen begünstigen oder bedrohen hegemoniale Interessen (Ukraine, Uiguren). Andererseits kann Hegemonialpolitik Widerstandsbewegungen provozieren (Hongkong, politischer Islamismus). Beide Perspektiven müssen also zusammengeführt werden.

Geopolitische Logiken als Einflussfaktoren zu berücksichtigen, heißt aber nicht, sich mit hegemonialpolitischen Interessen gemein zu machen. Nicht selten resultieren daraus „unheilige Allianzen“. So gerät eine menschenrechtsorientierte Außenpolitik in Gefahr, sich durch ein Bündnis mit US-amerikanischer Hegemonialpolitik für deren Interessen missbrauchen zu lassen. Sie läuft Gefahr, den Vorwurf der (westlichen) Doppelmoral auf sich zu ziehen, wenn sie ihre humanitären Anliegen in den Dienst eines demokratischen Blocks stellt, der gegenüber einem vermeintlich autokratischen Block hegemoniale Bestrebungen an den Tag legt. Diese Außenpolitik spaltet auch die Linke in westlichen Ländern. Andererseits riskiert eine einseitig friedenspolitische Orientierung, zwecks Konfliktvermeidung Menschenrechtsverletzungen oder gar Angriffskriege zu relativieren. Eine solche Friedenspolitik tendiert dazu, den jeweiligen Status quo zu zementieren.

Im Sinne einer universellen und multilateralen Friedens- und Menschenrechtspolitik gilt es deshalb, die Spannungsfelder zwischen beiden zu überbrücken. Das erfordert auch eine Verknüpfung der geopolitischen und der gesellschaftspolitischen Analyse-Perspektiven. Die unheiligen Allianzen zwischen Menschenrechtsverfechterinnen und transatlantischen US-Hegemonialstrategen oder zwischen Friedenspolitikerinnen und Autokraten müssen ersetzt werden durch eine Allianz zwischen Friedens- und Menschenrechtspolitik.

Die Frage lautet also: Wie kann eine stabile globale Friedens- und Sicherheitsordnung so gestaltet werden, dass der Weg zu einer Durchsetzung universeller Menschenrechte weiter geöffnet und nicht verbaut wird? Oder aus Sicht der Menschenrechtspolitik formuliert: Wie kann die globale Menschenrechtslage verbessert werden, ohne dass durch konfrontative Politik weder der Weg zu einer universellen Friedensordnung verbaut wird noch durch perspektivlose Interventionen die Menschenrechtslage verschlimmbessert wird, wie in Afghanistan, Irak oder Libyen? Konkrete Strategien zur Bewältigung der diffizilen Gratwanderung zwischen Friedens- und Menschenrechtspolitik bedürfen der Erörterung komplexer, nur kontextspezifisch zu beantwortender, Aspekte. Die Skizzierung genereller Leitlinien zur Verknüpfung beider Ziele soll helfen, die Debatte zwischen den Lagern zu stimulieren.

Die oberste Leitlinie sollte lauten:Friedenssicherung hat Vorrang.

Die oberste Leitlinie sollte lauten:  Friedenssicherung hat Vorrang. Weil (Bürger-)Kriege stets zu dramatischen Verschlechterungen der Menschenrechtslage führen (Ausnahme: Völkermord, der mittels bewaffneter Intervention verhindert oder gestoppt werden muss). Solch eine Friedenssicherung setzt das Prinzip einer friedlichen Koexistenz konkurrierender Systeme voraus. Dieses erfordert ausgehandelte und vertraglich abgesicherte Friedensordnungen zwischen rivalisierenden Mächten. Eine solche Friedensordnung allein unter Demokratien ist sinnlos. Sie muss universell sein. Sie muss aber auch ergänzt werden  durch glaubwürdige militärische Abschreckung.

Da Beziehungen zwischen rivalisierenden Mächten in der Regel durch Misstrauen gekennzeichnet sind, aber auch weil durch wechselnde Machtverhältnisse Vertragstreue nicht immer gewährleistet ist (siehe Trump und das Iran-Atomabkommen), muss die Einhaltung von Friedensverträgen militärisch abgesichert werden. Friedenspolitik darf nicht naiv bezüglich der Absichten des potenziellen Gegners sein (Putin). Regeleinhaltung benötigt stets Kontrolle mitsamt Sanktionsandrohungen. Mit Verteidigungsbereitschaft müssen zwecks der Verhinderung eines Rüstungswettlaufs  Abrüstungsabkommen einhergehen. Nur eine vertraglich abgesicherte, beidseitige Deeskalation kann dazu dienen, Abschreckung schrittweise durch begründetes Vertrauen zu ersetzen. Dadurch wird eine Annäherung an die pazifistische Vision einer auf Vertrauen gründenden Friedensordnung ermöglicht.

Menschenrechtspolitik setzt solch eine Friedenspolitik voraus. Sie benötigt – neben Sanktionen – funktionierende Kommunikationskanäle für Menschenrechtsdialoge. Die Alternative wäre Regime Change durch militärische Unterstützung von revolutionären Protest- oder Separationsbewegungen, also Bürgerkrieg oder internationaler Krieg oder die Hoffnung auf Implosion des rivalisierenden Systems durch ökonomische Isolierung. Ob diese jedoch zu einer Verbesserung der Menschenrechtslage führen, erscheint sehr fragwürdig, zumindest dort, wo es keine Perspektive auf demokratischen Machtwechsel auf Grundlage einschlägiger demokratischer Tradition gibt (Ägypten, Libyen, Irak, Iran?).

Menschenrechtsdialoge sollten verankerter Bestandteil einer vereinbarten Friedensordnung werden.  Ziel sollte die Annäherung an den Geist der UN-Menschenrechtsabkommen sein. Wichtig ist dabei die Berücksichtigung aller UN-Menschenrechte. Dazu gehören das Recht auf Nahrung, auf Trinkwasser, auf Gesundheit und auf Bildung – nicht nur die im Westen priorisierten Freiheits- und Minderheiten- beziehungsweise Anti-Diskriminierungsrechte. Diese Rechte erfordern nicht nur globale Vereinbarungen, sie tragen auch den Problemlagen im Globalen Süden besser Rechnung (Beseitigung von Hunger). Auch werfen sie ein Licht auf die Mitverantwortung der westlichen Industrieländer für die Verletzung materieller Menschenrechte in armen Ländern durch ihre Außenwirtschafts- und Umweltpolitik.

Menschenrechtsdialoge sollten verankerter Bestandteil einer vereinbarten Friedensordnung werden.

Menschenrechtspolitik wird dadurch zu einer globalen Gemeinschaftsaufgabe und nicht zu einem einseitigen Blame Game zwischen „guten Anklägern“ und „bösen Schurken“. Das erhöht auch ihre universelle Akzeptanz. Wichtig hierfür ist auch ein historisches und prozesshaftes Verständnis von universellen Menschenrechten: Diese können teilweise im Widerspruch zu realen lokalen Gegebenheiten stehen. So ist Kinderarbeit in postindustriellen städtischen Wohlstandsgesellschaften anders zu bewerten als in selbstversorgungsorientierten kleinbäuerlichen, armen Gesellschaften. Gleichberechtigung der Geschlechter in arbeitsteiligen Lohnerwerbsgesellschaften unterscheidet sich von jener in bäuerlichen Familien. Demokratische Mitwirkung mag kulturspezifisch sehr unterschiedliche Formen annehmen.

Ja, global verbindliche Mindeststandards (wie das Verbot der Sklavenhaltung und der weiblichen Genitalverstümmelung) sind rechtsverbindlich zu vereinbaren. Darüber hinausgehende Regeln sollten aber den jeweiligen lokalen Realitäten Rechnung tragen. Spätmoderne Wertvorstellungen in materiell saturierten Wohlstandsgesellschaften zum global verbindlichen Maßstab zu nehmen, ist nicht realistisch und mündet in Konfrontation. Nötig ist stattdessen ein kontextspezifischer Pfad zwischen Menschenrechtsuniversalismus und Kulturrelativismus.

Einige weitere Grundsätze können helfen, Menschenrechtspolitik mit den Zielen friedlicher Koexistenz, einer internationalen Kooperation zur Lösung globaler Menschheitsprobleme, aber auch mit legitimen nationalen Eigeninteressen vereinbar zu machen. Hierzu gehört die Ansiedlung der prioritären Verantwortlichkeit bei den zuständigen multilateralen und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Deren Mandat müsste dann aber entsprechend gestärkt werden.

Im Falle der Solidarität mit Protestbewegungen muss klar unterschieden werden: Unbedingt geboten sind Maßnahmen zum Schutz vor unrechtmäßiger Verfolgung sowie zur Durchsetzung von angestrebten Reformen. Nicht unterstützt werden sollten dagegen eventuelle Regimewechselbestrebungen, zumal deren Folgen oft weder durch die demokratischen Bewegungen selbst noch durch externe Unterstützer steuerbar sind (Ägypten, Irak, Syrien, Libyen, Afghanistan). Für die aktuelle Situation im Iran bedeutet das beispielsweise: Alles tun zum Schutz der Protestierenden und ihrer Reformziele. Alles unterlassen, was diese ermutigen könnte, einen Umsturz zu wagen. Der „geglückte“ Regimewechsel von 1979 sollte hier eher als Warnung denn als Ermutigung dienen.

Die genannten Leitlinien können in der hier skizzierten Form nur den Beleg dafür bieten, dass es unverzichtbar ist, Friedens- und Menschenrechtspolitik in ihrem Zusammenhang zu gestalten und dabei geopolitische und gesellschaftspolitische Aspekte gleichermaßen zu berücksichtigen. Sie zeigen zum einen, dass eine dauerhaft stabile Friedensordnung verbunden mit einer wirksamen Menschenrechtspolitik nicht gegen autokratische Mächte zu haben sind, sondern nur mit ihnen. Sie legen zum andern nahe, dass eine Menschenrechtspolitik – die mit friedlicher Koexistenz und mit globaler Kooperation bei der Lösung der großen Menschheitsprobleme vereinbar ist und die die Menschenrechtslage für die Bevölkerung nicht durch Krieg verschlechtern will – darauf verzichten muss, Regimewechsel- oder Separationsbestrebungen unterstützter sozialer Bewegungen zu fördern. Nicht zuletzt verweisen sie darauf, dass es viel im eigenen Verantwortungsbereich der westlichen Demokratien zu tun gibt, um die Menschenrechtslage insgesamt weltweit zu verbessern.